Tatort Bodensee

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»Gut, meine Herren! Wir können wieder!« Mit neuer Energie versehen blickte er die beiden Polizisten entschlossen an. »Also, ich fasse zusammen: Eheprobleme, Nachbarschaftsstreit, Disziplinarverfahren. Sie tippen mit anderen Worten auf Selbstmord! Sehe ich das richtig?«

Hofer wiegte bedächtig den Kopf: »Wie sollen wir es denn sonst sehen? Also, an die Geschichte von der von irgendeinem mysteriösen Dritten manipulierten Press­luft­flasche glaubt in Wirklichkeit doch nur der Doktor, oder? Es sei denn«, und damit fixierte er Horst mit strengem Blick, »es sei denn, Sie hätten etwas mit der Manipulation zu tun! Sie könnten ruckzuck zu unserem Hauptverdächtigen werden!«

In diesem Moment explodierte Protnik! »Also das ist doch …! Das ist ja wohl das Hinterletzte, was ich jemals gehört habe! Sie sprechen hier von einem Kollegen! Für den lege ich meine Hand ins Feuer!« Protniks Gesicht war hochrot angelaufen. Außer sich vor Empörung schnaub­te er wütend und glotzte Hofer missbilligend an.

»Ist ja schon gut!«, wehrte der mit erhobenen Händen beschwichtigend ab. »Ich meine ja nur … Schließlich wissen Sie ebenso gut wie wir, dass wir alle Möglichkeiten durchgehen müssen, zumindest rein theoretisch!«

Protnik war immer noch auf hundertachtzig. »Rein theoretisch! Ich bin Praktiker und wie gesagt, ich kenne den Kollegen seit Jahren sozusagen in- und auswendig!«

»Aber wir nicht, Herr Protnik!«, schaltete sich nun Schlot­ter­beck mit einer scharfen Erwiderung in den Disput ein. »Und deshalb lassen Sie uns bitte in aller Ruhe unsere Arbeit erledigen, einverstanden?« Er musterte den Ulmer Kollegen streng, bevor er sich zu Horst herumdrehte. »Also, Herr Meyer! Natürlich wollen wir Sie da in nichts hineinreiten, ganz im Gegenteil, aber nun wieder zum Thema vor der Unterbrechung zurück: War das alles, was Sie uns zu sagen haben? War da sonst nichts mehr, rein gar nichts?« Wie der Fuchs vor dem Kaninchenstall, schoss es Horst durch den Kopf! Dieser lauernde Blick, diese knisternde Atmosphäre mit einem Mal – war das noch derselbe Beamte, der vorher noch so jovial gelächelt hatte?

Horst schüttelte stumm den Kopf.

Doch bevor Schlotterbeck zu einer weiteren Frage ansetzen konnte, mischte sich nun wieder Hofer in die Diskussion ein: »Also keine Andeutungen bezüglich dienstlicher Probleme, irgendwelcher Ermittlungen, bei denen der Herr Grundler eventuell nicht so recht vorangekommen ist, irgendwelche Namen, Verdächtigungen oder so etwas? Da spricht man doch abends beim Bier schon mal drüber, oder?« Aufmunternd zwinkerte er Horst zu.

Doch der schüttelte neuerlich den Kopf, obwohl hinter seiner Stirn ein ganzes Dutzend Alarmglocken auf einmal schrillten. »Wir haben Wein getrunken, Weißherbst, wenn Sie’s genau wissen wollen!«

Genervt grunzte Hofer. »Nein, will ich nicht!« Verärgert fuhr er fort: »Also, ich rekapituliere: mit Ausnahme der bereits erwähnten – privaten – Schwierigkeiten gab es nichts, was auf ein Tatmotiv und somit auf die Manipulationen eines Dritten hinweisen könnte? Rein gar nichts? Richtig oder falsch?«

Horst hatte begriffen: Die wollten auf Selbstmord hi­naus und den unangenehmen Fall so schnell wie möglich zu den Akten legen! So gingen die also mit dem Tod eines Kollegen um: unfassbar! Es sei denn … Aber diese These vertrug das Atmen nicht, die musste er hinterher sorgfältig mit Protnik angehen. Jetzt ging es erst mal darum, die beiden Typen vor ihm schnellstmöglich loszuwerden! Er nickte entschieden: »Genauso ist es! Keine weiteren Pro­bleme, nur ein ganzer Haufen von privaten Schwierigkeiten, von denen Thomas allmählich erdrückt worden ist, richtig!«

Misstrauisch fixierte ihn Schlotterbeck. »Sie sind sich ganz sicher? Sie bleiben bei dieser Aussage?«

Noch einmal nickte Horst – aus den Augenwinkeln konnte er die verblüffte Miene von Protnik erkennen – aber dem konnte er später alles erklären. »Richtig!«

»Gut! Dann ist die Vernehmung hiermit beendet!« Schlotterbeck sprang auf und drückte auf die Stopp-Taste seines Diktiergerätes.

Auch Hofer machte eine abschließende Handbewegung. »Dann sind wir vorerst fertig miteinander! Vielen Dank und weiterhin gute Besserung!« Damit wandte er sich um und öffnete die Tür des Krankenzimmers.

»Wiedersehen!« Schlotterbeck versuchte die Andeutung eines Lächelns. »Und passen Sie auf, mit wem Sie das nächste Mal Tauchen gehen!« Damit folgte er Hofer nach und schloss hinter sich die Tür.

»Arschloch!«, stieß Horst hervor, kaum dass die beiden verschwunden waren. »Was glauben die eigentlich, wer sie sind?!«

Protnik zog sich den Stuhl in die Nähe von Horsts Nachttisch. Missbilligend zog er die Stirn in Falten. »Na, du hast es denen ja auch einfach genug gemacht! Sag mal«, und damit blickte er seinem Gegenüber forschend in die Augen, »bist du eigentlich tatsächlich von dem Selbstmordquatsch überzeugt, den die zwei da abgeseiert haben?!«

Horst schnaubte verächtlich. »Glaubst du doch selber nicht! Außerdem: Da wüsste ich als Polizist aber schnellere und effektivere Methoden, um mich um die Ecke zu bringen als ausgerechnet mit Sauerstoff in einer Press­luftflasche!« Er schlug sich mit der Hand an die Stirn. »Das ist doch völlig idiotisch!«

Protnik schüttelte den Kopf: »Ja, aber wenn du das mit dem Selbstmord nicht glaubst, wieso hast du denen dann plötzlich überhaupt nicht mehr widersprochen?« Nachdenklich fixierte er Horst. »Oder gibt es da etwas, was ich noch nicht weiß und was du den beiden Superbullen nicht hast auf die Nase binden wollen?« Plötzlich war die Spannung in dem kleinen Zimmer mit den Händen greifbar.

Der so Angesprochene nickte heftig. Gleichzeitig legte er den Zeigefinger auf die Lippen und deutete anschließend bedeutungsvoll im Raum umher. Protnik schien eine Sekunde lang erstaunt, dann verstand er, zuckte die Achseln und nickte ebenfalls. Vielleicht hast du ja recht, sollte das heißen. Horst hielt nämlich inzwischen alles für möglich. Unter Umständen litt er zwar unter Verfolgungswahn, konnte gut sein! Aber was, wenn doch irgendwo eine Wanze in seinem Zimmer angebracht worden war? Was, wenn der schreckliche Verdacht, der in ihm innerhalb der letzten Stunde aufgekeimt war, doch zutraf und seine Protnik gegenüber laut geäußerte Vermutung abgehört und an die falschen Stellen weitergeleitet würde? Die Gedanken rasten in seinem Kopf! Wem konnte man eigentlich überhaupt noch trauen, war er umgeben von Verrat und Betrug? Hatte auch er sich schon in dem Spinnennetz verstrickt, in dessen Fäden Thomas Grundler seiner Meinung nach längst gefangen gewesen war, als vorgestern dann das schlimme Unglück passierte?

Eines auf jeden Fall war klar: Irgendwie musste er raus aus diesem Zimmer, und zwar so schnell wie möglich! »Protnik, komm!«, sagte er und schlug die Bettdecke zurück. »Schau mal nach, ob du in dem Schrank da drüben meine Kleider findest. Die wollten sie eigentlich gestern Abend noch aus dem Wohnwagen holen.«

Verständnislos glotzte Protnik ihn an. »Ja, und dann?«

»Dann geht’s auf und davon, das verspreche ich dir!«

»Aber du bist doch krank! Du sollst doch noch ein paar Tage zur Beobachtung hierbleiben!«

»Ich bin topfit und kerngesund! Außerdem sterben im Bett die meisten Leute, also komm, lass uns abhauen!« Und damit schwang er sich mit einer energischen Bewegung aus dem Bett und stand – zum ersten Mal seit zwei Tagen wieder – auf seinen Füßen. Im selben Moment durchlief Horst ein wellenartiges Schwindelgefühl, als ob der Boden unter seinen Füßen davonschwimmen würde. Gerade noch schaffte er es, sich mit dem Arm am Nachttisch abzustützen und sich mit der anderen Hand daran festzuklammern. Vorsichtig schielte er in Protniks Richtung hinüber. Nein, der hatte glücklicherweise nichts von seinem Schwächeanfall mitbekommen, der war voll und ganz mit dem Kleiderschrank beschäftigt, in dem er Horsts Sachen zusammensuchte. Sehr gut, dann brauchte er es dem Kollegen auch gar nicht erst auf die Nase zu binden! Das war sicher ganz normal, wenn man zwei Tage lang nur im Bett gelegen hatte, das würde schon vorübergehen. Und außerdem hatte er verdammt noch mal Urlaub und dachte nicht im Traum daran, den im Krankenhaus zu verbringen!

14

»Na, das hätten wir geschafft!« Aufatmend ließ sich Protnik auf den Fahrersitz seines Wagens fallen. »Du meine Güte, da kommt man sich vor wie ein Ausbrecher aus dem Gefängnis! Und das als Polizeibeamter! Einfach unglaublich, was man mit dir so alles erlebt!« Kopfschüttelnd betrachtete er seinen Kollegen, der sichtlich angestrengt nach Luft schnappte und sich nur ganz allmählich von ihrer raschen Flucht aus dem Krankenhaus erholte.

Schweiß rann über Horsts Stirn und einen Augenblick lang zweifelte er daran, ob sein Entschluss, dem Krankenhaus den Rücken zu kehren, tatsächlich klug gewesen war. Doch es war jetzt keine Zeit, sich gehen zu lassen! Entschlossen setzte er sich auf, reckte das Kinn in die Höhe und schaute Protnik herausfordernd an. »Also, Kollege, jetzt gilt’s! Komm, fahr los!«

Protnik atmete tief durch, um nicht aus der Haut zu fahren. »Aber wohin denn bloß? Einfach starten und ins Blaue fahren ist ja wohl auch nicht der wahre Jakob!«

Bevor Horst zu einer Erwiderung ansetzen konnte, klopfte es zaghaft an der Scheibe der Beifahrerseite. Überrascht sah Horst auf und blickte einem schätzungsweise 30-jährigen, mit abgewetzter Jeans und T-Shirt bekleideten dicklichen Mann in die Augen, um dessen Hals ein Fotoapparat baumelte. Dieser nickte verlegen und beschrieb anschließend mit der Linken eine eindeutige Handbewegung: Horst sollte das Fenster des Wagens herunterkurbeln.

»Was ist denn das schon wieder?«, knurrte er ungehalten, während er der Aufforderung des Fremden Folge leistete.

»Siehst du, jetzt haben sie uns am Wickel! Das kann ja lustig werden!« Protnik machte wieder einmal auf pessimistisch!

 

»Quatsch mit Soße! Selbst wenn, ich bin schließlich mein eigener Herr und kann aus dem Krankenhaus raus, wenn ich das für richtig halte, oder?« Er streckte den Kopf aus dem Autofenster und raunzte ungnädig: »Ja, was gibt’s?«

Verschämt senkte der Störenfried den Blick, während seine Finger nervös am Halsband des Fotoapparates herum­nestelten. »Entschuldigen Sie bitte vielmals! Aber sind Sie nicht der Polizist, der da vorgestern beim Tauchen verunglückt ist?«

Horst glaubte, von einer Keule getroffen worden zu sein. »Verdammt! Woher wissen denn Sie das eigentlich?!«

Ein rascher Stoß von Protnik in die Seite, gefolgt von einem warnenden Blick, doch es war schon zu spät: Ein triumphierendes Grinsen zog sich über das breite Gesicht an der Beifahrertür. »Na ja, wozu ist man denn schließlich Journalist …«

Verfluchter Mist, auch das noch! Jetzt hatten sie ihn in ihren Klauen. Horst konnte sich die Schlagzeile am nächsten Tag schon vorstellen: »Kommissar flieht aus Krankenhaus!«, um noch die mildeste Version zu wählen. Es konnte aber auch noch schlimmer kommen: »Wahnsinnstaucher dreht durch!« oder so ähnlich.

Einen – wenn auch verspäteten – Verschleierungsversuch wollte er aber schon noch unternehmen: »Und wie wollen Sie das herausgefunden haben?«

Der Bursche ließ sich nicht mehr abwimmeln! Mit einer gehörigen Portion Stolz in der Stimme offenbarte er seine Vorgehensweise. »Na ja, ich habe mich schon eine ganze Zeit lang am Krankenhaus aufgehalten. Und irgendwann war ja klar, dass Sie herauskommen würden. Da waren vorher die drei Kollegen bei Ihnen: so ein Polizeifahrzeug, mit FR-Kennzeichen, mit dem Fahrer in Uniform und zwei Männern in Zivil, das fällt halt auf! Außerdem sind wir hier in Überlingen im Kreis Friedrichshafen und unsere Polizei hat auf dem Nummernschild grundsätzlich TÜ für die Landespolizeidirektion Tübingen stehen. Damit war mir schon einmal klar, dass hier Kollegen von dem verunglückten Kommissar aus Konstanz die Ermittlungen aufgenommen hatten und dass also nun Sie persönlich vernommen werden sollten. Und nachdem das Gespräch dann ja über eine Stunde gedauert hat, war mir auch klar, dass Sie wieder einigermaßen hergestellt waren!«

Anerkennend stieß Protnik einen Pfiff aus. »Donnerwetter! Gute Kombinationsgabe! An Ihnen ist ja glatt ein Polizeibeamter verloren gegangen!«

Ein missbilligender Blick von Horst stoppte die Lobeshymne. »Ja und – wie weiter? Woher wollen Sie denn wissen, ob ich auch wirklich ich bin?«

Wieder lächelte der Zeitungsmann milde. »Das war dann gar nicht mehr so schwer. Ich habe ja in der Zwischenzeit herausgekriegt, dass ein Kommissar aus Ulm den Notruf abgesetzt hat, als Sie beim Tauchen verunglückt sind …«

»Mein lieber Schwan!«, murmelte Protnik. Es war immer dasselbe mit den Zeitungsleuten. Die hatten Informationen, die ihnen nur direkt von der Polizei gesteckt worden sein konnten, aber wenn man im Kreis der lieben Kollegen herumfragte, war es natürlich nie einer gewesen! Im Gegenteil, meist erntete der Frager dann auch noch einen empörten Blick und eine beleidigte Miene.

»Na ja«, Horst wartete gespannt auf den letzten Rest der Schlussfolgerung, »dann stand da seit ungefähr zwei Stunden auf dem Parkplatz ein Auto – das einzige übrigens – mit Ulmer Kennzeichen! Und nachdem die drei Polizeikollegen von Ihnen wieder abgefahren sind, hab ich mir halt gedacht: Wartest du noch ein Weilchen, dann wird ja vielleicht der Kommissar aus Ulm an seinen Wagen zurückkommen und mir vielleicht ein paar Fragen beantworten.« Der Super-Rechercheur lächelte verlegen. »Na ja, und dann sind Sie beide gleich zusammen herausgekommen.« Er deutete auf Horst: »Und als ich Sie gesehen habe – ein bisschen klapperig halt noch –, da hab ich kombiniert, dass Sie es sein könnten! Bingo! Nicht wahr?« Wieder zog sich ein breites Grinsen über das Vollmondgesicht des Zeitungsredakteurs.

»Klar, dass es sich bei mir um mich selbst handeln muss!« Horst war wütend, weil er nicht die mindeste Lust verspürte, ausgerechnet jetzt noch irgendwelche Statements für die Zeitung abzugeben. »Und – was jetzt?«

»Na ja«, der Zeitungsmann fingerte eine Visitenkarte aus seiner Gesäßtasche. »Hier ist übrigens meine Karte! Bitte schön! Jetzt hab ich mir gedacht, Sie könnten mir doch ein paar Fragen für meinen Artikel beantworten!«

Horst nahm die Visitenkarte und warf einen mürrischen Blick darauf. »Alex Winter, freier Journalist, Seekurier« stand da zu lesen. »Aha – und dann auch noch ein Freier!«, das waren seiner Meinung nach die schlimmsten, denn die arbeiteten auf Honorarbasis. Und Honorar gab es ja bekanntlich erst, wenn der Artikel abgedruckt wurde, was natürlich nur dann geschah, wenn er dem zuständigen Redakteur an seinem Schreibtisch auch interessant genug erschien. Und deshalb unternahmen die Freien alles, um die Artikel so interessant wie möglich aussehen zu lassen! Oft genug hatte Horst zu seinem Leidwesen erfahren müssen, wie geduldig Papier doch war und mit wie viel Fantasie so mancher Schreiber eine an sich ganz und gar trockene Materie aufgepeppt hatte. Seine Begeisterung über die unerwartete Begegnung hielt sich demnach in engsten Grenzen.

»Na ja«, der Reporter zuckte die Achseln. »Sie wissen ja, wie das heute so ist! Grade die kleinen Verlage sparen, wo sie nur können: leider vor allen Dingen an den Mitarbeitern! Und wenn sie einen als Freien beschäftigen, dann fallen für sie keine Sozialkosten an, man hat keinen Kündigungsschutz, ist also pflegeleichter, geht auf jeden Termin, selbst noch nachts um zwölf, bei Wind und Wetter, und so weiter und so weiter …« Energisch zückte er nun den Kugelschreiber, den er am Kragen seines T-Shirts festgemacht hatte, und kramte ein zerknittertes Stück Papier hervor. »Also dann, Herr Meyer – so heißen Sie doch?« Dabei warf er einen forschenden Blick in den Wagen.

Der wusste ja alles! Also das musste man dem Kerl lassen: informiert war der, Donnerwetter. Horst nickte schicksalsergeben. »Aber wenn Sie ja sowieso schon alles wissen, was wollen Sie mich dann eigentlich noch fragen?«

Winter lächelte leise. »Zum Beispiel, was Sie von der Tatsache halten, dass Ihr Kollege Selbstmord begangen und damit beinahe auch Sie mit umgebracht hätte!«

Protnik zog scharf die Luft ein. Horst glaubte, nicht richtig gehört zu haben! »Was haben Sie da gesagt? Selbstmord? Wie kommen Sie denn auf den Blödsinn?!«, polterte er los.

Der Journalist blieb gelassen. »Na ja, wo doch Ihre Kollegen da ganz eindeutig zu dem Schluss gekommen sind …«

Horst schnaubte wütend. »Die Kollegen, dass ich nicht lache! Die wollen doch nur so schnell wie möglich den Deckel auf die Kiste machen und Ruhe im Karton haben!«

Forschend beugte sich Winter herunter. »Und Sie nicht?«

Bevor Horst antworten konnte, erhielt er einen neuerlichen Hieb in die Seite. Protnik ergriff nun die Initiative. »Nein, wir nicht! Aber jetzt ist wirklich erst mal genug, Sie sehen doch, dass mein Kollege absolut noch nicht die Kraft hat, in ein Kreuzverhör genommen zu werden! Schluss für heute!« Entschlossen drehte er den Zündschlüssel und startete den Wagen. Horst atmete tief durch. Protnik hatte recht, er fühlte sich mit einem Mal wieder hundeelend und schlapp wie ein Waschlappen an der Wäscheleine. Es reichte für heute wirklich!

Winter sah seine Felle ganz offensichtlich davonschwimmen. Er streckte den linken Arm durch das geöffnete Fenster auf der Beifahrertür und spreizte die Finger weit ab. »Einen Moment noch – bitte!«

Protnik musterte ihn finster, löste aber die Handbremse nicht. »Also – was ist noch?«

»Ich habe Thomas Grundler ganz gut gekannt. Wir haben sogar im einen oder anderen Fall bestens zusammengearbeitet und ein bisschen Ping-Pong gespielt. Er hat mir in Fällen, in denen er intern nicht weitergekommen ist, die eine oder andere Sache gesteckt, und dann, wenn ich sie öffentlich gemacht habe, dann war der Teufel los und Thomas konnte zuschlagen. Sie haben ihn zwar immer wieder in Verdacht gehabt, dass er die undichte Stelle war, aber beweisen haben sie es ihm nie können!« Die Worte sprudelten nur so aus dem Mund des Journalisten heraus.

Horst versetzte Protnik einen Stoß mit dem Ellbogen und deutete anschließend auf den Anlasser. Protnik verstand sofort, machte den Motor wieder aus.

Winter war noch nicht fertig. »Ja, und ich weiß ganz genau, dass er diesesmal wieder an so einer Sache dran war, an einer riesigen Umweltsauerei! Doch, das stimmt, dafür lege ich meine Hand ins Feuer«, schob er nach, als er die überraschten Blicke der beiden Kollegen bemerkte.

»Wir waren wirklich gute Bekannte und haben einander vertraut, das können Sie mir glauben. Er hat mir sogar gesagt, dass er diese Woche an der »Jura« tauchen würde, weil ein guter Freund von ihm ein paar Tage Urlaub hier am Bodensee machen würde. Das alles habe ich gewusst. Ich habe auch mitbekommen, dass ihn diese neue Geschichte furchtbar geschlaucht hat! Aber jedes Mal, wenn ich versucht habe, etwas aus ihm herauszukriegen, hat er zugemacht und gemeint, diesmal müsse er aufpassen wie ein Luchs. Und er wolle mich nicht in ein Ding hinein­ziehen, das plötzlich hochgehen könne wie eine Rakete!

Nur – «, sorgenvoll hob er die Augenbrauen, »was es war, das hat er mir nicht verraten. Ich weiß nur so viel, dass es um irgendwelche Schweinereien in verschiedenen Baggerseen ging. Und dass da die ganze Prominenz die Finger mit drin hatte. Vermutlich ist da auch die Kiesmafia mit im Spiel und die ist ja bekanntermaßen brandgefährlich und verfügt über die besten Verbindungen in der Kreis- und Landespolitik. Er hat nicht mal mehr in der Polizeidirektion irgend jemandem getraut. Und eben deshalb«, er hieb mit der flachen Hand auf den Fensterrahmen, »deshalb glaube ich nie und nimmer, dass Ihr Kollege Thomas Grundler Selbstmord begangen hat!« Damit richtete er sich wieder auf und starrte in die Ferne.

Überrascht sahen sich Protnik und Horst in die Augen. Das hätten sie hinter Alex Winter nicht vermutet! Es war offensichtlich, dass der nicht Versteck mit ihnen spielte. Auch er war so, wie es aussah, an einer sauberen Aufklärung des mysteriösen Unfalls interessiert und würde mit Sicherheit auch auf eigene Faust weiter recherchieren, wenn sie es nicht gemeinsam taten.

»Puhh!« Horst stöhnte vernehmlich. »Ich glaube Ihnen, ehrlich! Aber jetzt weiß ich so langsam überhaupt nicht mehr, woran ich eigentlich bin. Das wird ja alles immer mysteriöser!«

Winter nickte. »Ich sag’s ja: da ist eine Riesenschweinerei im Gange!«

»Und wie, glauben Sie, können wir an die Fakten kommen?« Protnik hatte sich interessiert in Richtung Beifahrertür gebeugt.

Ein bitterer Zug spielte um Winters Mundwinkel. »Wenn ich das nur schon wüsste! Glauben Sie mir, ich hätte die Strippenzieher dann schon längst öffentlich an die Wand genagelt! Aber ich glaube, alleine komme ich da nie auf den Punkt – auch wenn ich alle Register ziehe, die ich ziehen kann! Trotzdem: zu dritt hätten wir mehr Chancen!«

Horst nickte. »Okay, überredet. Aber glauben Sie mir, wenn ich jetzt nicht ein paar Stunden abschalten kann, dann klappe ich zusammen! Mir schwirrt der Kopf wie ein Wespennest – ich muss jetzt erst mal mit mir und meinen Gedanken ins Reine kommen. Lassen Sie uns einfach 24 Stunden Zeit, und dann treffen wir uns und besprechen, wie es weitergehen kann! Dann hat sich jeder in der Zwischenzeit vielleicht eine Strategie überlegen können. Schließlich besteht ja kein Grund zur Hektik, denn lebendig machen können wir Thomas ja sowieso nicht mehr«, setzte er bitter hinzu.

Winter war einverstanden. »Sie haben recht! Machen wir’s so! Und wo treffen wir uns dann am besten?« Er überlegte einen kurzen Augenblick lang. »Wie wäre es beispielsweise mit dem Aussichtsturm Hohenbodmann bei Owingen, da sind wir mit Sicherheit ganz ungestört und haben gleich noch eine wunderschöne Sicht auf das ganze Hinterland. Bringt ja vielleicht auch was! Kennen Sie den Turm?«

Horst nickte.

»Also – was halten Sie von morgen Mittag, sagen wir 13 Uhr?«

Horst überlegte kurz: Wenn sie um 13 Uhr zusammenkamen, dann müssten sie mit dem Wesentlichen schätzungsweise in einer Stunde durch sein. Dann würde es für ihn noch reichen, um 14.30 Uhr Claudia wie versprochen vom Bahnhof in Überlingen abzuholen. Und notfalls konnte er dann ja noch mal zu ihrem Treffen zurückfahren. »Abgemacht! Morgen um 13 Uhr am Aussichtsturm bei Owingen!« Er streckte den Arm durch das Fenster und besiegelte die Abmachung mit einem kräftigen Händedruck. »Alles klar, also dann bis morgen! Aber bitte: Unternehmen Sie bis dahin nichts auf eigene Faust! Die Sache ist – wenn wir mit unseren Vermutungen richtigliegen – viel zu heikel, als dass man sich überstürzt irgendeiner Gefahr aussetzen sollte! Versprochen?«

 

Winter nickte zustimmend. »Versprochen! Also dann, bis morgen!« Damit drehte er sich um und schwang sich auf sein am Rand des Parkplatzes abgestelltes Fahrrad.

Horst schloss für einen Moment die Augen und drückte sich kräftig mit dem Rücken gegen die Lehne des Beifahrersitzes. »So, Michael – und jetzt aber Vollgas! Jetzt brauch ich wirklich erst mal ein paar Stunden Ruhe! Weißt du was?« Mit dieser Frage drehte er sich zu Protnik hinü­ber. »Der Wohnwagen ist mir jetzt viel zu unbequem – ich habe da eine viel bessere Idee!«

»Und die wäre?«

»Ich fahr mit dir zurück auf den Wildenstein – so weit ist das schließlich nicht, da kann ich dann wenigstens richtig abschalten. Und morgen Mittag sind wir ja sowieso wieder zusammen. Was hältst du von meinem Vorschlag?« Neugierig schaute er Protnik in die Augen.

»Wäre so oder so gar nicht anders gegangen«, brummelte der. »Glaubst du etwa, ich hätte dich heute Nacht allein in dieser verrosteten Schüssel übernachten lassen – in deinem Zustand? Von wegen! Also dann: auf zum Wildenstein!« Damit drückte er kräftig auf das Gaspedal.

»Ehrlich gesagt, ich freu mich richtig darauf, mal wieder dort oben zu sein! Dann trinken wir zusammen in der Burgschenke noch ein Viertele und fügen die Fakten, die wir bisher haben, noch einmal ganz genau zusammen. Ich bin ja gespannt, ob der Winter bis morgen nicht doch noch irgendetwas Überraschendes anschleppt!«

Was am nächsten Tag auf sie zukommen würde, konnte noch keiner ahnen …

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