Tatort Bodensee

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15

Mittlerweile waren sie auf der Hochfläche des Heubergs angekommen. Dort, auf gut und gerne 800 Metern über Meereshöhe, in dieser kargen-rauen Landschaft, die Horst bei so manchem Besuch in den vergangenen Jahren richtig ins Herz geschlossen hatte, wehte immer ein frisches Lüftchen. »Schade, dass hier kein Wein wächst«, seufzte er, nachdem er die Augen aufgeschlagen hatte. Den ersten Teil der Fahrt hatte er selig geschlafen – kein Wunder nach den Strapazen der vergangenen Tage.

Apropos Wein. »Sag mal, Sputnik, was hat der Jürgen denn für einen Wein in seiner Burgschenke? Immer noch den lieblichen Trollinger oder hat er mittlerweile dazugelernt?« Mit Schaudern erinnerte sich Horst an so manchen elenden Morgen nach einem Abend auf dem Wildenstein. Wie oft hatte er sich damals schon geschworen, nie wieder einen Tropfen Alkohol in der dortigen Burgschenke zu sich zu nehmen, und wie viele endlose Diskussionen über dieses Thema hatte er schon mit dem Jugendherbergsvater, der nebenher auch die Schenke betrieb, hinter sich gebracht. Allesamt bisher vergeblich, kein Wunder, nachdem ihn der Herbergsvater regelmäßig darüber in Kenntnis setzte, dass er noch nie ein begeisterter Weintrinker gewesen sei und einige Tassen frisch gebrühter Tee am Abend sowieso viel gesünder seien.

Protnik guckte ratlos. »Weiß ich nicht! Ich hab da die letzten beiden Abende immer auswärts gegessen und bis ich zurück war, hatte die Burgschenke bereits geschlossen. Da hab ich mir halt noch eine Flasche Mineralwasser aus dem Automaten gezogen und bin dann ins Bett gegangen.«

»Na komm«, Horst stupfte seinen Kollegen aufmunternd an. »Dann mach noch einen kleinen Schlenker über Meßkirch. Da kenne ich einen Laden, der hat einen guten trockenen Lemberger. Zwar zu einem horrenden Preis, aber immerhin! Und außerdem, Meßkirch ist ein interessantes Städtchen! Warst du jemals in Meßkirch?«

Protnik schüttelte erwartungsgemäß den Kopf. Im selben Moment vernahm Horst einen derben Fluch und unmittelbar danach wurde sein Oberkörper mit einem gewaltigen Ruck nach vorne in Richtung Windschutzscheibe geschleudert. Gleichzeitig drang ein hässliches Quietschen der Autoreifen an sein Ohr. Nur der Si­cher­heits­gurt hatte verhindert, dass Horst (und Protnik genauso) durch die Windschutzscheibe geflogen waren!

Wütend hieb Protnik auf das Lenkrad. »Da – guck dir den Deppen da vorne an. Was macht der auch eine Vollbremsung, wo er doch ganz klar Vorfahrt hat. Der fährt, als wäre er stockbesoffen!« Damit deutete er auf einen weiß lackierten Kastenwagen, der dicht vor ihnen auf der Bundesstraße eine Vollbremsung vollzogen hatte.

»Na, mach schon, sonst steige ich aus und polier dir die Fresse, du Vollidiot!« Protnik war noch immer außer sich. »Ich hab keine Lust zu warten, bis mir von hinten einer reindonnert!«

Der Auspuff des Vordermanns spuckte stotternd eine Wolke dicken schwarzen Qualms aus. »Jetzt hat der auch noch seinen Motor abgewürgt! Unglaublich! Ich frag mich nur«, und damit wies er mit dem ausgestreckten Arm auf die Wand aus dunklem Nebel, durch die der weiße Transporter fast nicht mehr zu erkennen war, »wer ist hier eigentlich für den TÜV zuständig? Wieso gibt es überhaupt Abgasuntersuchungen, wenn solche Stinker die Straßen verpesten dürfen?«

Horst nickte und massierte sich die rechte Schulter in der Höhe, in der er vom Sicherheitsgurt, der sich wie ein Stahlband vor seinen Körper gespannt hatte, zurückgehalten worden war. »Aber sag mal, der hat uns doch vorher schon zweimal überholt, oder täusche ich mich?«

»Richtig, sag ich ja: Der muss besoffen sein!« Böse starrte Protnik auf den weißen Transit, der sich nun wieder in Bewegung setzte. »Da – schau mal, wie der jetzt davonprescht! Einfach unglaublich! Aber diese Typen mit ihren Lieferwagen und den viel zu starken Motoren, die hab ich eh gefressen! Die fahren immer wie die Gehirnamputierten! Da geht’s um Sekunden!« Kopfschüttelnd gab auch Protnik Gas. »Der ist wirklich die ganze Strecke über wie eine Klette an uns gehangen, dann hat er überholt, an den unmöglichsten Stellen, plötzlich war er wieder hinter uns, jetzt vor uns – und dann diese Vollbremsung! Hoffentlich war das die letzte Begegnung, sonst setzt’s aber was!«

»Eigentlich sollte man den anzeigen, so wie der den Straßen-Rambo spielt«, warf Horst ein. »Hast du dir eigentlich die Nummer gemerkt?«

Protnik verneinte. »Hab ich ehrlich gesagt nicht daran gedacht. Blöd von mir! Du hast recht. Aber ich weiß nur, dass das ein KN-Kennzeichen war, also von irgendwo aus dem Kreis Konstanz!«

Horst seufzte: »Also, das wär’s dann wohl! Was glaubst du, wie viele von diesen weißen Möbelschränken im Kreis Konstanz gemeldet sind!! Na ja, dann hat der Kerl eben noch mal Glück gehabt! Aber jetzt«, damit wandte er sich dem Fahrer zu, »machen wir jetzt einen kleinen Abstecher nach Meßkirch, was meinst du – wie wär’s?«

Protnik nickte zustimmend, worauf sich Horst mit einem zufriedenen Lächeln zurücklehnte: »Na, wunderbar! Da musst du nämlich einfach mal gewesen sein. Weißt du was? Ich zeige dir am besten erst mal das Schloss dort, das ist immerhin als bedeutendes Kulturgut in die Nationale Denkmalliste eingetragen. Und die Kirche erst, mit diesen tollen Grabdenkmalen von den Grafen von Zimmern! Das wird selbst dir als Kunstbanausen gefallen!«

Horst war nun ganz in seinem Element und ließ sich auch von dem schicksalergebenen Augenaufschlag seines Kollegen nicht mehr in seiner Begeisterung bremsen.

Gleichwohl erwartete ihn ein hartes Stück Arbeit, denn bisher war an Protnik jede Bemühung Horsts völlig folgenlos abgeprallt, in diesem irgendwelches noch so winzige Interesse an Kunst- und Kulturdenkmalen, welchen Jahrhunderts auch immer, wachzukitzeln. Der Kerl war halt einfach nicht kitzlig!

16

Einige Stunden später saßen sie alleine mit ihrer Flasche Rotwein (14,80 Mark hatte die im Laden in Meßkirch gekostet – unglaublich! Aber immerhin, es war wenigstens eine trockene Heilbronner Spätlese) in der Burgschenke. Der Herbergsvater, der sich herzlich gefreut hatte, seinen alten Bekannten Horst so unvermutet schnell einmal wiederzusehen, hatte extra für die beiden die eigentlich um diese Uhrzeit längst geschlossene Burgschenke aufgemacht und versichert, später noch mit ihnen bei einer Tasse Tee (!) zusammenzusitzen.

Horst war regelrecht aufgeblüht und hatte sich trotz der Ereignisse der letzten Tage gefühlt, als durchströme ihn ein warmer Energieschub. Schon als sie die letzten Kilometer vor dem Wildenstein erst durch Kreen­hein­stetten und dann Leibertingen gefahren waren. Wie oft hatten er und Claudia schon einen Spaziergang von der Burg ins Dorf herein unternommen und waren dort in einer der beiden Wirtschaften bei einem gemütlichen Abendessen regelrecht »verhockt«? Leibertingen, das Lavendeldorf auf dem Heuberg, zu dem es der frankreichbegeisterte Bürgermeister in den letzten Jahren mit Beharrlichkeit gemacht hatte: ein Stückchen Provence auf der rauen Alb – allein beim Lesen des Namens auf dem Ortsschild hatte er sich schon wieder wie zu Hause gefühlt! Und als er aus dem Auto ausgestiegen war und endlich wieder unmittelbar vor seiner Lieblingsburg gestanden hatte, da schossen ihm tatsächlich die Tränen in die Augen – ein sicheres Anzeichen dafür, wie erledigt er nach all den Ereignissen der letzten Tage doch war. Aber der Wildenstein würde ihn schnell wieder an Leib und Seele genesen lassen, dessen war er sich ganz sicher. Die mächtigen, fast 500 Jahre alten Bastionen der imposanten Burg, die beiden Zugbrücken, die schon ganze Generationen von Malern und Fotografen in ihren Bann gezogen hatten, und die einmalige Lage auf den steilen schroffen Kalkfelsen sage und schreibe 200 Meter über dem Tal der jungen Donau: Es war – jedes Mal aufs Neue – ein atemberaubend schönes Gefühl, wieder hier zu sein!

Nach der herzlichen Begrüßung durch den Herbergsvater hatte Horst, wie immer, seinen Rundgang durch die alte Burg aufgenommen, der ihn vom Speisesaal mit den herrlichen Wandmalereien aus der Renaissance durch den engen Gang über die Treppe aus ausgetretenen Kalkstufen in den riesigen Rittersaal führte. Den obligatorischen Ab­schluss bildete danach der Besuch der winzigen Burgkapelle mit dem sehenswerten Altar des Meisters von Meßkirch und – natürlich – der Klappe unter dem Teppich des Altarbodens, bei der er bisher jedes Mal Verblüffung bei seinen Begleitern hervorgerufen hatte, denen er die Burg und ihre Geschichte erläutert hatte. Auch bei Protnik war das nicht anders, nachdem bis dahin jeder Erklärungsversuch, jede noch so heitere Geschichte aus der Chronik der Grafen von Zimmern, die ja gerade auch hier, auf dem Wildenstein, spielte, wirkungslos verpufft war. Aber eine in das Holz des Altarbodens gesägte Fluchtklappe, darunter verborgen eine steile Holztreppe, die in einen dunklen Raum hinunterführte, aus dem ein kühler Luftzug in die Kapelle hochwehte, das war es, was das Herz des Kriminalisten höherschlagen ließ! »Wie geschaffen für ein Verbrechen!« rief Protnik begeistert aus, während Horst aufseufzend die Augen zum Himmel richtete: Sein Kollege war und blieb nun einmal ein kulturloser Geselle, an dem war Hopfen und Malz hoffnungslos verloren!

»Also, Michael«, begann Horst, nachdem sie eine Zeit lang jeder für sich ihren Gedanken nachhängend stumm am Tisch gesessen hatten. »Ich habe mir die ganze Geschichte noch mal hin und her überlegt: Das war kein Selbstmord – in hundert Jahren nicht! Und Susanne, also seine Frau«, fügte er rasch hinzu, als er den fragenden Blick seines Kollegen auffing, »Susanne war’s auch nicht. Die haben sich zwar ganz und gar auseinandergelebt und wollten sich sogar scheiden lassen, aber Susanne und Mord?! Nein – nie und nimmer. Außerdem waren sie sich längst einig über das Auseinandergehen. Dann der Psychopath von Nachbar. Gut, bei solchen Typen weiß man nie, wenn die vollends durchknallen, aber trotzdem! Der hat doch erstens Horst das Disziplinarverfahren und die Anzeige angehängt, und zweitens glaube ich auch nicht, dass der so clever ist, um auf die Idee mit dem Sauerstoff zu kommen! Nein, da muss noch ein anderer, ein absoluter Insider im Spiel sein!«

 

Protnik brütete dumpf über seinem Weinglas. »Aber wer? Wie um alles in der Welt sollen wir das denn rauskriegen?«

»Na, komm schon, da haben wir doch schon ganz andere Dinger geknackt, denk doch nur an den angeblichen Selbstmord damals in …« Horst wurde vom Klingeln seines Handys unterbrochen. Gereizt starrte er das Telefon an. »Was ist denn jetzt schon wieder? Man hat einfach keine Ruhe mehr, seit es diese Scheißdinger gibt! Überall und jederzeit erreichbar sein! Furchtbar!« Beständig klingelte das Handy weiter.

»Dann nimm halt ganz einfach nicht ab – irgendwann hört’s ja auch wieder auf«, knurrte Protnik, dem die Aversionen seines Kollegen gegen den technischen Fortschritt manchmal ein Rätsel waren.

»Quatsch!«, erwiderte Horst und bellte ein ärgerliches »Meyer!« in das Mikrofon. Nur wenige Augenblicke später musste Protnik eine merkwürdige Veränderung in Horsts Mienenspiel erleben. So also sah einer aus, dem gerade eben die Gesichtszüge entgleisten!

»Ja, schon, Herr Steiner! Nein, natürlich nicht, Herr Steiner! Ich denke nicht daran, selbstverständlich weiß ich, dass das nicht unser Gebiet ist! Nein, klar habe ich verstanden. Nein, ich ermittle nicht auf eigenes Risiko. Und mein Kollege«, erstaunt sah er Protnik an, »nein, mein Kollege auch nicht! Wir haben ja auch beide Urlaub, da ist schon deshalb gar nicht dran zu denken … ja, doch, alles klar, geht in Ordnung! Danke, ja! Hallo … aufgelegt, der hat schon aufgelegt!« Wütend drückte er auf den roten Knopf und feuerte das Handy in die Ecke. »Wiederhören!«

Verwundert betrachtete Protnik das merkwürdige Schau­spiel. »Was um alles in der Welt ist denn in dich gefahren? Und wer war das denn überhaupt?«

Horst schnaubte wütend. »Das errätst du in hundert Jahren nicht, wer da gerade angerufen hat!«

»Ja, wie denn auch? Ich bin schließlich kein Hellseher!« Missmutig musterte Protnik sein Gegenüber. »Also Rätsel haben wir auch so genug, da brauche ich nicht noch zusätzlich eines an der Backe!«

Beschwichtigend hob Horst die Hand. »Hast ja recht! Aber trotzdem: Das ist jetzt wirklich der Gipfel! Weißt du, wer das war?«

»Nein!!! Weiß ich nicht!!!«

»Das war der Steiner! Der Steiner höchstpersönlich!« Horst schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, dass die vor ihnen stehenden Gläser hüpften und die Weinflasche für einen Augenblick bedenklich wackelte.

Protnik glotzte ihn verständnislos an. »Steiner … welcher Steiner denn?«

»Na, mein Chef natürlich. Und zwar der Oberboss! Der Steiner von der Polizeidirektion Heilbronn, der Oberrat! Persönlich!«

Jetzt war es Protnik, der seinerseits mit einem Fausthieb auf den Tisch die Gläser tanzen ließ: »Das gibt’s doch nicht! Sag bloß, der weiß schon alles …«

Horst nickte: »Na ja, was auch immer ›alles‹ ist! Aber auf jeden Fall haben ihn die Typen aus Konstanz informiert: über den Unfall, über das Krankenhaus und darü­ber, dass ich nun auf eigene Faust Ermittlungen anstellen wollte!«

Protnik schnaubte: »Was ist das denn für eine Schweinerei?!«

»Wart’s ab, es kommt noch besser!« Horst nahm einen Schluck Rotwein zu sich, bevor er weitersprach. »Ich sei aus dem Krankenhaus getürmt wie ein flüchtiger Schwerverbrecher, das hat er auch schon gewusst! Und dann, das Allerschärfste: Der Konstanzer Landrat habe ihm mitteilen lassen, dass er stinksauer sei, wenn er noch einmal irgendetwas von mir hören würde! Dass er sich dann beim Innenminister persönlich über mich und über die Heilbronner Polizei beschweren und das dann wiederum heftige Konsequenzen für mich nach sich ziehen würde …«

Wieder ein Hieb auf den Tisch, der die Empörung ausdrückte, die von Protnik inzwischen völlig Besitz ergriffen hatte. »Aber das ist ja unglaublich! Was hast du denn bisher Schlimmes getan? Und was hat denn dieser Landrat da rumzumachen, das ist ja das Allerletzte!«

Horst nickte nachdenklich. »Das muss dieser Bär sein! Von dem hat schon der Professor im Krankenhaus gesprochen. Ja, richtig! Da hab ich noch nachgefragt, was der denn will, wo doch Überlingen zum Bodenseekreis gehört und nicht zu Konstanz. Und da ist der mir ganz kurz und heftig mal über den Mund gefahren! Dieser Landrat, das scheint so einer von der Sorte zu sein, die überall die Finger drin haben! Ach ja, und noch was: Ich solle ja Abstand von der Presse halten!«

Protnik verzog säuerlich den Mund. »Klar, das sagen sie sowieso immer, nur damit sie auch irgendwas zu sagen haben!«

Doch Horst wehrte ab. »Nein, nein! Ich glaube, da ist mehr dran! Der hat sofort in diesem Zusammenhang das Stichwort ›Seekurier‹ von sich gegeben, als wenn er mitbekommen hätte, wie wir mit dem Winter gesprochen haben!«

»Unmöglich! Das glaube ich aber jetzt wirklich nicht! Die können uns doch nicht bespitzelt haben! Was auch immer das für Typen sind, das sind doch Kollegen, Polizisten wie wir beide auch! Nein«, Protnik schüttelte energisch den Kopf, »da hat der einfach so im Nebel herumgestochert und den ›Seekurier‹ halt als Beispiel für die Presse im Allgemeinen genommen … Mehr kann an dieser Sache beim besten Willen nicht sein!«

Horst war nach wie vor skeptisch. »Hoffentlich hast du recht! Ist ja schließlich keine schöne Vorstellung, von den eigenen Kollegen bespitzelt zu werden! Aber wie auch immer: Ich denke, ich muss jetzt wirklich vorsichtig sein. Denn sonst bricht’s über mich noch dicker herein, als das eh schon der Fall ist! Protnik«, und damit blickte er seinen alten Freund unbeiirt an, »jetzt musst du mehr im Vordergrund die Initiative ergreifen!«

Bevor der so Angesprochene zu einer Erwiderung ansetzen konnte, wurde die Tür der Burgschenke geöffnet und der Herbergsvater trat ein. In der Hand hielt er einen kleinen Notizzettel. »Tut mir leid, dass ich euch störe, aber da ist grade ein Anruf gekommen.« Dabei richtete er sich an Protnik. »Der Anruf war für Sie, Herr Protnik. Da war einer namens Krauter am Telefon. Den sollen Sie möglichst rasch zurückrufen – zu Hause. Ich hab Ihnen hier die Nummer aufgeschrieben!« Damit legte er den Zettel vor dem völlig entgeistert aufblickenden Protnik auf den Tisch.

»Das gibt’s nicht!«, stammelte der und schüttelte fassungslos den Kopf. »Horst, du weißt wer das ist, oder?«

Auch Horst war verblüfft und nickte langsam. »Natürlich: Das war jetzt dein Chef bei der Polizeidirektion in Ulm! Und dreimal darfst du raten, was der von dir will und wer mit ihm gesprochen hat!«

17

Gegen Mittag des darauffolgenden Tages verabschiedeten sich Horst und Protnik vom Herbergsvater auf dem Wildenstein. »Das war ja ein Blitzbesuch, das hat sich fast gar nicht gelohnt«, schüttelte der verständnislos den Kopf. »Und gestern Abend war mit euch beiden ja auch nichts mehr anzufangen! Ich glaube, hinter euch beiden ist der Teufel her«, setzte er lächelnd noch hinzu.

»Damit kannst du recht haben«, nickte Horst, dem der Frust über die gestrigen Telefonate immer noch in den Knochen saß. »Nur frage ich mich allmählich, welcher Teufel …«

Irritiert schaute der Herbergsvater von einem zum anderen. »Was soll denn das nun wieder heißen?«

»Gar nichts, mach dir bloß keine Gedanken!« Horst legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. »Also, Jürgen, mach’s gut. Ich hoffe wirklich, wir sehen uns bald wieder. Vielleicht langt’s mir ja schon auf der Rückfahrt, zusammen mit Claudia mal vorbeizugucken. Oder du kommst uns endlich mal in Heilbronn besuchen, wenn du in der Nähe bist!«

»Wenn … Aber du weißt ja, wie es immer ist«, verlegen zupfte Jürgen an seinem Bart. »Also dann: Pass auf dich auf und mach mir keinen Kummer. Tschüss, ihr zwei!« Damit schüttelte er beiden die Hand und verschwand in der Küche der Jugendherberge.

Horst versetzte Protnik einen Klaps auf die Schulter. »Also komm, alter Junge! Jetzt packen wir den Stier bei den Hörnern!«

Energisch und erkennbar voller Tatendrang setzten sie sich in Bewegung. Gleich heute Morgen beim Frühstück hatten sie einander entschlossen über den Rand ihrer Kaffeetassen hinweg angeblickt und beide hatten verstanden, was der andere damit sagen wollte: Sie machten weiter! Jetzt erst recht! Und wenn ganze Legionen von Polizeichefs, Landräten und Innenministern sie daran hindern wollten! Das war Horst seinem verunglückten Freund Thomas einfach schuldig, und Protnik wiederum fühlte sich Horst gegenüber selbstverständlich in der Pflicht!

Der Tag versprach spannend zu werden!

18

»Sag mal, das darf doch wohl nicht wahr sein! Spinne ich jetzt oder sehe ich schon Gespenster?« Zornig hieb Protnik mit der flachen Hand auf sein Lenkrad und blickte angestrengt in den Rückspiegel.

»Was hast du denn? Schau lieber nach vorne, sonst landen wir noch im Straßengraben und das ist bei dem Abhang hier gar nicht lustig!« Horst war von Protniks plötzlichem Ausbruch aus seinen Gedanken gerissen worden.

»Ja, komm, schau halt selber! Der ist plötzlich herangedonnert gekommen wie ein Gewitter! Ist das derselbe wie gestern, oder nicht?«

Horst drehte sich nach hinten und spähte aus dem Rückfenster von Protniks Wagen. »Ach so, das meinst du! Schon wieder der weiße Lieferwagen? Wie der Depp von gestern? Na ja, könnte sein und sein Kennzeichen …« Er hob sich leicht aus dem Beifahrersitz und versuchte angestrengt, einen Blick auf das Kennzeichen des dicht hinter ihnen fahrenden weißen Autos zu werfen. »Aha – das Kennzeichen stimmt auch, eine Konstanzer Zulassung – und der Kerl fährt genauso bescheuert wie der von gestern. Achtung, Sputnik! Pass auf, der rammt dich sonst gleich!« Wie eine Rakete schoss der hinter ihnen fahrende Wagen mit aufheulendem Motor plötzlich nach vorne!

»Sag mal, der hat sie wohl nicht mehr alle!« Protnik schrie den Satz in plötzlich aufsteigender Panik förmlich heraus.

In diesem Moment hörten sie auch schon das Geräusch des Aufpralls; ruckartig wurden die beiden Insassen nach vorne geworfen.

»Mensch, pass auf!« Horsts Verdacht wurde zur Ge­wiss­heit. »Mensch, der will uns von der Straße drängen! Das ist Absicht!«

»Dreckschwein!« presste Protnik zwischen seinen vor Anspannung fest zusammengebissenen Zähnen hervor. »Der hat abgewartet, bis wir hier sind, und will uns jetzt abschießen!«

In der Tat hätte sich der unbekannte Geisterfahrer keine bessere Passage aussuchen können als die Heiligenberger Steige, die sie gerade befuhren. Fast 200 Meter ging es da in zahlreichen engen Serpentinen von der Hochfläche hinab ins Bodensee-Hinterland. Und wenn da ein Wagen an der falschen Stelle … Horsts Gedanken wurden durch einen neuerlichen Stoß von hinten unterbrochen. »Mensch, Protnik, drück auf die Tube, sonst hat der uns wirklich bald …«

»Mach ich doch, aber bei jeder Kurve kommt der automatisch näher, wenn ich am Abbremsen bin! Was ist denn das jetzt?«

Angespannt blickten die beiden auf die linke Seite. Tatsächlich: Der weiße Lieferwagen setzte zum Überholen an. »Schneller, Protnik, schneller! Der will uns seitlich von der Straße boxen!« Krampfhaft stützte sich Horst am Armaturenbrett von Protniks Wagen ab. Ein Blick nach rechts verursachte eine krampfhafte Zuckung in seinem Magen: An dieser Stelle ging es fast senkrecht ins Tal hinun­ter. »Protnik, schneller!«

»Ich fahre längst mit Vollgas!«, schrie der zurück. »Aber der andere ist einfach schneller, der hat wesentlich mehr PS als wir!« Protnik umklammerte das Lenkrad.

In diesem Moment raste der weiße Wagen fast schon auf gleicher Höhe mit ihnen auf der Gegenfahrbahn heran, nur Zentimeter befanden sie sich noch auseinander! Wieso kam denn kein Auto die Straße heraufgefahren?! Ausgerechnet jetzt war von Gegenverkehr nichts zu sehen! »Brems mal scharf, Protnik! Auf geht’s: jetzt!!«

Doch im selben Moment drang ein durchgehendes metallisches Kreischen an ihre Ohren, das durch Mark und Bein zu zischen schien. Der andere hatte sie touchiert und drückte nun mit seinem wesentlich größeren Gewicht und seiner überlegenen Masse Protniks kleinen Opel Astra mühelos auf den Seitenstreifen! Verbissen versuchte Prot­nik gegenzulenken, so gut er es eben in dieser Situation vermochte. Doch es half nichts: Schon rumpelten die Räder auf der rechten Seite über die Grasnarbe, Funken sprühten am Fenster der Beifahrerseite hoch. Sie hatten die Leitplanke gestreift, die mit absoluter Sicherheit nicht genügend Widerstand bieten würde, um den absehbaren Sturz den Abhang hinunter aufzuhalten.

 

»Protnik!«, schrie Horst aus Leibeskräften. »Brems, Protnik!«

Doch diese Aufforderung war gar nicht nötig. Energisch stieg Protnik bereits in die Eisen. Ein hässlich quietschendes Geräusch war die Folge! Die Räder blockierten auf der vom vorangegangenen Regenschauer noch nassen Fahrbahn! Nur ja nicht ins Schleudern geraten in dieser Situation! Heftig kurbelte er am Lenkrad! Horst schickte ein Stoßgebet zum Himmel: Hoffentlich war Protniks letzter Schleuderkurs noch nicht allzu lange her! Aber was war das?!

Der weiße Lieferwagen schoss mit einem Mal wie ein Blitz an ihnen vorüber – der Amokfahrer musste noch mehr aufs Gas getreten sein, während Protnik nach der Vollbremsung immer noch versuchte, seinen Wagen einigermaßen kontrolliert zum Stehen zu bringen. Da entdeckte Horst den Grund für das Manöver: Endlich! Keine hundert Meter vor ihnen bewegte sich langsam ein mit Kies beladener Lastzug die Steige hinauf, und wenn der Fahrer des Lieferwagens es nicht schleunigst schaffte, auf die richtige Spur einzubiegen, dann war ein Zusammenstoß mit dem LKW nicht mehr zu vermeiden. Horst schnaufte tief durch, während es Protnik gelang, den Wagen allmählich wieder in seine Gewalt zu bringen und langsam ausrollen zu lassen.

Atemlos beobachteten sie die Szene vor ihnen: Ein lang gezogenes tiefes Hupgeräusch des Lastzugs, dessen Fahrer gleichzeitig heftig das Fernlicht bediente, hallte ihnen entgegen, gefolgt von einem dumpfen Schlag! Der Lieferwagen war mit dem linken Kotflügel auf den LKW geprallt, die Stoßstange fegte wie von einer Orkanböe getrieben durch die Luft, während bei dem Lastzug der linke Scheinwerfer in tausend Scherben zersplitterte. Der weiße Wagen kam heftig ins Schleudern, doch irgendwie gelang es dessen Fahrer, sein Gefährt wieder unter Kontrolle zu bekommen. Mit kaum verminderter Geschwindigkeit raste es anschließend weiter den Berg hinunter.

Horst und Protnik stierten sich ungläubig an, bis Horst schließlich den Kopf schüttelte. »Was war das denn? Ich glaub es einfach nicht! Das war nie und nimmer ein Fahrfehler, das war Absicht!«

Protnik schien nach wie vor sprachlos. Kreidebleich fixierte er das Armaturenbrett. Langsam, ganz langsam entspannte er die um das Lenkrad gekrampften Finger. »Das war knapp!«, stieß er gepresst hervor.

Der Fahrer des Lastzuges hatte angehalten und die Warnblinkanlage eingeschaltet. Mit hochrotem Kopf kletterte er aus dem Führerhaus und besah sich den Schaden. Dann stapfte er auf das Auto der beiden zu. »Habt ihr ein Wettrennen veranstaltet oder was soll das denn eigentlich gewesen sein?«, brüllte er Protnik, der im selben Moment noch immer sichtlich benommen die Scheibe herunterkurbelte, direkt ins Gesicht.

Das hysterische Gezeter des Lastwagenfahrers sorgte dafür, dass sich die Verkrampfung in Horst mit einem Schlag wieder löste. Er beugte seinen Oberkörper nach vorne und fingerte den Dienstausweis aus der Hosentasche. Dann stieß er Protnik an. »Da, zeig ihm das!«

Während Protnik den Ausweis dem aufgebrachten LKW-Fahrer direkt unter die Nase streckte, versuchte Horst, einen strengen amtlichen Ton anzuschlagen: »Polizei! Wir sind im Einsatz! Bleiben Sie, wo Sie sind, wir werden den Kollegen Bescheid sagen!«

Der Fahrer wirkte von der Tatsache, dass er bei einem Polizeieinsatz gerammt worden war, nicht sonderlich begeistert. Wütend schnaubte er: »Schöne Freunde und Helfer! Um ein Haar hätte es hier im Namen des Gesetzes Kleinholz gegeben! Ihr habt sie wohl nicht mehr alle!«

Horst versuchte es weiter mit Strenge: »Machen Sie jetzt den Weg frei! Wir müssen dem Unfallverursacher folgen!« Den überraschten Blick von Protnik übersah er geflissentlich. »Also los, kommen Sie schon, sonst wird’s teuer!«

Widerstrebend machte der Lastwagenfahrer kehrt und ging zu seinem lädierten LKW zurück. Als sie an dem Mann vorüberfuhren, warf er ihnen wütende Blicke zu. Horst sah, wie er etwas auf ein Stück Papier kritzelte, höchstwahrscheinlich ihr Autokennzeichen. Verständnisvoll wiegte er den Kopf: »Verstehen kann ich ihn! Da schleichst du nichts ahnend den Berg hoch und plötzlich kommt ein Hurrikan auf dich zugerast. Dann kracht es mittelprächtig und zwei Typen erklären dir leutselig, alles sei völlig normal, sie wären halt grade im Polizeieinsatz!«

Protnik schaute ihn von der Seite an. »Wenn das nicht noch ein Nachspiel hat: Menschenskinder! Das wird noch gewaltigen Ärger geben!«

Horst nickte zustimmend: »Worauf du dich verlassen kannst! Aber den Kerl, den erwischen wir – und das Kennzeichen hab ich mir auch gemerkt!«

»Wird nicht viel nützen, der Wagen ist doch todsicher geklaut!«, brummelte Protnik skeptisch, während er nach der letzten Serpentine der Steige nun kräftig beschleunigte und mit fast hundert Sachen am Ortsschild von Leustetten vorbeirauschte. »Hoffentlich holen wir den Kerl noch ein, der hat ja schließlich ganz schön was abbekommen! Hast du ihn übrigens genauer sehen können?«

»Viel war da nicht zu sehen. Der ist schon auf Nummer sicher gegangen. Dunkle Haare, Sonnenbrille, gestutzter Schnauzbart und dann so einen weiß-schwarz gewürfelten Arafatschall ums Kinn und um den Hals, so wie ihn diese Typen fast alle tragen, mehr war nicht zu sehen von diesem Gangster!«

»Hab ich mir halb gedacht: der ist schließlich auch nicht blöd! Also, wie der plötzlich hinter mir hergefegt ist: alle Wetter!« Protnik durchlief ein Schauder. »Mir ist jetzt noch ganz schwummerig! Aber der muss uns abgepasst haben, hat irgendwo da oben auf uns gewartet. Das war alles eiskalt kalkuliert!«

Auch Horst spürte, wie sich in der Erinnerung an das gerade eben Durchlebte seine Nackenhaare aufstellten. »Das glaube ich auch! Also ehrlich Protnik: Zweimal innerhalb von drei Tagen fast über den Jordan zu gehen, das haut den stärksten Bären um. Und dann noch …«

Eine energische Handbewegung von Protnik unterbrach seine Rede. »Du guck mal, da vorn auf dem Parkplatz! Ist das nicht unser Auto?«

Angestrengt kniff Horst die Augen zusammen und blickte in die Richtung, in die Protniks Arm deutete. Dann schlug er sich auf die Schenkel. »Bingo, Sputnik! Du hast recht! Na warte, Freund, wenn ich dich zwischen die Finger kriege!«

Mit quietschenden Reifen hielten sie Sekunden später neben dem lädierten weißen Lieferwagen, unter dessen Motorhaube sich eine Pfütze aus auslaufendem Kühlwasser gebildet hatte. Mit einem Blick konnte man erkennen, dass der Fahrer verschwunden war. Weit und breit war keine Spur von ihm zu entdecken, nicht einmal auf den angrenzenden Äckern. »Mist, verfluchter«, hieb Protnik wütend mit der Faust auf sein Lenkrad. »Der hat entweder einen Komplizen gehabt, der hier auf ihn gewartet hat, oder aber er hat für den Fall des Falles hier ein zweites Auto abgestellt! So ein durchtriebenes Aas aber auch!«

Leise schüttelte Horst den Kopf. »Das darf doch einfach alles nicht wahr sein! Das ist ja wie ein Albtraum! Also wenn noch einmal irgendjemand mir gegenüber behauptet, der Thomas hätte sich selbst umgebracht, dem gehe ich eigenhändig an die Gurgel! Der muss in einem ganz gewaltigen Sumpf fündig geworden sein! Und jetzt haben sie uns auf der Liste, weil sie glauben, wir hätten etwas mitgekriegt! Schön wär’s ja!« Hilflos musterte er seinen Kollegen. »Und jetzt? Was sollen wir denn jetzt tun?«

Auch Protnik schien mit seinem Latein ziemlich am Ende zu sein. »Jetzt? Jetzt rufst du mit deinem Handy erst mal die Kollegen an und meldest ihnen den Unfall an der Steige! Du liebe Güte, das wird einen schönen Anschiss geben, wenn die Bosse davon erfahren! Und dann auch noch Unfallflucht!« Skeptisch zog er die Mundwinkel nach unten und schnalzte mit der Zunge. »Das geht nicht ohne Disziplinarverfahren ab, da verwette ich den Hühnerstall meiner Oma! Tja, Herr Kollege, ab nach Sibirien! Also komm – lass uns zum LKW zurückfahren!«

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