Die inneren Kräfte

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Die inneren Kräfte

Auszüge aus den Werken von

Sri Aurobindo und der Mutter

Zusammenstellung und Einführung

A.S. Dalal

SRI AUROBINDO ASHRAM

PONDICHERRY

BUCHAUSGABE Die inneren Kräfte Titel der englischen Ausgabe Powers Within Deutsche Übersetzung: Petra Ried Erste deutsche Ausgabe 2013 ISBN 978-81-7058-981-5

© SRI AUROBINDO ASHRAM TRUST

Verlag: Sri Aurobindo Ashram Publication Department

Pondicherry 605 002, Indien

Web http://www.sabda.in

Druck: Sri Aurobindo Ashram Press

Pondicherry, Indien

E-BOOK Die inneren Kräfte 2. Ausgabe 2021 ISBN 978-3-937701-37-0

© SRI AUROBINDO BHAVAN BERCHTESGADENER LAND 2021

Verlag: AURO MEDIA Verlag und Fachbuchhandel Wilfried Schuh

Berchtesgaden, Deutschland

Web http://www.auro.media

Herstellung: Sri Aurobindo Digital Edition

Berchtesgaden, Deutschland

InhaltTitelseiteCopyrightEINFÜHRUNG1. LATENTE KRÄFTE DES BEWUSSTSEINS2. DIE MACHT DER GEDANKENGedanken – lebendige und bewusste FormationenOkkultismus der GedankenDie Macht der Gedanken in der KommunikationDie vorgeburtliche Formung eines KindesDas Denken – ein Instrument des Wachstums3. VORSTELLUNGSKRAFTGedanken – lebendige und bewusste FormationenEin kraftvoller Weg der Selbstentdeckung4. KONZENTRATIONKonzentration – der HauptschlüsselZeit gewinnen durch Intensivieren der KonzentrationDie Kraft spiritueller KonzentrationDie Kraft der Konzentration in den drei Bewusstseins-Zentren5. WILLENSKRAFTDie Macht des bewussten Willens über den Körper6. VERTRAUENVertrauen und HeilungIntegrales VertrauenVertrauen und ZuversichtGlaube und VertrauenDas Vertrauen stärken7. DIE EINSTELLUNGAufrichtigkeitAusdauerHeiterkeitErwachtes BewusstseinSich erinnern – ein Mantra von InnenAuf das innere Gesetz hören8. YOGA-SHAKTI9. INNERE SEHNSUCHT UND GEBETMacht der spontanen Sehnsucht10. ANTWORTEN UND LÖSUNGEN11. DIE MACHT DER BEHERRSCHUNGSelbstbeherrschungAndere kontrollieren – die Macht der Meisterschaft12. DIE MACHT DER BEWEGUNGSLOSIGKEIT13. MACHT DER IDENTITÄTSeine Identifikation erweitern14. MACHT ÜBER KRANKHEIT UND SCHMERZ15. INNERE STILLE, INNERE RUHE, INNERER FRIEDE, INNERES SCHWEIGEN16. DER KÖRPERDie Selbstheilungskraft des Körpers„Leuchtender Körper“ – die Macht der Transformation17. DIE VITALE GEFÜHLSEBENE, DAS VITALE18. DER VERSTAND19. SUBLIMINALE OKKULTE KRÄFTE20. DAS PSYCHISCHE WESEN21. INTUITION22. DER SPIRIT (DER SPIRITUELLE GEIST)Die Macht der spirituellen Übertragung23. DIE HÖCHSTE MACHTANHANGGlossarQuellenangabenGuideCoverInhaltStart

EINFÜHRUNG

Der Begriff „Macht“ bezieht sich im allgemeinen Sprachgebrauch oft auf die Macht des Einflusses im politischen, sozialen oder finanziellen Bereich.

Diese äußere Macht unterscheidet sich von der inneren Macht, von der dieses Buch handelt. Die innere Macht besteht aus geistigen Anlagen, Talenten und Fähigkeiten, die mehr oder weniger schlummernd oder unentwickelt in der menschlichen Natur liegen.

Kräfte des Bewusstseins

Entsprechend der vedischen Sicht ist die grundlegende Realität, die sowohl den Menschen als auch den Kosmos ausmacht, „Chit“ oder Bewusstsein.

Alle Energie, Dynamik und Kraft kommt vom Bewusstsein, denn, wie Sri Aurobindo sagt: „Absolutes Bewusstsein ist in seiner Natur absolute Macht;“ (Sri Aurobindo, The Life Divine, Centenary Library Band 18, S. 570) die Natur dieses Bewusstseins (Chit) ist Kraft (Shakti). Deshalb wird Chit auch Chit-Shakti genannt, Bewusstseins-Kraft.

Die verschiedenen Formen des Bewusstseins – physisch, vital, mental, subliminal unterbewusst und überbewusst, sind daher unterschiedliche Ausdrucksformen der Bewusstseins-Kraft.

In unserem gewöhnlichen Bewusstseinszustand identifizieren wir uns mit unserem einzelnen individuellen Ego, und suchen nach Macht für die Ausweitung des Egos.

Von einem tiefer gehenden Standpunkt aus betrachtet sind jedoch alle Bemühungen des Egos unbewusst durch den Drang motiviert, das eigene wahre Selbst und seine Bewusstseinskräfte zu entdecken.

Latente Kräfte des Bewusstseins

Wir unterscheiden zwei Arten von latenten Kräften. Es gibt Kräfte in uns, die bisher unentwickelt und zum größten Teil unbekannt sind oder gar angezweifelt werden, wie Hellsichtigkeit, Hellhörigkeit, Telepathie und andere okkulte Kräfte, von denen im letzten Teil dieses Buches gesprochen wird. Andere Kräfte besitzen und benutzen wir schon, aber sie sind nur latent vorhanden und existieren in rudimentärer oder unentwickelter Form. Letztere haben scheinbar nichts Außergewöhnliches an sich, und wir betrachten sie nicht als „Kräfte“. Gedankenkraft, Imaginationskraft, Willenskraft, Konzentrationskraft, Intuition und andere Kräfte sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt in den meisten Menschen völlig unterentwickelt im Vergleich zu dem, was sie in ihrem höchsten Potential sein könnten. Was wir in einem Genie erkennen, ist nur das Aufblühen von Kräften, die entweder unentwickelt oder vollkommen verborgen auch in uns schlummern. Wie die Mutter bemerkt: „In jedem von uns steckt ein Genie.“

Es besteht die Möglichkeit das eigene Potential der physischen Kräfte und Fähigkeiten, die den Körper betreffen, bis zu einem bemerkenswerten Grad zu entwickeln. Ein olympischer Athlet hat lediglich Fertigkeiten entwickelt, die in gewissem Maße in jedem Menschen angelegt sind. Die Mutter gibt Beispiele dafür, wie sogar unsere sensorischen Fähigkeiten wie Seh- und Hörvermögen bis zu einem übernatürlichen Grad gesteigert werden können und bemerkt: „Wir können unendlich viel mehr als das, was wir tatsächlich tun.“

Okkulte Kräfte

Wenn Menschen, besonders im Osten, an verborgene Kräfte denken, meinen sie damit oft okkulte Kräfte, wie vorher schon erwähnt. Im Westen und Osten existieren unterschiedliche Einstellungen gegenüber solchen Kräften. Im Westen, wo diese Kräfte allgemein als „übersinnliche Fähigkeiten“ bezeichnet werden, betrachtet eine Mehrzahl der Menschen sie mit Skeptizismus, und verbindet den Glauben daran mit Leichtgläubigkeit und Naivität. Immer mehr westliche Menschen jedoch halten die Fähigkeiten von medial begabten Menschen für glaubwürdig, die behaupten, Informationen über außersinnliche Wahrnehmung zu erlangen, auf Objekte und Personen aus der Ferne einzuwirken, mit unsichtbaren Mitteln heilen zu können usw. Trotz ihrer nicht erklärbaren Natur wurden diese Fähigkeiten immer wieder in zahlreichen Bereichen einschließlich der Medizin und Zahnheilkunde, Psychotherapie und Beratung, in der Polizeiarbeit, in Landwirtschaft, Archäologie und auf vielen anderen Gebieten angewandt.

 

Psychiater tendieren dazu, Personen, die anscheinend übersinnliche Kräfte besitzen als anormal, das heißt unter einer psychiatrischen Störung leidend, zu betrachten. Dr. Judith Orloff, Psychiaterin aus Los Angeles und Autorin des Buches: „Das Zweite Gesicht“ (Thomas Moore, 1997) schreibt, dass sie seit ihrem neunten Lebensjahr paranormale Fähigkeiten zeigte, aber jahrelang nicht darüber sprach, weil ihre Mutter und andere Personen in ihrem Umkreis kein Verständnis dafür aufbrachten, und ihr das Gefühl vermittelten, sie sei anormal. Erst als sie nach einer außerkörperlichen Erfahrung ein Institut für paranormale Erfahrungen aufsuchte, erfuhr sie, dass sie nicht psychiatrisch krank sei, sondern vielmehr über eine besondere Begabung verfüge. Entsprechend ihrer Schätzung, die vielleicht hauptsächlich auf ihrer eigenen Arbeit in der Psychiatrie basiert, sind etwa 25 % derjenigen, die psychiatrische Hilfe suchen, und bei denen eine Psychose diagnostiziert wird, in Wirklichkeit nicht psychotisch sondern medial veranlagt.

Im Osten sind die Menschen geneigt übernormale Kräfte, oder Siddhis“ wie sie in Indien genannt werden, als Zeichen der Entwicklung spiritueller Fähigkeiten anzuerkennen. Spirituelle Lehrer von hohem Rang jedoch haben okkulte Kräfte als untergeordnet, und der spirituellen Verwirklichung nicht zugehörig betrachtet. Ramakrishna bemerkte: „Jemand der nach okkulten Kräften strebt, ist wie einer, dem vom König ein Wunsch freigestellt wird, und der daraufhin um einen Kürbis bittet.“ Manche sind sogar der Ansicht, dass man auf dem spirituellen Weg nicht nur davon Abstand nehmen muss, nach spirituellen Kräften zu suchen, sondern auch davon, sie zu benützen, wenn man sie erlangt hat. Was diese Einstellung betrifft, schreibt Sri Aurobindo:

„Ich halte die Idee, dass Yogis bestimmte Kräfte nicht gebrauchen sollten (wie Geschehnisse aus der Ferne wahrzunehmen und in diese einzugreifen), für asketischen Aberglauben. Ich glaube, dass alle Yogis, die diese Kräfte haben, sie auch benützen, wann immer sie fühlen, dass sie innerlich dazu aufgefordert werden. Sie mögen sich zurückhalten, wenn sie denken, dass der Gebrauch in einem bestimmten Fall dem göttlichen Willen entgegensteht, oder wenn sie sehen, dass sie durch das Verhindern eines Übels die Tür für ein schlimmeres öffnen, oder aus irgendeinem anderen triftigen Grund, nicht jedoch wegen eines allgemeinen Verbots.

Was sich für jeden mit einer starken spirituellen Wahrnehmung jedoch verbietet, ist als Wundermacher aufzutreten, der außergewöhnliche Dinge um der Show willen ausführt, um berühmt zu werden oder zur materiellen Bereicherung oder aus Eitelkeit und Stolz.“ (Sri Aurobindo, Letters on Yoga, Centenary Library Band 22, S. 481)

Okkultismus im täglichen Leben

Sri Aurobindo definiert Okkultismus als

„Die Kenntnis der verborgenen Kräfte der Natur und ihr richtiger Gebrauch ... – besonders der Kräfte der subtil-physischen und supraphysischen Ebenen.“ (Sri Aurobindo,Letters on Yoga, Centenary Library Band 22, S. 75)

Wie die Mutter ausführt, praktiziert jeder Okkultismus ohne es zu wissen, denn jeder gebraucht die Kraft der Gedanken und der Vorstellung, welche tatsächlich okkulte oder verborgene Kräfte sind, die sichtbare Wirkungen auf einen selbst und andere hervorbringen. Die Wirkungen, die wir durch unser gewöhnliches Denken und unsere Vorstellungskraft erzeugen, sind dürftig, verglichen mit dem, was sie sein könnten, wenn ihre Kraft durch Schulung entwickelt werden würde. Tatsächlich nehmen die meisten Menschen nicht einmal die Resultate wahr, die durch Gedanken und Imagination in unserem Körper und in unserem äußeren Leben hervorgerufen werden. Deswegen werden diese Kräfte oft in einer Weise gehandhabt, die schädlich für uns selbst und andere ist. Ein wichtiger Schritt in der Entwicklung der Fähigkeiten unserer inneren Kräfte besteht darin, uns stärker bewusst zu machen, welche Kräfte wir schon besitzen und gebrauchen, und welche Wirkungen sie in unserem täglichen Leben hervorrufen, sodass wir lernen, mit ihnen bewusster und heilsamer umzugehen.

Innere und äußere Kräfte

Wir können Kraft aus äußeren Dingen oder aus unserem eigenen Wesen schöpfen. Die Kraft zur Bekämpfung von Krankheiten kann zum Beispiel vom Gebrauch äußerer Mittel wie Medikamente kommen oder von innen, aus der natürlichen Widerstandskraft unseres Körpers. Bis jetzt hat die Menschheit in ihrem Bemühen, immer mehr Macht zu erlangen, danach gestrebt, diese auf verschiedenen Gebieten, überwiegend durch äußere Mittel, wie technologische und wissenschaftliche Entwicklungen zu gewinnen. Der Entfaltung der Fähigkeiten in uns selbst wurde weit weniger Aufmerksamkeit gewidmet, sodass die innere Kraft an sich nicht nur hinter der äußeren zurückgeblieben, sondern in mancher Hinsicht sogar verkümmert ist.

Denn während in der Krankheitsbekämpfung mit äußeren Mitteln, wie stärkeren Arzneimitteln und verbesserter Technologie große Fortschritte erzielt wurden, gibt es eine zunehmende Verbreitung von Erkrankungen, die in Beziehung zum körpereigenen Immunsystem stehen, wie Krebs, Arthritis, AIDS und anderen, was auf eine Verschlechterung der körpereigenen Heilmechanismen hinweist.

Über die Verringerung der persönlichen Widerstandskraft als Folge der Zunahme der Technologie schreibt Joseph C. Pierce in seinem Buch, The Bond of Power (Dutton, 1981):

„Wir haben die technischen Erfindungen lange als Erweiterung unserer persönlichen Macht angesehen... In der Praxis jedoch unterminieren, untergraben, ja ersetzen sie unsere Fähigkeiten, die sie angeblich steigern und verbessern.“

Während wir zum Beispiel die Hilfe für unsere Sehkraft durch technische Mittel wie das Teleskop und das Mikroskop verstärkt haben, stellt Pierce fest, hat sich unsere eigene Sehkraft verschlechtert.

So waren um 1900 in Texas 12% der Kinder im Alter von acht Jahren kurzsichtig. 1962 waren im Alter von erst sechs Jahren fast 80 % der Kinder kurzsichtig.

Eines der Zeichen des beginnenden neuen Zeitalters – wie von Sri Aurobindo und anderen angedeutet – ist, dass mehr und mehr Menschen die Entwicklung von inneren Kräften verfolgen, was das Auftauchen der Bewegung: „Human Potential Movement“ zeigt, sowie Trainingskurse für die Steigerung der sinnlichen und paranormalen Fähigkeiten, und das Angebot von technischen Geräten zur Bewusstseinserweiterung, (das Innere von außen her zu entwickeln!), und auch die zunehmende Beliebtheit von Meditation und spirituellen Praktiken.

Dieses Buch wirft Licht auf die verschiedenen inneren Kräfte, die wir bereits besitzen und bewusst oder unbewusst gebrauchen, sowie auf latente Fähigkeiten in uns, die bisher mehr oder weniger unentwickelt sind.

Einige Passagen aus den Werken der Mutter bestehen aus Gesprächen mit Kindern aus dem Ashram, in denen sie im allgemeinen Fragen beantwortet, die ihr von den Kindern gestellt werden.

Die Abschnitte für dieses Buch sind so ausgewählt worden, dass es sowohl für den Durchschnittsleser wie auch für den spirituell Suchenden von Interesse sein kann.

A. S. DALAL

DIE INNEREN KRÄFTE

KAPITEL 1
LATENTE KRÄFTE DES BEWUSSTSEINS

Eine Entwicklung von latent vorhandenen und verborgenen, aber bisher unentwickelten Kräften des Bewusstseins wird vom modernen Intellekt nicht für möglich gehalten, denn diese übersteigen unsere gegenwärtige Auffassung von Natur. Unseren ignoranten, vorgefassten Meinungen, die auf einer begrenzten Erfahrung basieren, erscheinen diese Kräfte übernatürlich, unglaublich und okkult; denn sie übersteigen die bekannten Prozesse der materiellen Energie, welche normalerweise als einzige Ursache und Wirkungsweise aller Dinge anerkannt wird, und als das einzige Instrument der schöpferischen Weltkraft.

Dass der Mensch technische Wunder erschafft, indem er bewusst die materiellen Kräfte der Natur entdeckt und entwickelt, und sich in einem Maße zunutze macht, welches alles übersteigt, was die Natur selbst entwickelt hat, wird als natürliche Tatsache und als eine beinahe grenzenlose Entwicklungsaussicht unserer Existenz akzeptiert; jedoch das Erwachen, die Entdeckung, und die Anwendung von Kräften des Bewusstseins und von spirituellen, mentalen und vitalen Energien, die alles übersteigen, was der Mensch oder die Natur bisher entfaltet hat, wird als Möglichkeit nicht zugelassen.

Dabei wäre an solch einer Evolution der Kräfte des Bewusstseins nichts übernatürliches oder wunderbares, verglichen mit unserer Natur wäre sie höchstens insofern übernatürlich oder eine Übernatur, wie auch unsere menschliche Natur im Vergleich zur Natur von Tier, Pflanze und materiellen Objekten als übernatürlich erscheint.

Die Entwicklung des Verstandes und seiner Fähigkeiten, unser Gebrauch der Vernunft, unserer mentalen Intuition und Einsicht, unserer Sprache, von philosophischen, wissenschaftlichen und ästhetischen Erkenntnissen der Wahrheiten und des Potentials unseres Wesens und eine Beherrschung seiner Kräfte, gehören zu einer Evolution, die schon stattgefunden hat: und doch würde sie unmöglich erscheinen, wenn wir sie aus der Position eines begrenzten tierischen Bewusstseins und dessen Fähigkeiten als Möglichkeit erkennen sollten, denn es gibt aus dortiger Sicht nichts, was einen solch erstaunlichen Fortschritt begründen könnte.

Und doch gibt es unbestimmte erste Ansätze, rudimentäre Anlagen oder eingeschränkte Entwicklungsmöglichkeiten im Tier, im Vergleich mit denen die außergewöhnliche Entfaltung unserer Vernunft und Intelligenz wie eine unvorstellbare Reise erscheint, die an einem wenig aussichtsreichen Ausgangspunkt begann. Ansätze von spirituellen Kräften, die zur gnostischen Supernatur gehören, sind in ähnlicher Weise auch in unserer normalen Veranlagung gelegentlich vorhanden, sie sind jedoch selten aktiv. Auf dieser viel höheren Stufe der Evolution ist es nicht irrational anzunehmen, dass ein ähnlicher, aber größerer Fortschritt, der von diesen rudimentären Anfängen ausgeht, zu einer weiterführenden, immensen Entwicklung und zu einem neuen Weg führen könnte.

Es ist in der mystischen Erfahrung bekannt, dass sich neue Kräfte des Bewusstseins entwickeln, indem sich die inneren Zentren (Chakras) öffnen, oder auch auf andere Weise, spontan oder durch Willenskraft oder durch Bemühungen oder einfach im Verlauf des spirituellen Wachstums. Diese Kräfte erscheinen als die automatische Konsequenz einer inneren Öffnung oder als Antwort auf eine innere Bitte im Wesen, und zwar so stark, dass es für notwendig empfunden wurde den Suchenden zu empfehlen, diesen Kräften nicht nachzujagen und sie nicht anzunehmen oder zu benutzen. Die Ablehnung dieser Kräfte ist logisch für diejenigen, die sich vom Leben zurückziehen, denn jedes Annehmen von größerer Macht würde sie an das Leben binden oder eine Last für den reinen inneren Drang nach spiritueller Befreiung darstellen.

Für denjenigen, der Gott um seiner selbst willen liebt und sucht, und nicht aus Machthunger oder wegen anderer niederer Anreize, ist es ganz natürlich, dass ihm alle anderen Ziele und Dinge des Lebens gleichgültig sind; das Streben nach diesen verführenden aber oft gefährlichen Kräften würde ein Abweichen von seinem Weg bedeuten. Für den unreifen Suchenden ist eine ähnliche Zurückweisung eine notwendige Selbstbeschränkung und spirituelle Disziplin, denn solche Kräfte können eine große, wenn nicht tödliche Gefahr darstellen, denn ihre über das Normale hinausragende Realität kann in ihm leicht eine anormale Übersteigerung des Egoismus nähren. Wer nach Vollkommenheit strebt, fürchtet vielleicht die Macht an sich als Verführung, denn Macht kann das Bewusstsein sowohl erniedrigen als auch erhöhen, nichts ist anfälliger für Missbrauch als Macht. Aber wenn sich neue Fähigkeiten als unvermeidliches Resultat des Hineinwachsens in ein größeres Bewusstsein und ein befreites Leben ergeben, und jenes Hineinwachsen Bestandteil des eigentlichen Ziels des spirituellen Wesens in uns ist, dann hat diese Zurückhaltung im Umgang mit den Kräften keine Gültigkeit, denn das innere Wesen kann sich in diese Supernatur nicht hineinentwickeln und dann in ihr leben und vollständig in ihr aufgehen, ohne eine größere Kraft des Bewusstseins und eine stärkere Lebenskraft mitzubringen, und ohne die spontane Entwicklung eines Instrumentariums von Wissen und Kraft, welches für diese Supernatur normal ist.

 

Nichts in dieser zukünftigen Entwicklung des menschlichen Wesens könnte als irrational oder unglaublich abgetan werden; es gibt darin nichts Anormales oder Übernatürliches: sie wäre der notwendige Verlauf der Evolution des Bewusstseins und seiner Kräfte im Übergang von dem mentalen zum gnostischen und supramentalen Ausdruck unserer Existenz.

Dieses Vorgehen der Kräfte der Supernatur wäre die natürliche, normale und spontan einfache Wirkungsweise des neuen höheren oder weiteren Bewusstseins, in die das Wesen im Laufe der Entwicklung seines Selbst eintritt; so würde das gnostische Wesen entstehen, das das gnostische Leben annimmt, und es würde die Kräfte dieses stärkeren Bewusstseins entwickeln und benützen, genauso wie der Mensch die Kräfte seines Verstandes entfaltet und gebraucht. (1)

SRI AUROBINDO

*

Jeder trägt zahllose Möglichkeiten in sich, die ihm nicht bewusst sind, und die sich nur entwickeln können, wenn man sie wissentlich hervorbringt... Es gibt aber zwei Arten von Fortschritt, nicht nur eine; das ist einmal der Fortschritt, der darin besteht, immer mehr Leistungsfähigkeiten, Möglichkeiten, Fertigkeiten und Qualitäten des Charakters zu perfektionieren – was gewöhnlich durch Erziehung erreicht wird; wenn man aber zusätzlich eine etwas grundlegendere Entwicklung verfolgt, die darin besteht, sich einer tieferen inneren Wahrheit zu nähern, kann man den Qualitäten, die man schon besitzt, neue hinzufügen die in unserem Wesen schlummern.

Man kann seine bestehenden Fähigkeiten vervielfältigen, erweitern und steigern, und plötzlich können sich auch neue Eigenschaften zeigen, von denen man gar nicht wusste, dass man sie hat. Ich habe euch das ja schon einige Male erklärt. Wenn man das psychisches Wesen in sich entdeckt ist man zu Dingen fähig, die man vorher überhaupt nicht tun konnte und von denen man dachte, dass sie nicht in der eigenen Natur liegen. Das habe ich an zahlreichen Beispielen erlebt. Ich habe euch dieses schon erzählt, aber ich wiederhole die Geschichte noch einmal, um mich verständlich zu machen.

Ich kannte ein junges Mädchen, das in eine sehr einfache Umgebung hinein geboren wurde, sie erhielt keine gute Ausbildung und drückte sich eher plump in Französisch aus, ihre Vorstellungskraft war unentwickelt, und sie hatte nicht das geringste literarische Verständnis. Sie schien überhaupt nicht über solche Möglichkeiten zu verfügen. Nun, wenn sie durch ihre inneren Erfahrungen mit ihrem psychischen Wesen in Berührung kam, und solange dieser Kontakt lebendig und gegenwärtig war, schrieb sie bewundernswerte Dinge. Wenn sie aus diesem Zustand in den gewöhnlichen zurück fiel, konnte sie nicht einmal zwei Sätze richtig zusammenbringen. Ich sah beide Arten ihrer Aufsätze.

In jedem von uns steckt ein Genie – wir wissen es nur nicht. Aber es ist da und schläft, und möchte sich zeigen, und wir müssen ihm die Tür dazu öffnen, und die Methode finden, um es hervorzubringen. (2)

DIE MUTTER

*

Manchmal gibt es latente Kräfte in uns, die uns nicht bewusst sind.

Der Bereich unserer Sinneswahrnehmungen hat eine absolut lächerliche Begrenzung; doch im Geist, wenn du an eine Person denkst oder an eine Stadt oder an einen Ort, bist du sofort unverzüglich dort, weißt du. Du befindest dich mit deinem Geist wirklich dort, du bildest dir das nicht nur ein, und dein Kontakt durch Gedanken kann so präzise sein, dass du eine Unterhaltung mit der Person führen kannst, vorausgesetzt, dass diese Person einigermaßen empfänglich ist. Das passiert andauernd, andauernd. Nur musst du natürlich etwas darüber wissen, sonst verstehst du nicht einmal, was geschieht.

Sogar physisch ist die Begrenzung der Wahrnehmung dieser Augen dieser Nase, dieser Finger, dieses Mundes, dieser Ohren, so lächerlich!

Man kann ihre Wahrnehmungsfähigkeit jedoch entwickeln, wenn man möchte. Zum Beispiel kann es gelingen, nur mit den physischen Sinnesorganen etwas zu hören, was in einer so großen Entfernung stattfindet, dass man es normalerweise nicht mehr hören kann, wenn man seine Sinnesorgane beherrscht und fähig ist, ihren Schwingungsbereich auszudehnen. Man kann auch mit physischen Augen sehen, was sich in der Ferne abspielt, ohne die okkulte Sehkraft einzuschalten.

Man kann es fertig bringen sein Sehvermögen zu erweitern, und wenn man es versteht, die Schwingung seiner Nerven bis außerhalb der Sichtweite der Augen zu verlängern, kann die Verbindung bis zu – ich würde nicht sagen etliche Kilometer weit weg – nein – aber innerhalb eines bestimmten Bereiches ausgedehnt werden, sagen wir, zum Beispiel, durch eine Wand hindurch, was als etwas Unmögliches betrachtet wird. Man kann dann sehen, was in einem Raum geschieht, der von einem anderen durch eine Wand getrennt ist. Aber dafür sind sehr methodische Übungen nötig. Trotzdem ist es möglich auf diese Weise zu sehen, zu fühlen und zu hören. Wenn man sich Mühe gibt, kann man sein Blickfeld beträchtlich erweitern. Aber es erfordert Arbeit, Ausdauer und eine Art beharrlicher Anstrengung. Warum auch nicht, es wurde sogar herausgefunden, dass man im Körper andere visuelle Zentren als das Auge entwickeln kann. Das wurde mit Leuten erprobt, die aus dem einen oder anderen Grund ihr Sehvermögen verloren haben. Man kann durch andauernde methodische Anstrengung anstatt der Augen dann eins oder mehrere andere Sehzentren im Körper entwickeln, um sehen zu können. Jules Romain hat darüber ein Buch geschrieben. Er führte selbst Experimente damit durch und erhielt sehr überzeugende Resultate.

Das bedeutet, dass wir über eine Anzahl von Möglichkeiten verfügen, die wir in uns schlafen lassen, weil wir uns nicht darum bemühen, sie besonders zu entwickeln. Wir können unendlich viel mehr als wir tatsächlich meinen. Aber wir nehmen die Dinge so hin, wie sie sind. (3)

DIE MUTTER

*

Um eine Aufgabe zu bewältigen, wie kann man wissen, ob man dazu fähig ist oder nicht?

Wie kann man wissen, ob man dazu fähig ist oder nicht!

Durch Probieren! Das ist das Beste. Und wenn du nicht sofort Erfolg damit hast, dann halte durch. Du musst wissen, dass wenn du einen starken Drang, einen sehr starken Drang spürst, etwas Bestimmtes zu machen, dann bedeutet es, dass diese Arbeit etwas mit dir zu tun hat, und dass du auch dazu fähig bist, sie zu tun. Aber man kann auch Kräfte besitzen, die anfangs so gut in einem selbst versteckt sind, dass man zuerst lange graben muss, um sie zu finden.

Deswegen musst du nicht gleich beim ersten Rückschlag entmutigt werden, sondern weitermachen. (4)

DIE MUTTER

* * *