Tatort Bodensee

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11

Zwei Tage nach dem grässlichen Unfall bekam Horst Besuch in seinem Zimmer im Überlinger Kreiskrankenhaus, wo die Ärzte ihn, all seinen Protesten zum Trotz, noch eine Zeit lang zur Beobachtung untergebracht hatten.

Es klopfte leise an der Tür und kurz darauf betrat Michael Protnik den Raum: »Ja, da ist ja unsere Wasserleiche! Frisch gewaschen und gekämmt! Und schon wieder so schöne rote Bäckchen!«

Horst stöhnte leise. »Protnik, bitte! Ich bin nicht so richtig in Stimmung für alberne Scherze!«

Beschwichtigend hob sein Besucher die Hände. »Ist ja schon gut! Ich hab’s ja nur gut gemeint! Wollte dich halt ein bisschen aufmuntern! Aber klar, akzeptiert: Du musst die ganze Geschichte erst mal verdaut haben! Seh ich ein – logisch!« Jovial tätschelte er seinem Freund die Schulter. »Wird schon wieder werden, wart nur mal ab!«

»Wenn ich nur wüsste, was eigentlich überhaupt los war, dann wäre ich ja selber schon ein ganzes Stück weiter!« Nachdenklich stierte Horst auf die Decke seines Krankenbettes, danach blickte er auf. »Sag mal, Sputnik! Hast du denn in der Zwischenzeit irgendwas läuten hören?« Forschend blickte er seinem Freund und ehemaligen Kollegen aus Ulmer Mordkommissionszeiten ins Ge­sicht. Ein kaum wahrnehmbares, ganz leichtes Flackern in dessen Augen verriet die Verlegenheit, in der dieser bei der Beantwortung der Frage kurzzeitig steckte.

Verlegen senkte Protnik den Kopf. »Nö, eigentlich nichts! Die Zeitungen haben halt einen Artikel gebracht über einen tödlichen Unfall beim Wracktauchen da drüben, in der Schweiz. Nichts Großartiges eigentlich.«

Horst wusste, da steckte mehr dahinter. Protnik versuchte, ihn zu schonen. »Und uneigentlich? Was hört man da so? Ich verwette meinen letzten Liter Pressluft, wenn die nicht was von bodenlosem Leichtsinn, Unerfahrenheit und Amateuren in ihr Blatt geschmiert haben!« In diesem Augenblick schoss Horst ein stechender Schmerz durch die Brust. Seine Wette mit dem letzten Liter Luft war aber auch alles andere als geschmackvoll gewesen, denn in genau dieser Situation hatten er und sein verunglückter Freund ja letztendlich gesteckt. Seine Nerven waren anscheinend immer noch …

Doch bevor Horst sich weiter in Selbstmitleid und diffuse Kritik an nicht gelesenen Zeitungsartikeln verstricken konnte, polterte es neuerlich an der Zimmertür. Ohne die Aufforderung einzutreten abzuwarten, flog noch im selben Moment die Tür auf und vier Personen stürmten in das Krankenzimmer. Überrascht wandten Horst und Prot­nik sich um.

Bei den vier Besuchern handelte es sich um den Professor, der Horst und Thomas in der Druckkammer behandelt hatte, sowie einen Polizeibeamten in Uniform und zwei Mitdreißiger, die Horst bisher noch nie gesehen hatte.

»Entschuldigen Sie, dass wir einfach so hereinplatzen«, begann der Professor grußlos die Unterhaltung. Und man merkte es ihm auf den ersten Blick an: Es war ihm völlig schnuppe, ob sich Horst und sein Besucher gestört fühlten oder nicht. Eine unangenehme Spannung schien mit einem Mal den Raum zu beherrschen.

»Also, um gleich zur Sache zu kommen«, damit drehte sich der Arzt mit einer leichten Bewegung des Oberkörpers in Richtung der beiden Männer in Zivil, die gerade die Tür hinter sich geschlossen hatten. »Diese beiden Herren sind Kollegen von Ihnen – und von Ihrem verstorbenen Tauchpartner!«, fügte er stirnrunzelnd hinzu.

Allein die Formulierung »verstorbener Tauchpartner« ließ Horst frösteln. Er konnte noch immer nicht glauben, was ihm da vorgestern widerfahren war. Matt nickte er den beiden zu.

Der größere der Kollegen machte die Andeutung eines Kopfnickens und zog seinen Dienstausweis aus der Jackentasche: »Hauptkommissar Hofer, Polizeidirektion Kon­stanz. Und das hier«, er nickte in Richtung des neben ihm stehenden Mannes, »das ist der Kollege Schlotterbeck vom Landeskriminalamt in Stuttgart.«

Horst murmelte einen schwachen Gruß, während Prot­nik auf die beiden zuging und ihnen die Hand schüttelte. »Freut mich, Kollegen. Und mein Name ist Protnik, Michael Protnik von der Mordkommission Ulm.«

Irritiert blickten sich Hofer und Schlotterbeck an. Der Konstanzer Kommissar ergriff wiederum als Erster die Initiative. »Mordkommission Ulm? Was haben Sie denn mit diesem Fall zu tun?«

Protnik lächelte hilfsbereit. »Überhaupt nichts. Rein gar nichts. Ich bin nur ganz privat hier, weil der Herr Meyer«, damit nickte er in Horsts Richtung, der sich gerade stöhnend in eine senkrechtere Sitzhaltung zu bringen versuchte, »der Herr Meyer und ich sind Kollegen – alte Kollegen schon. Und auch seit Langem gut befreundet«, fügte er noch rasch hinzu.

Der Professor verzog missmutig das Gesicht. »Dann steht also einem kriminalistischen Kaffeekränzchen nichts mehr im Wege! Kommen wir also zur Sache«, mit einer übertrieben deutlichen Bewegung blickte er auf seine Armbanduhr, eine echte Taucheruhr – eine von der teuren Sorte, wie Horst sofort registrierte. So eine, mit der man theoretisch bis auf 200 Meter Tiefe gehen konnte, was man ja bekanntlich nie und nimmer konnte. Eine richtige Angeberuhr also. »Ich habe nämlich noch ein paar Patienten mehr zu betreuen!«

Auch den beiden Kripokollegen schien dieser Ton nicht sonderlich zu schmecken, doch sie sahen sich nur vielsagend an. »Einen Moment noch, Professor!« Wieder war es Hofer, der das Gespräch weiterführte. »Zuerst müssen wir, rein formal nur, aber immerhin, fragen, ob es dem Herrn Meyer recht ist, wenn sein Kollege bei der Vernehmung im Zimmer bleibt. Er ist zwar Polizeibeamter, aber dennoch …« Damit drehte er sich zu dem uniformierten Beamten um: »Ach ja, Löschner, Sie können gerne unten in der Cafeteria auf uns warten.«

Der Uniformierte nickte und verließ augenblicklich das Zimmer.

»Also, Herr Meyer, damit wir weiterkommen. Soll Ihr Bekannter ebenfalls solange rausgehen?« Nervös trommelte der Arzt mit den Fingern der rechten Hand auf seinem linken Unterarm.

»Nein, natürlich nicht. Der Herr Protnik kann bleiben, selbstverständlich. Aber bitte, meine Herren«, und damit richtete er sich noch etwas steiler auf, »wir sind doch unter Polizeibeamten! Aber – nichts für ungut Herr Kollege – was hat ein Kommissar vom LKA aus Stuttgart bei einem Tauchsportunfall am Bodensee zu suchen?«

Der Professor schnaubte heftig. »Tauchsportunfall! Schön wär’s ja! Von wegen Unfall!«

Irritiert stierte Horst den Mann im weißen Kittel an. »Natürlich Unfall, was denn sonst? Glauben Sie etwa, ich habe den Herrn Grundler umgebracht?!« Er zitterte plötzlich vor Erregung, am liebsten hätte er dem unsympathischen Schnösel eins auf die Mütze gegeben … aber dessen Antwort kam postwendend.

»Weiß ich nicht, ob Sie das waren oder irgendjemand anders. Ich weiß auch nicht, warum, ich weiß nur, dass. Also noch mal, um es klipp und klar, und zwar in aller Deutlichkeit auszusprechen: Ihr Kollege Thomas Grundler ist bei dem Tauchgang, den Sie mit ihm zusammen unternommen haben, umgebracht worden!«

Horst fühlte sich, als hätte er in diesem Augenblick einen Messerstich in die Magengegend versetzt bekommen. »Aber … aber wie denn? Da, da war doch gar niemand außer uns beiden. Da war doch nur der Thomas und da war ich, sonst war da keiner!«

»Eben!« Der Professor nickte düster. »Aber um die Frage nach dem Täter aufzuklären, dafür sind ja ihre Kollegen da. Ich für meinen Teil kann nur sagen, womit der Mord verübt worden ist. Meine Theorie ist in dieser Hinsicht eindeutig und die Untersuchung der Taucherflasche Ihres Kollegen wird sie bestätigen. Dennoch: um ganz sicherzugehen, möchte ich jetzt von Ihnen noch einmal eine haargenaue Schilderung, was seit dem Moment passiert ist, als Sie und Ihr Kollege ins Wasser gesprungen sind. Und bitte so detailliert, wie es nur irgend geht!«

Das Zimmer schien sich um Horst zu drehen. Seit Tagen hielt ihn ein Albtraum gefangen, von dem er offenbar nie mehr loskam. Im Gegenteil, mit jeder Minute wurde alles immer noch schlimmer! Hilfe suchend fixierte er Protnik, doch der runzelte lediglich, selbst tief betroffen, die Stirn.

»Also, Herr Meyer! Dann schießen Sie mal los!« Auch Schlotterbeck, der Mann vom LKA, hatte sich nun in das Verhör eingeklinkt und drückte auf die »Record«-Taste seines Diktiergerätes.

12

Eine knappe halbe Stunde später schloss Horst erschöpft die Augen und ließ sich in sein Kissen zurücksinken. Das war ja ein Verhör wie im Agententhriller gewesen! Jede Sekunde ihres Tauchgangs hatte er haarklein schildern müssen und bei jedem noch so kleinen Detail hatten sie eingehakt und nachgefragt.

»So – das war’s von meiner Seite – mehr weiß ich nimmer. Denn noch während ich mit dem Herrn Protnik telefoniert und ihn um Hilfe gebeten habe, bin ich ohnmächtig geworden. Das Nächste, was ich mitbekommen habe, war der Raum vor der Druckkammer hier im Krankenhaus. Und neben mir lag der Herr Grundler auf einer Trage!« Ihm war plötzlich eiskalt, trotz des strahlenden Sonnenscheins, der von draußen durch das Fenster drang, fröstelte er. Seine Nerven würden das alles nicht mehr lange mitmachen!

»Komischer Zufall, dass ausgerechnet in dem Moment das Handy klingelt, wo sie sich ins Boot ziehen«, Schlot­ter­beck zog die Stirn in Falten und musterte Protnik durchdringend.

Dem schoss die Röte ins Gesicht. »Na ja. Ich hatte halt eine Abmachung mit dem Herrn Meyer. Der wollte mich nämlich anrufen und mir sagen, wo und wann wir uns zu einem gemeinsamen Abend mit dem Herrn Grundler treffen wollten. Und weil der Horst«, mit einem verlegenen Gesichtsausdruck wandte er sich vom Krankenbett ab, »na ja, weil der Herr Meyer halt schon mal vergessen hat, mich anzurufen, hab ich gedacht, ich probier’s halt mal selber. So einfach war das – und übrigens«, fügte er noch hinzu. »Ich hab davor schon zweimal durchgeklingelt. Aber da ist niemand rangegangen. Erst beim dritten Mal …« Er brach den Satz an dieser Stelle ab.

 

Schlotterbeck nickte nachdenklich.

Jetzt war es aber langsam an der Zeit nachzuhaken. Horst drehte sich in Richtung des Arztes. »So – und nun bitte erzählen Sie mir aber auch, welche Schluss­fol­ge­rungen Sie gezogen haben! Wieso um alles in der Welt kommen Sie auf Mord?« Gespannt nahm er den Professor ins Visier.

»Ihr Kollege«, begann dieser mit ernster Miene, »ist an einer Sauerstoffvergiftung … nun ja – vielleicht nicht gestorben, aber zumindest hat er unter Wasser eine erlitten.«

Horst beugte sich mit einer heftigen Bewegung nach vorne. »Aber das ist unmöglich. So lange waren wir doch gar nicht im Wasser – und auch unsere Grundzeit war doch höchstens neun Minuten – allerhöchstens. Tiefenrausch vielleicht, aber Sauerstoffvergiftung: unmöglich!« Heftig schüttelte er den Kopf, so als ob er seine gerade getroffene Feststellung mit dieser Geste noch unterstreichen könne.

Der Professor hob indigniert eine Augenbraue. »Erklären Sie mir nicht meinen Beruf! Wenn ich sage Sauerstoffvergiftung, dann meine ich Sauerstoffvergiftung! Ihr Freund mag zwar nicht ursächlich daran gestorben sein, aber der Auslöser für die ganze Katastrophe, die sich vorgestern an der »Jura« abgespielt hat, war ganz eindeutig und ohne Zweifel eine Sauerstoffvergiftung in großer Tiefe!«

Horst schüttelte neuerlich den Kopf. »Ich begreif das trotzdem nicht! Wie soll denn das gehen?«

Der Professor schaute ihn durchdringend an. »Leider ganz einfach – obwohl selbst ich von solch einem Fall auch noch nie gehört habe: Irgendjemand hat an der Pressluftflasche ihres Kollegen herummanipuliert. Ganz konkret: Man hat bei ihrem Freund die Pressluft aus der Flasche abgelassen und dann reinen Sauerstoff, O2, hineingefüllt!«

Horst war sprachlos. »Aber das ist ja unglaublich! Wer soll denn das getan haben?!«, stammelte er.

Der Arzt zuckte die Schultern. »Weiß ich nicht, dafür sind ja wie gesagt Ihre Kollegen da. Ich weiß nur, dass das natürlich eine besonders niederträchtige Form ist, um jemanden in Lebensgefahr zu bringen. Dazu gehört schon eine gewaltige Menge an krimineller Energie! Und außerdem einige chemisch-physikalische Grundkenntnisse, gepaart mit einem gewissen medizinischen Sachverstand.«

»Erzählen Sie bitte«, forderte der Hauptkommissar aus Konstanz den Mediziner auf.

Der blickte verdrießlich ein weiteres Mal auf seine Tau­cher­uhr und runzelte kritisch die Stirn. Dann hob er die Hände vor den Oberkörper und markierte mit ihnen eine Entfernung, die in etwa dem Außenmaß einer 15 Liter Pressluftflasche entsprach. »Also, meine Herren. Folgendermaßen: Wie wir als Taucher ja eigentlich alle wissen, ist reiner Sauerstoff beim Tauchen lebensgefährlich. Sauerstoff ist in unserer normalen Atemluft gerade mal mit einem Anteil von 21 Prozent vertreten. Und wir füllen in die Pressluftflaschen – wie schon der Name sagt – nichts anderes hinein als ganz normale Luft. Diese wird vom Kompressor angesaugt mit über 200-fachem Druck in die Flasche gepresst. Auf dem Druckmesser sehen Sie es ja dann an der Anzeige: 210 bar, 220 bar, 230 bar. Bis dahin alles verstanden?« Forschend sah er sich in dem Zimmer um. Alle Anwesenden nickten.

»Also gut. Dann geht es weiter! Wie gesagt: Sauerstoff als solcher ist zwar wichtig, aber ab einer bestimmten Konzentration eben auch toxisch, giftig also! Seit ungefähr hundert Jahren wissen wir, dass das so ist. Und die Toxizität des Sauerstoffs nimmt umso mehr zu, je höher der Druck ist, der auf die Sauerstoffmoleküle wirkt. Deshalb übrigens hat die Tauchsportmedizin schon vor langer Zeit die ominöse 30-Meter-Tiefenbegrenzung für normale Sport- und Hobbytaucher eingeführt. Wer längere Zeit unter dieser Marke taucht, setzt sich der deutlichen Gefahr einer Sauerstoffvergiftung aus!« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Natürlich kommen ab dieser Tiefe noch andere Risikofaktoren dazu, Stickstoffnarkose, Tiefenrausch also, und so weiter. Aber bleiben wir beim Sauerstoff! Der wird nachgewiesenermaßen ab einem Druck von 1,7 bar toxisch – im kalten Wasser geht’s sogar noch schneller, da rechnet man mit 1,4 bar. Und das bedeutet«, verständnisheischend schau­te er die anderen an, »ersparen Sie mir bitte im Einzelnen das Umrechnungsmodell, das bedeutet, dass Sie mit reinem Sauerstoff in der Flasche auf eine Tiefe von gerade mal sieben Metern gehen dürften! Die 30 Meter für Taucher mit normaler Pressluft kommen eben deshalb zustande, weil dort der Sauerstoffanteil nur 21 Prozent beträgt. Und nun kommen wir zum Kern der Sache!« Es folgte eine winzige Pause, während der jeder Einzelne der Zuhörer von dem Professor mit einem bedeutungsvollen Blick bedacht wurde. »Also: in der Flasche des Verunglückten befand sich zu 100 Prozent reiner Sauerstoff. Das ging gut auf den ersten Metern, das kann gut gehen bei einem Aufenthalt von einigen Minuten in ein paar Metern, das kann auch noch weiter unten unfallfrei abgehen, aber was passiert, wenn sich der Taucher der Zeitbombe nicht bewusst ist, die er auf dem Rücken trägt, und das in diesem Fall tödliche Gas ahnungslos weiter einatmet?«

Horst schnappte unwillkürlich nach Luft. Konzen­triert versuchte er, den komplizierten Ausführungen zu folgen.

Der Arzt fuhr ohne innezuhalten in seinem Vortrag fort. »Bei einer Tiefe von praktisch 40 Metern – und die hatten Sie ja erreicht«, Horst wurde von einem forschenden Blick gestreift und nickte unglücklich, »bei dieser Tiefe herrscht ein Sauerstoff-Partialdruck von 5 bar, zum Vergleich: die Sicherheitsmarge, die ich vorher erwähnt habe, liegt bei 1,4 bar. Das heißt, das Risiko einer Sauerstoff-Intoxikation, also einer Sauerstoffvergiftung, steigt nicht nur drastisch an, es ist – selbst bei einer Grundzeit von grade mal acht oder neun Minuten – praktisch gar nicht mehr zu vermeiden! Die Vergiftungssymptome äußern sich folgendermaßen: Das zentrale Nervensystem wird angegriffen, an den Synapsen, den Verbindungsstellen der Nervenzellen, ereignet sich eine Art Kurzschluss, und dies geschieht wie ein Flächenbrand über den ganzen Körper verstreut! Das beginnt im subjektiven Gefühl eines Tauchers mit einer merkwürdigen Verengung des Gesichtsfeldes, Schwindelgefühl und Übelkeit. Dann steigert es sich rapide über Muskelzuckungen zu heftigen Krampfanfällen und schließlich Bewusstlosigkeit.«

»Furchtbar!«, murmelte Protnik betroffen. Auch den anderen schien die gerade gehörte Schilderung an die Nieren zu gehen.

»Und daran ist er dann gestorben – unfassbar!« Horst kämpfte mit Tränen, die ihm in die Augen stiegen.

»Nein«, widersprach der Professor energisch. »Das würde ich so nicht sagen. Denken Sie an Ihre Schilderung von vorhin. Sie haben uns erzählt, dass ihr Partner das Mundstück aus dem Mund gespuckt hatte – wahrscheinlich ist ihm übel geworden und er hat sich übergeben müssen –, und dann sei er wie eine Rakete hochgeschossen. Er war also offensichtlich doch noch so weit bei Bewusstsein, dass er gemerkt hat: Da stimmt etwas nicht mit mir, ich muss so schnell wie möglich hoch an die Oberfläche. Deshalb hat er auch Luft – das heißt, in diesem Fall war’s ja Sauerstoff – ins Jacket geblasen. Doch mit ziemlicher Sicherheit hat die Muskelverkrampfung derart schnell und heftig zugenommen, dass er die Finger nicht mehr vom Inflatorschlauch wegbekommen hat. Das belegt ja auch die Tatsache, dass er es auch nicht mehr geschafft hat, das Mundstück nach der Übelkeit wieder in den Mund zu stecken. Für einen gesunden und erfahrenen Taucher ist das ja ansonsten überhaupt kein Problem! Also: Durch den Muskelkrampf ist nun in kürzester Zeit eine viel zu hohen Menge Luft ins Jacket geströmt, das wurde dadurch aufgeblasen wie ein Luftballon und Ihr Kollege – Sie haben es ja letztendlich erleben müssen – ist dadurch an die Oberfläche durchgeschossen wie eine Rakete. Was das heißt, das brauche ich Ihnen wohl nicht näher zu erklären, nur so viel: Der Herr Grundler war ohnmächtig, hat also mit Sicherheit beim Durchschießen an die Oberfläche nicht mehr bewusst ausgeatmet. Die Luft in seiner Lunge hat sich dadurch geradezu explosionsartig ausgedehnt und zu einem massiven Lungenriss geführt. Das hat die Obduktion im übrigen auch genau so bestätigt!«

Beim Stichwort Obduktion zuckte Horst schmerzlich zusammen. Doch der Vortrag war immer noch nicht fertig.

»So – und dann kommt im Fall des Durchschießens an die Oberfläche noch ein zweiter gravierender Fakt dazu: Der im Körpergewebe eingelagerte Stickstoff ist auf einen Schlag freigesetzt worden! Gut – Ihr Partner hat zwar durch die manipulierte Füllung reinen Sauerstoff eingeatmet, also wenig Stickstoff in der Lunge haben können, aber dennoch genug im Körper. Dieser Stickstoff löst sich bekanntlich beim Auftauchen wieder. Im Fall eines derartigen raketengleichen Aufstiegs nach oben können Sie mit Fug und Recht davon ausgehen, dass das Blut zu kochen beginnt! Das war ja auch der Grund, weshalb wir Sie nach Ihrem in gewisser Weise verständlich schnellen Aufstieg hier im Krankenhaus sofort vorsichtshalber in die Druckkammer befördert haben. Aber als wir den Patienten Grund­ler in die Klinik bekommen haben, war längst alles zu spät. Die Todesursachen waren vielschichtig: sicherlich die Sauerstoff-Vergiftung, dann der gewaltige Lungenriss, Erbrochenes in der Luftröhre, der Stickstoffaustritt aus den Körperzellen und zu allem Überfluss auch noch die lange Zeit im auf Dauer kalten Wasser sowie ein schwerer Schock! Ja, meine Herren, das war’s von der medizinischen Seite aus«, er schaute wieder auf die Uhr am Handgelenk, »für die kriminalistische Aufklärung sind nun Sie zuständig! Angenehmen Abend noch!« Und damit verließ er die betroffen vor sich hinblickende Runde der vier Polizeibeamten.

13

Minutenlang sagte keiner ein Wort, dann räusperte sich der Kommissar namens Hofer von der Polizeidirektion aus Konstanz verlegen. Horst blickte auf. »Also, Herr Meyer, jetzt wissen Sie, weshalb wir hier sind!«

Horst nickte nachdenklich. »Aber – was ich absolut nicht verstehe: Sauerstoffflaschen sind doch grundsätzlich blau, wie kann denn der Thomas an solch eine Flasche geraten sein?«

Schlotterbeck mischte sich ein und schüttelte energisch den Kopf: »Ist er nicht! Auf gar keinen Fall! Sie haben es doch vorhin gehört, es war ganz eindeutig die Flasche von Herrn Grundler, an der die Pressluft abgelassen und der Sauerstoff hineingefüllt worden ist. Daran gibt es nicht den geringsten Zweifel! Das war eiskalt kalkulierter Mord – und zwar begangen von jemandem, der sich bestens ausgekannt haben muss!«

»Und der auch die Möglichkeit hatte, sich reinen Sauerstoff zu besorgen und noch eine Druckleitung samt Anschlussventil, um den Sauerstoff in die Flasche hinein­zupumpen. Beziehungsweise einen Kompressor, falls er die Flasche von Thomas heimlich mitgenommen, sie umgefüllt und danach wieder zurückgestellt hat«, warf Hofer dazwischen.

Forschend blickte er in Horsts Gesicht. »Herr Meyer: ganz offen! Haben Sie auch nur den Hauch einer Ahnung, wer das getan haben könnte und weshalb?«

Horst schüttelte energisch den Kopf, gab ansonsten aber keinen Ton von sich.

Hofer schob die nächste Frage nach: »Wissen Sie aber wenigstens, wo Thomas Grundler seine Flasche gelagert hatte? Wie viele Personen wussten Ihrer Meinung nach, wo er sie deponiert hatte? Und noch etwas: Hatte er Sie in der vergangenen Nacht überhaupt zu Hause aufbewahrt, oder hat er sie eventuell am Abend vorher zu Ihnen gebracht?«

Überrascht sah Horst auf. Das war ja eine ganz neue Variante! »Wollen Sie damit etwa andeuten, dass der Anschlag vielleicht gar nicht Thomas, sondern mir hätte gelten sollen?« Entschieden schüttelte er den Kopf. »Nein, tut mir leid, das kann nicht sein!«

Hofer wiegte, nachdenklich dreinschauend, den Kopf. »Nein, andeuten will ich in diesem Fall überhaupt nichts. Und dennoch: Irgendjemand muss hier seine Finger im Spiel gehabt haben!« Forschend sah er Horst an – unruhig wanderten seine Augen dabei von links nach rechts und von rechts nach links. »Herr Meyer – Herr Kollege – noch einmal: Was wissen Sie über die Recherchen von Thomas Grundler und über seine dienstlichen Probleme und Schwierigkeiten?«

Aha – daher wehte der Wind! In Horst begannen sämtliche noch vorhandenen Alarmglocken gleichzeitig zu schril­len! Trotz seines angespannten Gesundheitszustandes brach sich der kriminalistische Spürsinn in ihm unaufhaltsam seine Bahn! Vorsicht! Äußerste Vorsicht! Nur ja jetzt nicht irgendeinen Fehler machen und irgendetwas sagen, was du später bitter bereuen wirst! Was war da los? Was wollten sie in Wirklichkeit von ihm wissen? Im kurzen Moment eines Wim­pern­schlags fühlte er sich gefangen in einem dicht gewobenen Spinnennetz von Intrige, Lüge und Betrug! Irgendwas war faul im Staate Dänemark! Hamlet? Ja, genau – Shakespeare, Hamlet! Geradezu irrwitzige Gedanken fegten jetzt in Sekundenbruch­teilen durch sein angespanntes Gehirn.

 

Also: Sie wollten wissen, auf welchem Kenntnisstand er sich befand – und dann? Was war danach? Auf welche Seite gehörten sie? Was wollten Sie eigentlich von ihm?

»Welche Schwierigkeiten?« Horst gab sich genauso leutselig wie ahnungslos. »Ich weiß von nichts!« Und mein Name ist Hase, setzte er im Stillen in Gedanken für sich hinzu.

»Na, kommen Sie, halten Sie uns doch bitte nicht für blöd!«, auch der so jovial wirkende Schlotterbeck vom LKA schien sich an seine Bundeswehreinzelkämpfer­ausbildung zu erinnern. Seine Miene zumindest war mit einem Schlag zu einem einzigen Eisblock gefroren!

Horst spielte weiter den Ahnungslosen (als der er sich im Grund genommen ja auch fühlte!): »Ja, was meinen Sie denn? Dann werden Sie in Gottes Namen doch endlich konkreter, dann kann ich Ihnen auch eine klare Antwort auf eine klare Frage geben!«

Die beiden hatten sich offensichtlich vor dem Besuch im Krankenhaus sorgfältig miteinander abgesprochen. Ein Blick des LKA-Beamten genügte und schon übernahm Hofer wieder die Initiative: »Also ich bitte Sie, Herr Meyer! Sie sind Polizist, wir sind Polizisten! Alle sind wir Polizisten!« Er machte dabei eine ausladende Handbewegung, die selbst noch Protnik mit einbezog, der bisher eingeschüchtert und nachdenklich am Rande des Geschehens auf seinen Einsatz gewartet hatte. »Also«, fuhr der Kom­missars­kollege aus Konstanz fort, »machen wir uns doch bitte nichts vor, Herr Meyer! Sie wissen es und ich weiß es: Thomas Grundler hatte Schwierigkeiten, massive nachbarschaftliche Schwierigkeiten. Sogar ein Disziplinarverfahren haben die Nachbarn gegen ihn in die Wege geleitet! Die ganzen Eheprobleme lassen wir jetzt wohl besser außer Acht! Sagen Sie bloß, das wissen Sie nicht!«

Überrascht blickte Horst auf. Das war es also, wo­rauf die beiden hinauswollten! Entweder dem psychisch gestörten Nachbarn kräftigst an den Karren zu fahren oder – das schien die zweite Möglichkeit zu sein – einen gut geplanten Selbstmord anzutäuschen, dem er, Horst, zufällig als nichtsahnender Zeuge hatte zusehen müssen! Er überlegte fieberhaft, welche Antwort auf diese Frage wohl am unverfänglichsten klingen würde. »Also gut, Kollegen. Das mit dem Ehekrach, das war ja wohl beim besten Willen kein Geheimnis mehr. Und auch die Geschichte mit dem doofen Nachbarn – die kennt ihr ja besser als unsereiner! Ihr – beziehungsweise Sie«, und damit deutete er mit dem Zeigefinger auf Hofer, »Sie wissen ja schließlich viel besser als ich, was da abgegangen ist.«

Hofer schien noch nicht völlig von der Ahnungslosigkeit seines Gegenübers überzeugt. Dennoch wiegte er zustimmend-abschätzend den Kopf. »Gut – einverstanden! Halten wir also fest: Sie wissen demnach nichts über berufliche Schwierigkeiten.« Forschend fixierte er nach dieser Bemerkung sein Gegenüber. »Richtig oder nicht richtig?!«

Horst nickte. »Richtig! Und außerdem …« Doch weiter kam er nicht mit seiner Aussage. Sein auf dem Tischchen neben dem Bett liegendes Handy klingelte unüberhörbar und störte – zumindest für den Augenblick – den weiteren Fortgang des Verhörs. Ein Geschenk des Himmels! Hofer zog ärgerlich die Augenbrauen zusammen und runzelte die Stirn.

Doch bevor irgendjemand eingreifen und das Handy womöglich in Beschlag nehmen konnte, hatte Horst es ergriffen und meldete sich mit klarer, lauter Stimme: »Meyer! Grüß Gott – mit wem habe ich das Vergnügen?!«

Die Stimme kam genauso klar und überdies auch noch ziemlich fröhlich zurück: »Na, mit wem wohl? Mit deiner dich – warum auch immer – ewig liebenden und genauso reizenden Ehefrau Claudia! Wo steckst du Kerl denn eigentlich? Seit einem geschlagenen lieben langen Tag versuche ich schon, dich zu erreichen!«

Der Tadel, der in Claudias Stimme mitschwang, war ganz eindeutig rein rhetorischer Art. Claudia! Tatsächlich ein Geschenk des Himmels! »Hallo, Claudia!« Miss­trauisch glotzten die beiden Vernehmungsbeamten in Richtung Handy, als Horst seine Begrüßung in den Hörer hauchte. »Wie geht es dir, mein Schatz?«, flötete er weiter.

Horst sah, wie die beiden Polizisten die Augen verdrehten. Sei’s drum, sollten die doch grade denken, was Sie wollten.

Claudias ahnungslose Replik kam rasch. »Gut natürlich. Wenn so ein wundervolles freies Wochenende am Bodensee vor mir steht: Das Wetter soll ja toll werden, der See dürfte einigermaßen erträgliche Temperaturen haben – ich freue mich auf jeden Fall schon riesig darauf – genauso wie die Kinder sich auf die Oma freuen! Ich habe gedacht, ich sag dir heute schon, dass ich morgen einen früheren Zug nehmen kann. Ich habe nämlich jetzt doch keinen Mittagsdienst mehr, das heißt, ich könnte die Bahn von Heilbronn nach Stuttgart um 12.45 Uhr nehmen, die müsste ich eigentlich schaffen. Dann wäre ich um 13.30 Uhr ungefähr in Stuttgart und könnte dann um 13.40 Uhr weiterfahren Richtung Singen. Und von dort ist’s ja eh bloß noch ein Klacks! Also, ich such die Verbindungen noch mal ganz genau heraus, aber ich denke, so gegen halb drei könntest du mich am Überlinger Bahnhof abholen – falls du mich noch haben willst!«, fügte sie kokett hinzu. »Aber jetzt sag endlich, wie geht’s dir eigentlich?«

Oje! Wenn Claudia wüsste! Glücklicherweise hatte auch Protnik den Rand gehalten und Claudia gegenüber keinen Ton von der ganzen Malaise verlauten lassen! Andererseits: wie brachte er das alles – einigermaßen eheverträglich – wieder auf die Reihe? Wie sollte er seiner Frau erklären, dass er da zwei Tage im Überlinger Krankenhaus hatte zubringen müssen, weil er beim Tauchen im Bodensee verunglückt war – bei einem Tauchgang, auf dem sein Freund und Partner ums Leben gekommen, ermordet worden war?!

»Ach, mir geht es einfach blendend«, flötete er ins Telefon, was ihm natürlich irritierte Blicke der drei anderen im Krankenzimmer einbrachte. Wahrscheinlich überlegten die jetzt, ob er beim raschen Auftauchen an die Oberfläche nicht doch irgendwie psychisch durchgeknallt war – alle drei, selbst Protnik; das konnte er ihren Gesichtern deutlich ansehen. »Der Tauchgang war so weit ganz okay.« Wieder konsternierte Mienen der anderen! »Aber am besten, ich erzähle dir alles, wenn du dann endlich da bist!«

»Alles klar, so machen wir’s!« Claudia schien – dank der Vorfreude auf das verlängerte Wochenende zu zweit am Bodensee – bester Laune. »Gut, dann holst du mich also um halb drei am Bahnhof in Überlingen ab! Einverstanden?«

Horst nickte am Telefon: »Alles roger – genauso machen wir’s! Also dann bis morgen! Tschüss – und viele Grüße an die Kinder!« Zufrieden lächelnd legte er auf und ließ sich entspannt in das Kissen zurücksinken. Für einen Moment schloss er die Augen. Dann begann er, sich auf den Fortgang des Gespräches zu konzentrieren. Eigentlich gar nicht so schlecht, dass die Ärzte ihn dazu verdonnert hatten, noch ein paar Tage zur Beobachtung im Krankenhaus zu bleiben, denn als Kranker genoss man bei einem solchen Verhör zumindest das Privileg der erschöpften Pause, die man einem Menschen in seiner Situation einfach zugestehen musste.

Als er die Augen wieder öffnete, sah er die Ungeduld in den Gesichtern der beiden anderen. Doch ganz offensichtlich hatten sie für sich beschlossen, die Situation nicht mit einer zu frühen Fortsetzung ihrer Diskussion zu verschärfen. Protnik dagegen hielt sich weiter im Hintergrund und blinzelte Horst verstohlen mit einem Zwinkern des rechten Augenlides zu.

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