Tatort Bodensee

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

»Na, da schau an!« Horst nickte anerkennend. »Das erste Positive, das ich heute erlebe! Das nenne ich Service!« Er ergriff sein Glas und hielt es prüfend vor die Augen. »Schöne Farbe!«

»Also dann, auf unser Wohl! Prost!« Protnik konnte es wieder mal kaum erwarten.

Claudia hatte gerade das Glas genießerisch an die Nase gehalten. »Und der Duft! Also, das muss man den Italienern lassen, dieses Aroma da …«

Horst schwor noch Wochen später, dass er die nun folgende urplötzliche Veränderung in Claudias Miene und die darauf folgenden, sich überstürzenden Ereignisse sein Leben lang nicht mehr vergessen würde!

Wie ein Blitz huschte da mit einem Mal ein Schatten über das Gesicht von Claudia und mit von Panik ergriffenem Blick huschten ihre Augen von einem zum anderen. Ein Aufschrei: »Protnik!«, ein splitterndes Geräusch, als sie ihr Glas fallen ließ, eine kurze heftige Bewegung ihres linken Armes und schon flog Protniks Glas in hohem Bogen durch die Luft! Es zerschellte knappe zwei Meter von ihnen entfernt auf der Promenade in tausend Scherben, während sein Inhalt sich über den Boden verteilte und dort allmählich versickerte. Claudia hatte Protnik das Glas gerade in dem Moment aus der Hand geschlagen, als er es an seine Lippen gesetzt hatte.

Doch es blieb keine Zeit, sich über Claudias seltsames Benehmen zu wundern. Ein neuerlicher Aufschrei: »Horst!« Er bemerkte die Panik, die sie ergriffen hatte. »Horst! Stell das Glas hin!« Noch immer ratlos blickte er sie an. »Du sollst das Glas hinstellen!« Ihre Stimme schien sich zu überschlagen! Langsam stellte er das Glas auf dem Tisch vor sich ab, während die Gäste um sie herum ängstlich herüberschauten. War die Frau da am Nebentisch denn urplötzlich verrückt geworden? Was um alles in der Welt spielte sich da vor ihnen ab? War es etwa gefährlich?

Doch Horst blieb keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Gerade als er den Blick von seinem Glas hob, um Claudia in die Augen zu schauen, bemerkte er hinter ihr eine Bewegung aus Richtung der Eisdiele. Nur Se­kun­den­bruch­teile lang trafen sich ihre Augen, aber beide hatten sofort verstanden! Ja, das war er! Horst traf die Erkenntnis wie ein Schlag direkt auf das Brustbein! Er war es, daran gab es keinen Zweifel! Wie von der Tarantel gestochen sprang er auf, sodass der Plastikstuhl, auf dem er gesessen hatte, wie von einer Windböe weggeblasen, nach hinten umkippte. Hysterisches Kreischen drang an sein Ohr, doch er nahm nur am Rande wahr, dass die ersten Gäste nun angesichts des Wirrwarrs aus zer­split­tern­den Gläsern, lauten Rufen und umkippenden Stühlen anscheinend einen Anschlag, ein Attentat oder sonst etwas Schlimmes vermuteten, was ihre überreizten Gehirne jeden Tag in den Fernsehnachrichten aus allen Teilen der Welt vorgesetzt bekamen. Horst stieß bei seinem Spurt in Richtung Eisdiele mit dem Mädchen zusammen, das sie gerade eben noch bedient hatte. Sie fiel zu Boden, doch er hatte keine Zeit, sich um sie zu kümmern. Er musste das Gesicht verfolgen, das er dort drinnen gerade kurz gesehen hatte!

Aber wo war der Kerl? Als sich Horsts Augen an die Dunkelheit der Eisdiele gewöhnt hatten, sah er sich blinzelnd und voller Hektik um. Da war niemand, bis auf den verschüchterten Barkeeper, der sich hinter dem Tresen in Sicherheit gebracht hatte. Dort! Dort war die einzige Tür in dem kleinen Raum, dort hinaus musste er geflohen sein. Horst riss die Tür auf, die in einen langen schmalen Gang führte. Am anderen Ende sah er gerade noch eine Gestalt durch den Hauseingang verschwinden. Das musste er sein! Ihm nach! In der Hektik rammte er sich den Türgriff in den Bauch, Schmerz durchzuckte ihn, doch er konnte ihm jetzt nicht nachgeben, wenn er noch eine Chance haben wollte, den anderen einzuholen. Er stieß einen derben Fluch aus und preschte durch den Flur.

In diesem Moment heulte ein Motor auf und ein deutlich angerosteter weißer Golf GTI schoss mit quietschenden Reifen an Horst vorbei. Das war er! Mist! Zu spät! Den würde er nicht mehr einholen! Das Auto der Meyers war weit weg auf dem Parkplatz in der Oberstadt abgestellt! Mist, verdammter! Fast hätte er den Mann erwischt, von dem er fünf Minuten vorher noch erzählt hatte, dass er dessen Gesicht nie mehr vergessen würde: das Gesicht des Amokfahrers von der Heiligenberger Steige!!!

27

Deprimiert machte Horst kehrt und trottete durch den Gang zurück zur Eisdiele. Dabei warf er einen prüfenden Blick auf den verlegen hinter seinem Tresen kauernden Barkeeper, der mit vorgeblich gespannter Aufmerksamkeit die Szene draußen an der Promenade verfolgte. Als Horst vor dem kleinen dunkelhaarigen Italiener verharrte, drehte der sich langsam in Richtung des Kommissars, hatte die Augen jedoch fest auf den Boden geheftet. Langsam schaute er auf und zuckte dann entschuldigend mit den Schultern. Der würde keine Silbe verlauten lassen, der würde von nichts auch nur die Spur einer Ahnung haben, dessen war sich Horst sicher. Jede wie auch immer geartete Befragung war also vergebliche Liebesmüh! Warum dann mit so etwas seine Zeit verschwenden?! Er atmete tief durch und kehrte anschließend zu den beiden anderen auf die Promenade zurück.

Dort hatte sich das Aufsehen in der Zwischenzeit etwas gelegt – die Gäste an den Nachbartischen hatten die Köpfe zusammengesteckt und tuschelten leise miteinander, wobei ab und an vielsagende Blicke in Richtung Protnik und Claudia geworfen wurden. Blass wie die Wand, aber ohne ein Wort zu sagen, kehrte die Kellnerin inzwischen auf dem Boden die Scherben der Gläser zusammen.

Horst ließ sich aufstöhnend auf seinen inzwischen wieder aufgestellten Plastikstuhl fallen. »Keine Chance! Der ist wie eine Rakete abgedüst! Da war nix zu machen!« Ärgerlich schüttelte er den Kopf, während ihm Claudia forschend ins Gesicht blickte.

»Wen meinst du denn eigentlich? Wen oder was hast du denn da gesehen?«

»Das war der Kerl, der uns gestern auf der Steige mit seinem Lieferwagen von der Straße drängen wollte. Da bin ich mir ganz sicher – hundertprozentig!«, schob er nach, um seine Aussage noch zusätzlich zu betonen. »Der muss es einfach gewesen sein. Denn kaum dass er bemerkt hat, dass ich ihn gesehen habe, ist der wie von der Tarantel gestochen auf und davon gespurtet! Da kann’s überhaupt keinen Irrtum geben!« Noch mal schüttelte er heftig den Kopf.

»Da wird ja der Hund in der Pfanne verrückt!« Protnik schien die Fassung zu verlieren. »So langsam glaube ich, wir sind hier eine Bananenrepublik! Das ist also bereits der dritte Anschlag auf uns – innerhalb von«, er stierte hektisch auf das Zifferblatt seiner Armbanduhr, »von grade mal 29 Stunden! Unglaublich!«

»Der dritte …« Horst atmete tief durch und ließ ein paar Sekunden verstreichen, um die in ihm aufsteigende Panik herunterzuschlucken. Dann fixierte er Claudia durchdringend. »Heißt das also … war das da …«, er deutete mit dem Zeigefinger auf sein Glas – das einzige, das die letzten fünf Minuten überstanden hatte, »ist da also irgendetwas Gefährliches drin?«

Claudia nickte langsam und bedeutungsvoll. »Exakt! Und wie! Ich muss sagen, im ersten Moment war ich mir selbst nicht sicher! Aber im Studium haben wir ja auch während unserer Chemie-Schnellbleiche über Gifte geredet und das eine oder andere auch unter die Lupe genommen oder vielmehr an die Nase gehalten.« Sie machte eine kleine Pause, bevor sie weitersprach. »Ja, und nach dem, was in den letzten Tagen alles an unglaublichen Dingen passiert ist, war ich dann doch irgendwie sensibilisiert. Ich glaube nicht, dass ich rechtzeitig was gemerkt hätte, wenn ich eure Geschichte nicht vorher gekannt hätte!« Wieder hielt sie inne.

Horst wurde ungeduldig, er spürte, wie seine Nerven allmählich zu vibrieren begannen. Nein, er wollte es jetzt schnell hinter sich bringen und dann von diesem Albtraum am liebsten nichts mehr wissen, nur noch fort, ganz weit fort, ganz weit weg. Aber erst einmal brauchte er die Gewissheit. »Also Gift? Ja? Komm, sag schon!« Damit beugte er sich nach vorne und trommelte herausfordernd mit den Fingern auf die Tischplatte.

»Eindeutig Gift! Hundertprozentig! Das ist auch so ein Zufall, dass ich das wieder aus dem Gedächtnis habe hochziehen können. Unser Chemieprofessor nämlich, der war ein echter Giftzahn! Dem hat es ein tierisches Vergnügen bereitet, uns als angehende Ärzte auf Möglichkeiten hinzuweisen, wie man einem Menschen schnell und perfekt mit Hilfe der Chemie den Garaus machen kann! Und so sind wir auch auf das Thema Zyankali gekommen!«

»Zyankali!« Horst spürte, wie sein Herzschlag ein, zwei Sekunden lang aussetzte! Eine heiße Woge schoss durch seinen Körper. »Aber das ist ja unglaublich!«

Claudia nickte: »Ist es! Und übrigens war die Geschichte auch ganz schön raffiniert eingefädelt. Ohne chemische Grundkenntnisse hast du in diesem Fall keine Chance!«

»Und warum? Komm, sag schon, mach’s nicht so spannend!«

»Ganz einfach! Die haben das Zeug in Zitronensaft geträufelt! Und unser Professor damals hat erklärt, das sei die ultimative Methode: Zyankali zusammen mit Säure zu verabreichen, da bist du ein Engel im Himmel, bevor du den Saft richtig geschluckt hast! Das erhöht die Wirkung von Zyankali um das x-fache! Und vor allem: Es wirkt dadurch rasend schnell!«

Betroffen blickten sie sich an! Claudia nahm Horsts Glas in die Hand und führte es an die Nase. »Wisst ihr, genau das ist die Raffinesse dabei! Ich habe zwar einen Mandelgeruch mitbekommen, das war irgendwie so wie Amaretto, aber dann eben doch nicht! Ich hätte es jetzt um ein Haar probiert, um dem Geschmack auf die Fährte zu kommen! Tja«, Tränen schossen ihr in die Augen, »und das wäre dann eben schon viel zu viel gewesen, bei dieser teuflischen Kombination! Gott sei Dank ist mir im letzten Moment die ganze Mordgeschichte durch den Kopf geschossen und zeitgleich habe ich den Professor mit seiner Säure und dem Zyankali wieder vor mir stehen sehen!« Die Tränen liefen ihr nun die Wangen herunter, aber sie schien sie nicht zu bemerken. Sie wandte sich Protnik zu. »Und deshalb, Michael, habe ich dir dann einfach das Glas aus der Hand geschlagen …«

 

» … und mir damit das Leben gerettet!«, ergänzte Prot­nik und schaute düster in die Runde. »Unglaublich!«

»Und du bist dir ganz sicher, dass wir da drin«, Horst deutete auf das Glas, das Claudia wieder auf den Tisch gestellt hatte, »Zyankali finden?«

Claudia nickte heftig, während sie nun ein Taschentuch aus ihrer Handtasche kramte, um die Tränen abzutrocknen. »Hundertprozentig!«

»Ja, ist denn das so leicht, an dieses Zeug zu kommen?« Auch Protnik konnte es kaum fassen. »Das kann doch nicht sein!«

Claudia widersprach. »Ist aber so! Das Zeug kriegst du in jedem Labor, denn schließlich wird es ja für Analysen verwendet und ist ständig in Anwendung – auch in der Metallbearbeitung, also in der Industrie. Das sagt doch schon fast alles. Da musst du in der Uni nur einen weißen Kittel anziehen, zur Chemikalienausgabe gehen und sagen, du kommst von dem und dem Institut und holst im Auftrag vom Dr. Sowieso ein bisschen Gift! Also kommt da praktisch jeder mittelprächtige Chemiestudent ran! Und weil man davon ja nur eine winzige Menge braucht, um jemanden über den Jordan zu schicken, fällt es auch praktisch überhaupt nicht auf – zumindest lange nicht –, wenn da etwas davon verschwindet! Neulich hab ich’s zufällig gesehen, als ich im Katalog von einem Chemi­kaliengroß­handel geblättert habe: Natriumcyanid – so heißt das Zeug –, 25 Gramm für, glaube ich, grade mal 33 Mark! Und mit der Menge kannst du mehr als nur eine Fußballmannschaft um die Ecke bringen! So ist das nämlich!«

Horst überlegte laut. »Also dann sollten wir jetzt die Kollegen verständigen und den Inhalt des Glases analysieren lassen, oder? Und dann rücken wir den Herrschaften Hefter und Co. wieder auf den Pelz!«

Protnik reagierte prompt. Er hob warnend die Hand und spreizte die Finger auseinander. »Bloß nicht! Weder das eine noch das andere!«

Verwundert musterte ihn Horst. »Und wieso nicht?«

»Ganz einfach deshalb, weil solch eine Aktion nicht den Hauch einer Chance hat, zum Erfolg zu führen! Überleg doch mal! Es fängt ja – leider – schon beim Labor an: Dein Freund Thomas hat in dieser Hinsicht nicht mal den eigenen Kollegen mehr getraut …«

»Ja, leider!«

»Eben! Also die Analysegeschichte können wir uns schon mal abschminken. Aber selbst wenn wir die durchführen würden, was hätten wir dann gewonnen? Nichts, außer der Erkenntnis, dass uns jemand vergiften wollte!« Er sah Horst forschend ins Gesicht. »Aber wieso soll das denn ausgerechnet der liebe Herr Dr. Hefter gewesen sein? Ein skandalöser Verdacht gegen einen unbescholtenen Bürger sei das, werden sie sagen und dich danach ans Kreuz nageln! Das kannst du mir glauben!« Damit lehnte er sich zurück, atmete tief durch und verschränkte die Arme.

Auch Claudia pflichtete Protnik bei. »Sehe ich genauso! Aber ich werde das Glas auf jeden Fall mitnehmen und sobald wir wieder in Heilbronn sind, eine Untersuchung machen lassen! Das Ergebnis kann ich zwar jetzt schon sagen – habe ich ja eigentlich auch schon –, aber dennoch: Dann wissen wir’s hundertprozentig sicher, auch wenn es uns wenig nützen wird, denn das Zyankali kann uns schließlich nicht sagen, wer es da hineingetan hat«, fügte sie bitter hinzu.

Widerstrebend musste Horst den beiden anderen recht geben. Ernst musterte er erst Claudia, dann Protnik. »Das heißt dann aber auch: Ende der Fahnenstange! Sehe ich das richtig? Denn wenn wir den Giftanschlag überhaupt nachweisen können, dann werden wir nicht belegen können, von wem und warum! Denn die da drüben«, er machte eine Kopfbewegung in Richtung Eisdiele, »die werden ja sicher von nichts eine Ahnung haben!«

Protnik hieb mit der flachen Hand auf den Tisch, dass das Glas vor ihnen hüpfte: »Nein! Das kann nicht sein! Ich will das nicht! Wir sind nun mal keine Bananenrepublik! Macht, was ihr wollt – ich jedenfalls rufe jetzt die Kollegen an!«

Verwundert registrierte Horst die Wandlung, die blitzschnell in seinem Freund vorgegangen war, dann nickte er: »Also gut, Michael! Man sollte den Dingen ja wirklich nicht nur ihren Lauf lassen und ohnmächtig zusehen, was nicht passieren wird! Wenigstens den Hauch einer Chance haben wir – und vielleicht kriegen wir das Schwein ja zu fassen, das uns um die Ecke bringen wollte!«

» … wenn der nicht schon längst über der Grenze ist!«, gab Claudia zu bedenken.

»Auch egal! Aber wir versuchen, was möglich ist! Ja, hallo, Vermittlung?« Protnik hatte in der Zwischenzeit sein Handy aktiviert. »Ja, verbinden Sie mich bitte mit der Polizeidirektion in Friedrichshafen!«

»Immerhin nicht Konstanz diesmal«, murmelte Horst. »Vielleicht tut sich dann ausnahmsweise doch was!«

Wenig später wimmelte es vor der Eisdiele an der Meersburger Promenade nur so von Polizisten …

28

»Also haben wir uns verstanden? Diese Geschichte passiert uns so kein zweites Mal! Versprochen?« Streng musterte der Polizeioberrat den vor ihm stehenden Kriminalkommissar.

Zerknirscht presste der Polizeibeamte ein leises »Ja, verstanden!« zwischen den Zähnen hervor.

»Gut«, der Chef nickte zufrieden. »Dann will ich mal Gnade vor Recht ergehen lassen und auf den geplanten Eintrag in Ihre Personalakte verzichten!« Er blinzelte dem Delinquenten aufmunternd zu. »Außerdem habe ich den Ströbel noch nie leiden können, der will nämlich mit Teu­fels­gewalt – im wahrsten Sinn des Wortes – Karriere machen, im Innenministerium. Und deshalb steckt er auch mit dem Landrat von dort zusammen, der wiederum demnächst den bisherigen Innenminister beerben will! So ist das nämlich!«

Überrascht blickte Horst auf. »Ach, deshalb von Anfang an so ein Theater! Und gleich mit dem LKA ankommen und der Landrat, der sofort über alles informiert war! Ist das wieder mal über die Parteischiene gelaufen?« Jetzt wagte Horst, diese Frage zu stellen, nachdem der Chef ihm praktisch den Fingerzeig gegeben hatte. Horst war sich nun auch darüber im Klaren, dass die Abreibung, die ihm für den heutigen Morgen in der Heilbronner Polizeidirektion angekündigt worden war, nur einen formalen Akt darstellte, den Alfred Steiner, der Chef der PD, vollzog, um die Hyänen im LKA und im Innenministerium zufriedenzustellen. In Wirklichkeit aber dachte er genauso wie sein Untergebener, der Kriminalkommissar Horst Meyer von der Heilbronner Mordkommission.

Steiner nickte. »Leider ja! Wieder mal das übliche Spiel! Und ich hatte nur eine Chance, Sie ahnungslose Figur zusammen mit ihrem Freund und Kollegen wieder aus dem Feuer herauszuholen: und zwar indem wir Sie so schnell wie möglich zurückbeordert haben! Ich sage Ihnen, noch einen Tag länger dort unten, und Sie hätten sich eine ganze Wagenladung Brandsalbe für ihre Wunden kaufen müssen, so sehr hätten Sie sich die Finger verbrannt!« Steiner legte ihm jovial die Hand auf die Schulter und fixierte ihn: »Also, alles wieder in Ordnung? Sie verstehen jetzt meine Position?«

Horst nickte stumm.

»Gut! Und für Ihren Kollegen will ich auch noch mal ein Wort einlegen – falls mir nicht Ihr spezieller Freund, der Unterhauser, zuvorgekommen ist!« Ein Lächeln spielte um die Mundwinkel des Oberrats.

Horst stöhnte auf. Unterhauser! Sein Intimfeind und früherer Chef der Polizeidirektion Ulm, der er nicht zuletzt wegen diesem den Rücken gekehrt hatte. Unterhauser trieb seit einiger Zeit sein parteipolitisches Unwesen beim LKA in Stuttgart und sorgte dafür, dass die Beamten nicht mehr in erster Linie nach Qualifikation, sondern vor allem nach Parteibuch ins Landeskriminalamt berufen wurden. »Was hat der denn wieder mitzumischen?«

»Sie wissen doch, der Herr Unterhauser ist überall – überall dort, wo es gilt, die Parteifreunde aus der Schuss­linie zu hieven, und dafür ist ihm auch jedes Mittel recht!« Steiner breitete die Karten in ungewohnter Offenheit vor Horst aus. Donnerwetter! Wie musste ihm also die ganze parteipolitische Mauschelei auf die Nerven gehen, wenn er so eindeutig vor Horst aus der Deckung ging! »Was glauben Sie, wie sehr in den letzten Tagen die Telefondrähte geglüht haben, zwischen Konstanz und Stuttgart! Das ist eine einzige Seilschaft: einer vom anderen abhängig! Und wenn einer fällt, dann fallen sie alle. Und deshalb fällt eben keiner! Schon gar nicht der Herr Dr. Hefter, der seine Finger bekanntlich überall drin hat – hauptsächlich in den Medien – und deshalb aber auch das Unschuldslamm persönlich spielt!« Mit einer unwirschen Handbewegung fegte Steiner imaginäre Staubkörnchen von seinem Schreibtisch. »So – und nun erzählen Sie mir noch mal aus Ihrer Warte, was eigentlich genau passiert ist, seit Sie in Meersburg die Kollegen alarmiert haben. Ich würde das gerne mal – ganz ungefiltert – von Ihnen selbst erfahren!«

Horst fiel ein Stein vom Herzen. Er spürte, dass dies keine Finte war. Hier hatte er endlich einen Verbündeten gefunden, dem er tatsächlich die Sache so schildern konnte, wie sie sich zugetragen hatte. Und vielleicht konnte einem Steiner ja aufgrund seiner langjährigen Erfahrung und vielen Verbindungen einen Tipp geben, wie es jetzt noch weitergehen konnte. Denn aufgeben, darüber war er sich mit Protnik einig gewesen, aufgeben kam auf gar keinen Fall in Frage.

Horst atmete noch einmal tief durch und erzählte Steiner dann den Rest der Geschichte. Nachdem das Polizeilabor in Friedrichshafen den eindeutigen Nachweis hatte erbringen können, dass es sich bei dem mandelartigen Zusatz in den Getränken tatsächlich um Zyankali gehandelt hatte, überstürzten sich die Ereignisse.

Eine zweite Hausdurchsuchung beim Kiesbaron fand daraufhin statt, nur dass der Durchsuchungsbefehl doch etwas länger auf sich warten ließ als beim ersten Mal. Es war halt nun die Polizeidirektion in Friedrichshafen zuständig, und auch der zuständige Staatsanwalt hatte sich den Fall erst haarklein schildern lassen, bevor er sein Okay für die Durchsuchung gab.

Anhand des Bildes von der Jubiläumsfeier hatte Horst den »Schnauzbart« eindeutig als denselben identifiziert, der sie bei der Fahrt von der Heiligenberger Steige in Lebensgefahr gebracht und auch beim gescheiterten Giftanschlag in der Meersburger Eisdiele mitgemischt hatte. Hefter, dessen anfangs wie immer freundlich lächelndes und angeblich so kooperatives Maskengesicht sich im Lauf der Durchsuchung allmählich in eine finstere Verweigerungshaltung verwandelt hatte, war natürlich außerstande, den Mann auf dem Foto zu identifizieren. Das könne nur der Geschäftsführer oder einer der Angestellten, aber heute (es war früher Sonntagmorgen, als sie in Gottmadingen eintrafen) um diese Uhrzeit sei natürlich keiner von denen anwesend. Und er selber? Du meine Güte, was glaubten sie eigentlich, wie viele Firmen zu seinem Imperium gehörten, mit wer weiß wie vielen Mitarbeitern?! Hauptsächlich im Nie­drig­lohn­segment, also bei den Fahrern der Müllautos, sei die Fluktuation enorm: Da könne man sich einfach nicht jedes Gesicht merken und schon gleich gar nicht auch noch jeden Namen dazu. Und außerdem: Wozu habe man schließ­lich einen Geschäftsführer, der im Übrigen seiner Firma die ganze Malaise eingebrockt habe. Er, Hefter, habe von den gesamten Schweinereien, also von dem zu tief ausgegrabenen Baggersee wie von der Geschichte mit den illegal im See entsorgten radioaktiven Abfällen doch gar keine Ahnung gehabt. Deshalb habe man, wie gesagt, schließlich einen Geschäftsführer …

Den Geschäftsführer habe er noch am Tag der Entdeckung der Umweltstraftaten fristlos gefeuert, allerdings sei es ihm nicht möglich gewesen, dem Übeltäter die Kündigung höchstpersönlich zu überbringen, denn seitdem sei der Mann spurlos verschwunden! Und jetzt bleibe der ganze Ärger also an ihm, Hefter, kleben, der doch von nichts jemals gewusst habe, was er auch glaubhaft belegen könne. Wenn da nur nicht die – in Teilen zumindest noch – übelgesonnene Presse wäre … Aber wozu habe man andererseits gute Freunde wie den Konstanzer Polizeidirektor oder den Landrat; die hätten schon der Staatsanwaltschaft gegenüber mehr als deutlich dargelegt, wo der Hund in Wirklichkeit begraben liege …

Der Geschäftsführer auf der Flucht, kein Angestellter anwesend, den man hätte befragen können! Die Beamten der Kripo Friedrichshafen hatten daraufhin das Jubiläumsbild mitgenommen und es in die Meersburger Eisdiele gebracht, wo nach anfänglichem Leugnen schließlich die Wahrheit ans Licht kam: Bei dem Müllwagenfahrer handelte es sich um einen Italiener namens Giuseppe Voltera, seit drei Jahren in Deutschland und – interessanterweise – schon einmal wegen gefährlicher Körperverletzung zu zehn Monaten auf Bewährung verurteilt. Vorsatz hatte man ihm damals nicht nachweisen können, doch die Urteilsbegründung hatte von schwerwiegenden Zweifeln an der Version des Angeklagten gesprochen, der einen Fußgänger mit seinem Auto auf dem Gehweg überfahren und schwer verletzt hatte. Doch der Fußgänger selbst hatte – weshalb auch immer – bei seiner Aussage vor Gericht plötzlich seine früher vorgebrachten Anschuldigungen nicht mehr wiederholen können oder wollen, worauf dem Richter nichts anderes übrig geblieben war, als im Zweifel für den Angeklagten und gegen den Antrag der Staatsanwaltschaft lediglich gefährliche Körperverletzung (aber ohne Vorsatz) zu erkennen.

 

Dieser Voltera sei – so sagte der sichtlich um seine Existenz und sein Leben fürchtende Besitzer der Eisdiele aus – ein entfernter Verwandter, der ab und an in der Hochsaison an Wochenenden vorbeikomme und ihnen im Eiscafé aushelfe. So sei das auch an diesem Samstag gewesen, doch kein Mensch habe natürlich ahnen können, dass da ein Verbrechen vorbereitet worden und ausgerechnet der Vetter aus Catania zu solch einer Tat fähig sei.

»Tja«, der Polizeioberrat rieb sich nachdenklich das Kinn. »Das wäre es dann wohl endgültig gewesen! Denn der Hefter hat viel zu gute Beziehungen, als dass da auch nur ein Fünkchen Verdacht auf ihm belassen werden könnte. Der hat das, ich muss das trotz allem schon so sagen, wirklich hervorragend eingefädelt und sein Netz aus Ein­flussnahme, Abhängigkeiten und Dreistigkeit derart eng gesponnen, dass wir ihm, denke ich, nie und nimmer nachweisen können, er habe irgendetwas mit der illegal im Baggersee versenkten Ladung zu tun. Das wird auf dem Geschäftsführer haften bleiben: Der war sicherlich gut beraten, rechtzeitig die Flucht zu ergreifen. Denn dem drohten einerseits entweder jahrelanges Gefängnis und vielleicht sogar eine Mordanklage, oder aber er würde von Hefter und seinen Komplizen um die Ecke gebracht werden, wenn das nicht sogar bereits geschehen ist!«

Horst pflichtete seinem Chef bei. »Sehe ich auch so. Wenn es tatsächlich Hefter ist, der hinter allem steckt, dann brauchen wir jetzt unbedingt den Geschäftsführer, der uns die nötigen Beweise liefert. Fraglich allerdings«, dabei kratzte er sich sorgenvoll an der Stirn, »ob wir selbst dann je beweisen können, dass Hefter hinter all den Aktionen persönlich steckt. Da steht dann maximal Aussage gegen Aussage, und immerhin ist die Unterschrift des Geschäftsführers – wie auch immer – unter den gerichtsrelevanten Akten zu finden und niemals die von Hefter. Schon unglaublich, wie er das eingefädelt hat!«

»Es hilft nur eins: Die Kollegen müssen den Italiener finden und gewaltig unter Druck setzen. Das ist die einzige Chance, noch an Hefter heranzukommen. Wenn der Italiener zugibt, dass Hefter sein Auftraggeber war, dann haben wir einen entscheidenden Trumpf in der Hand! Aber erst dann!«

Überrascht musterte Horst seinen Vorgesetzten. Der hatte tatsächlich von »wir« gesprochen, also hatte auch er den Fall mittlerweile zu seinem gemacht! Steiner hob bedeutungsvoll die Augenbrauen. »Schauen Sie mich nicht so an, als hätte ich ein Känguru verschluckt! Ja, ich finde schon, dass wir, die Polizei, jetzt gemeinsam im Boot sitzen und der Geschichte auf den Grund gehen müssen. Schließlich hat das alles in gewisser Weise auch mit der Ehre und dem Ruf der Polizei zu tun, und da ist in der letzten Woche schon viel zu viel passiert, was so im Grunde genommen bei einer seriösen Ermittlungsarbeit nie hätte passieren dürfen!«

»Allerdings!« Horst konnte da nur aus ganzem Herzen zustimmen. »Aber den Italiener zu kriegen, wird nicht einfach sein. Der ist sicher schon längst in Italien bei seinem Paten – falls er sich nicht inzwischen bereits die Radieschen von unten anguckt!«

»Dann wäre in der Tat alles aus. Es sei denn, der Geschäftsführer fasst sich doch noch ein Herz und meldet sich. Aber wie gesagt, was soll der letztendlich beweisen können …« Steiner richtete sich auf und gab Horst einen neuerlichen kumpelhaften Klaps auf den Rücken. »Aber wir geben die Hoffnung nicht auf, nicht wahr, Meyer? Und jetzt erst mal ans Heilbronner Routinegeschäft, Herr Hauptkommissar!« Mit einer Handbewegung deutete er an, dass, für den Augenblick wenigstens, die Sache vom Bodensee zu Ende erörtert war.

Weitere Bücher von diesem Autor