Das seelische Wesen

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Das seelische Wesen

Die Seele: Ihre Natur, Aufgabe und Evolution

Auszüge aus den Werken von

Sri Aurobindo und der Mutter

Zusammenstellung und Einführung

A.S. Dalal

SRI AUROBINDO ASHRAM

PONDICHERRY

BUCHAUSGABE Das seelische Wesen Titel der englischen Ausgabe The Psychic Being Deutsche Übersetzung: Elisabeth Beck Erste Ausgabe 1996 Neuauflage 2005 ISBN 978-81-7058-487-2

© SRI AUROBINDO ASHRAM TRUST

Verlag: Sri Aurobindo Ashram Publication Department

Pondicherry 605 002, Indien

Web http://www.sabda.in

Druck: Sri Aurobindo Ashram Press

Pondicherry, Indien

E-BOOK Das seelische Wesen 3. Ausgabe 2021 ISBN 978-3-937701-20-2

© SRI AUROBINDO BHAVAN BERCHTESGADENER LAND 2021

Verlag: AURO MEDIA Verlag und Fachbuchhandel Wilfried Schuh

Berchtesgaden, Deutschland

Web http://www.auro.media

Herstellung: Sri Aurobindo Digital Edition

Berchtesgaden, Deutschland

InhaltTitelseiteCopyrightVorwortZitatI. BEDEUTUNG UND NATUR DES SEELISCHEN WESENSZitat1. Was ist mit dem seelischen Wesen gemeint?2. Atman, Jivatman und die Seele3. Das seelische Mental, das seelische Vital, das seelische Physische4. Die doppelte Seele5. Die Natur des seelischen Wesens6. Die Seele und das Spirituelle7. Gefühl und Liebe – vital und seelisch8. Wissen – mental und seelischII. ROLLE, AUFGABE UND TÄTIGKEIT DER SEELEZitat1. Die Aufgabe der Seele2. Einfluss und Tätigkeit der Seele3. Unterweisung durch die Organisation des Lebens4. Das seelische Wesen – Zentrum der Selbst-EinungIII. WACHSTUM UND ENTWICKLUNG DER SEELEZitat1. Evolution und Seele2. Seelisches Wachsen und seelische EntwicklungIV. DAS SEELISCHE WESEN UND DIE SADHANAZitat1. Drei Schritte der Selbstverwirklichung und die dreifache Umwandlung2. Sich des seelischen Wesens bewusst zu werden: das Erfordernis der Sadhana3. Das seelische Wesen und die Wende4. Die seelische Wende – das erste Erfordernis5. Das Auftauchen der Seele6. Der sonnenhelle Weg der SeeleV. DAS LEBEN NACH DEM TOD UND DIE WIEDERGEBURTZitat1. Der Vorgang der Wiedergeburt2. Überleben nach dem Tode und Reinkarnation3. Die Wahl der Seele und die Bedingungen der Wiedergeburt4. Die Erinnerung an vergangene LebenVI. MEHR ÜBER DAS SEELISCHE WESENZitat1. Mehr über das seelische WesenANHANGGlossarQuellenangabenGuideCoverInhaltStart

Vorwort

Die vorliegende Auswahl ist ein Versuch, die verschiedenen Lehren über das seelische Wesen in den Werken von Sri Aurobindo und der Mutter in einem Band zusammenzustellen. Die Auszüge behandeln die Natur des seelischen Wesens und lenken die Erkenntnisse Sri Aurobindos und der Mutter auf die innere Beschaffenheit des menschlichen Wesens, sowie auf verschiedene diesbezügliche Fragen, wie den Vorgang inneren Wachsens, das Leben nach dem Tode, die Wiedergeburt, die Sadhana usw. Obwohl die Auswahl umfassend ist, und alle grundlegenden Aspekte des Stoffes behandelt, will sie nicht erschöpfend sein. Sie ist in der Hauptsache für den allgemeinen Leser bestimmt, und lässt einen großen Teil dessen aus, was nur für diejenigen von Interesse wäre, die Sri Aurobindos Yoga ausüben, oder aber für diejenigen, die Philosophie oder philosophische Psychologie studieren.

Um das Verstehen zu erleichtern, wurden alle Auszüge, außer denen im letzten Teil des Buches, in Abschnitte und Unterabschnitte eingeteilt, deren jeder einen spezifischen Aspekt des jeweiligen Themas behandelt. Da jedoch das Buch eine Zusammenstellung aus verschiedenen Quellen ist, war sowohl ein Überschneiden als auch eine Wiederholung des Inhaltes nicht zu vermeiden. Um die Ganzheit und Integrität der Auszüge zu bewahren, wurde auf die Herausgabe von auszugsweisen Äußerungen innerhalb eines Abschnittes verzichtet; ebenso wurde das Aufteilen eines Abschnittes in verschiedene Teile, um der Gliederung zu genügen, vermieden. Auch eingeschaltete Bemerkungen und Äußerungen, die sich auf ein bestimmtes Thema beziehen, das vom Hauptthema eines Abschnitts abweicht – was in den Briefen Sri Aurobindos und den Antworten der Mutter auf Fragen häufig vorkommt – wurden im Allgemeinen beibehalten.

Der Grund, warum Sri Aurobindo den Ausdruck „seelisches Wesen“ geprägt hat, wurde von ihm wie folgt dargelegt:

Das Wort „Seele“ wird im Englischen sehr unbestimmt gebraucht, da es sich oft auf das ganze nicht-physische Bewusstsein bezieht, einschließlich des Vitals mit seinen Begierden und Leidenschaften. Daher musste der Ausdruck „seelisches Wesen“ geprägt werden, um diesen göttlichen Teil von den instrumentalen Teilen der menschlichen Natur zu unterscheiden.“ (22:290)

Einer der wichtigsten Punkte, die klar verstanden werden sollten, ist die vitale Unterscheidung zwischen der Seele in ihrer Essenz – von Sri Aurobindo verschiedentlich als die Seele bezeichnet, die seelische Essenz, die seelische Wesenheit, die seelische Existenz, der Seelenfunke oder das Seelenelement – und die Seele in ihrer entwickelten, individualisierten Form, das „seelische Wesen“ genannt, die seelische Personalität, die Seelenform oder Seelenpersonalität, welche in Sri Aurobindos Worten „der Funke ist, der mit dem Wachsen des Bewusstseins in ein Feuer wächst.“ (22:278) Es muss ebenfalls betont werden, dass die Ausdrücke „Seele“ und „seelisch“, wenn sie ohne Attribut gebraucht werden, sich manchmal auf den Seelenfunken oder die seelische Essenz beziehen und manchmal auf die Seelenpersonalität oder das seelische Wesen.

Die Natur und Funktion des seelischen Wesens kann nicht gut ohne Bezugnahme auf andere Teile des menschlichen Wesens erklärt werden. In dieser Zusammenstellung wird der Leser daher häufig die verschiedenen Teile des menschlichen Wesens erwähnt finden, von denen einige in Sri Aurobindos Yoga mit bestimmten Ausdrücken bezeichnet werden. Das Glossar am Ende des Buches enthält diese Schlüsselausdrücke, zusätzlich zu den Sanskritausdrücken; es enthält ferner gewöhnliche englische Ausdrücke, die in einem speziellen Sinn im Integralen Yoga gebraucht werden. Es sei bemerkt, dass einige der Sanskritausdrücke einen umfassenderen Inhalt haben können, als den im Glossar angeführten, und auch in einem anderen Zusammenhang eine andere Bedeutung haben können.

Abschließend sei erwähnt, dass die in diesem Buch zusammengestellten Abschnitte zum überwiegenden Teil aus den Briefen Sri Aurobindos und den Gesprächen der Mutter mit den Kindern des Ashrams stammen. Das erklärt ihren oft zwanglosen Stil, die Auslassungen, Pausen, Wiederholungen usw. in vielen der Auszüge.

A. S. DALAL

* * *

Doch da sie des Geistes und des Lebens Mühsal kennt,

Einer Mutter gleich, die ihrer Kinder Leben fühlt und teilt,

Sendet sie ein kleines Etwas ihrer selbst hinaus,

Ein Wesen, nicht größer als eines Menschen Daumen,

In den verborgenen Herzensbereich,

Um der Pein zu begegnen und die Wonne zu vergessen,

Das Leid zu teilen und der Erde Weh zu tragen,

 

Zu werken inmitten des Wirkens der Sterne.

Dies lacht in uns und weint und duldet den Hieb,

Frohlockt im Siege und ringt um die Krone;

Ist eins mit Geist und Leib und Leben,

Nimmt auf sich deren Angst und Unvermögen,

Blutet von des Schicksals Hieben, hängt am Kreuz,

Und ist dennoch das unversehrte, unsterbliche Selbst,

Den Spieler stützend in der Menschheit Spiel.

Durch dies schickt sie uns ihre Herrlichkeit und Macht,

Drängt uns zu Weisheitshöhn durch Abgründe des Leids;

Sie gibt uns Kraft für unser Tagewerk

Und Mitgefühl für anderer Leid,

Und die geringe Stärke, die unser ist, um unserer Art zu helfen,

Wir, die wir die Rolle des Universums übernommen haben,

Das Komödie spielt in schmächtiger Menschengestalt,

Wir, die wir die ringende Welt auf unseren Schultern tragen.

Das ist der Gott in uns, klein und entstellt;

In diesen menschlichen Teil des höchsten Wesens

Setzt sie die Größe der Seele in der Zeit,

Um sie von Licht zu Licht, von Macht zu Macht zu heben,

Bis sie auf himmlischem Gipfel steht, ein König,

Gebrechlichen Leibs, zuinnerst eine unbesiegbare Macht,

Klimmt stolpernd sie an ungesehner Hand,

Ein sich mühender Spirit in sterblicher Gestalt.

SRI AUROBINDO

SAVITRI: BUCH VII CANTO 5

Teil I

Diese leibliche Erscheinung ist nicht alles;

Irreführend ist die Form, Maske die Person;

Im Menschen tief verborgen wohnen Himmelsmächte.

Durch das Meer der Jahre trägt sein brüchiges Schiff

Ein Inkognito des Unvergänglichen.

Ein Spirit, eine Flamme Gottes, weilt,

Feuriger Teil des Wundervollen,

Künstler seiner eigenen Schönheit, seiner Wonne,

Unsterblich in unserer sterblichen Armut.

Dieser Bildner der Formen des Unendlichen,

Dieser verborgene, unerkannte Einwohner,

Initiant seiner eigenen verhüllten Mysterien,

Birgt sein kosmisches Denken in stummem Kern.

In stiller Stärke der okkulten Idee

Vorherbestimmte Form und Tat entscheidend,

Wanderer von Leben zu Leben, von Stufe zu Stufe,

Sein erdachtes Selbst von Form zu Form verändernd,

Betrachtet er das Bild, das unter seinem Blicke wächst,

Und ahnt im Wurm den künftigen Gott.

SRI AUROBINDO

SAVITRI: BUCH I CANTO 3

Kapitel 1
Was ist mit dem seelischen Wesen gemeint?

Ich meine mit der Seele das innerste Seelen-Wesen und die Seelen-Natur. In der Umgangssprache wird das Wort nicht in diesem Sinn gebraucht, oder vielmehr, wenn es so gebraucht wird, dann mit großer Unbestimmtheit und viel Verkennung der wahren Natur dieser Seele, und es wird ihm ein großes Feld von Bedeutungen eingeräumt, die den Begriff weit überschreiten. Alle Erscheinungen von abnormaler oder übernormaler psychologischer oder okkulter Art werden als seelisch ausposaunt; wenn ein Mensch eine doppelte Persönlichkeit hat, und von einer zur anderen wechselt, wenn die Erscheinung eines sterbenden Menschen, ein Teil seiner rein vitalen Hülle oder etwa eine Gedankenform von ihm erscheint, und im Zimmer seines verwunderten Freundes umgeht, wenn ein Poltergeist in einem Haus ungehörigen Krach schlägt – all das wird unter seelischen Phänomenen eingeordnet, und als Objekt für die seelische Forschung betrachtet, obgleich diese Dinge rein gar nichts mit der Seele zu tun haben. Und ebenso im Yoga selbst wird viel, was lediglich okkult ist, Erscheinungen der unsichtbaren vitalen oder mentalen oder der feinstofflichen Ebenen, Visionen, Symbole, all jener zweifelhafte, oft verworrene, oft schattenhafte, oft trügerische Erfahrungsbereich, der zum Niemandsland zwischen der Seele und ihren Instrumenten an der Oberfläche gehört, oder vielmehr seinen äußersten Randbezirken, all dieses Chaos des Zwischenbereiches wird summa summarum als seelisch bezeichnet, und als zweitrangiges und zweifelhaftes Gebiet spiritueller Entdeckung betrachtet. Dann wiederum besteht eine fortwährende Verwechslung zwischen dem Begriff der mentalisierten Begierdenseele, die eine Schöpfung des vitalen Drängens im Menschen ist, seiner Lebenskraft, die ihre Erfüllung sucht und der wahren Seele, die ein Funke des Göttlichen Feuers ist, ein Teil des Göttlichen. Weil die Seele, das seelische Wesen, Mental und Vital sowie den Körper als Instrumente für Wachstum und Erfahrung benützt, wird sie für ein Gemenge gehalten oder für eine subtile Schicht des Mentals und Lebens. Doch wenn wir im Yoga diese ganze chaotische Masse als Seelensubstanz oder Seelenregung akzeptieren, werden wir in eine Wirrnis ohne Ausweg geraten. All dies gehört allein zur äußeren Umkleidung der Seele; die Seele selbst ist eine innere Gottheit, größer als Mental oder Leben oder Körper. Sie ist etwas, das, wenn es einmal aus der Verfinsterung durch seine Instrumente entlassen ist, sofort einen direkten Kontakt mit dem Göttlichen und dem Selbst und Spirit herstellt.

SRI AUROBINDO (Archives and Research 3:202)

*

Das, was man in der Terminologie des Yoga unter „seelisch“ versteht, ist das Element der Seele in der Natur, die reine Seele oder der göttliche Nukleus, der hinter dem Mental, Leben und Körper steht (er ist nicht das Ego), und dessen wir uns nur undeutlich bewusst sind. Er ist ein Teil des Göttlichen, und besteht fort von Leben zu Leben, wobei er die Lebenserfahrung durch seine äußeren Instrumente empfängt. In dem Maße wie diese Erfahrung wächst, offenbart er eine sich entfaltende seelische Persönlichkeit, die immer auf dem Guten und Wahren und Schönen beharrt, und schließlich bereit und stark genug wird, die [menschliche] Natur dem Göttlichen zuzuwenden. Sie kann dann gänzlich hervortreten und den mentalen, vitalen und physischen Schirm durchbrechen, die Instinkte beherrschen und die Menschennatur wandeln. Die Natur drängt sich nicht länger mehr der Seele auf; vielmehr ist es die Seele, der purusa, der der Natur seine Befehle auferlegt.

SRI AUROBINDO (24:1605)

*

Die Menschen verstehen deshalb nicht, was ich mit dem Ausdruck „seelisches Wesen“ meine, da das Wort „Seele“ im Englischen für alles gebraucht wird, was sich auf das innere Mental, das innere Vital oder das innere Physische bezieht, oder auch auf alles Anormale oder Okkulte, sogar auf die feineren Regungen des äußeren Wesens – alles in kunterbuntem Durcheinander; selbst okkulte Phänomene werden häufig als seelisch bezeichnet. Eine Unterscheidung dieser verschiedenen Teile des Wesens ist unbekannt. Selbst in Indien ist das alte Wissen der Upanishaden, das diese Unterscheidung kannte, verloren gegangen. Der jivatman, das seelische Wesen (purusa antaratman), der manomaya purusa, der pranamaya purusa – alles wird miteinander verwechselt.

SRI AUROBINDO (22:290)

*

Unser seelischer Wesensteil ist etwas, das direkt vom Göttlichen stammt und in Kontakt mit dem Göttlichen steht. Seinem Ursprung nach ist er ein Zentrum voller göttlicher Möglichkeiten, das diese niedere dreifache Manifestation von Mental, Leben und Körper trägt. Es gibt dieses göttliche Element in allen lebenden Wesen, doch ist es hinter dem gewöhnlichen Bewusstsein verborgen, ist zunächst nicht entwickelt, und selbst wenn es entwickelt ist, tritt es nicht immer hervor; es verleiht sich in dem Maße Ausdruck wie es die Unvollkommenheit seiner Instrumente erlaubt, und ist an deren Mittel und Begrenzungen gebunden. Es wächst an Bewusstsein durch die auf Gott gerichtete Erfahrung und gewinnt jedes Mal Kraft, wenn eine höhere Regung in uns ist; schließlich wird durch die Anhäufung dieser tieferen und höheren Regungen eine seelische Individualität entwickelt – das, was wir meist das seelische Wesen nennen. Das seelische Wesen ist immer die wahre, doch oft verborgene Ursache dafür, dass sich ein Mensch dem spirituellen Leben zuwendet, und es ist für diesen Schritt seine größte Hilfe. Aus diesem Grund müssen wir es im Yoga aus dem Hintergrund nach vorne bringen.

Das Wort „Seele“ und „seelisch“ wird in der englischen Sprache sehr unbestimmt und mit ganz unterschiedlicher Bedeutung gebraucht. Sehr häufig wird in der gewöhnlichen Umgangssprache kein deutlicher Unterschied zwischen Mental und Seele gemacht, und ein noch ernster zu nehmendes Durcheinander entsteht dadurch, dass das vitale Begierdenwesen – die falsche Seele oder Begierdenseele – mit dem Wort „Seele“ bezeichnet wird, und nicht die wahre Seele, das seelische Wesen. Das seelische Wesen ist vom Mental oder Vital völlig verschieden; es steht hinter ihnen, dort wo diese sich im Herzen treffen. Dies ist sein zentraler Ort, doch eher hinter dem Herzen als im Herzen; denn was die Menschen gewöhnlich das Herz nennen, ist der Sitz des Gefühls, und menschliche Gefühle sind mental-vitale Impulse und im Allgemeinen nicht von seelischer Natur. Diese meist verborgene Macht im Hintergrund ist von Mental und Lebenskraft verschieden, sie ist die wahre Seele, das seelische Wesen in uns. Die Macht der Seele besteht darin, auf Mental, Vital und Körper einzuwirken, sie vermag das Denken, die Wahrnehmung, das Gefühl (welches dann ein seelisches Gefühl wird) sowie die Empfindung und Tat und alles übrige in uns zu läutern, und sie auf diese Weise darauf vorzubereiten, zu göttlichen Regungen zu werden.

Das seelische Wesen würde in der indischen Sprache als der purusa im Herzen bezeichnet werden, als caitya purusa;1 doch mit Herz ist das innere oder geheime Herz gemeint, hrdaye guhayam, und nicht das äußere vital-emotionale Zentrum.

SRI AUROBINDO (22:288)

*

Im Allgemeinen werden die mehr innerlichen und die anormalen seelischen Erfahrungen mit „seelisch“ bezeichnet. Ich gebrauche das Wort „seelisch“ in Zusammenhang mit der Seele und zum Unterschied von Mental und Vital. Alle Regungen und Erfahrungen der Seele würden in diesem Sinne seelisch genannt werden, also jene, die sich aus dem seelischen Wesen erheben oder es direkt berühren; wo hingegen Mental und Vital das Übergewicht haben, würde man die Erfahrung als psychologisch bezeichnen (oberflächlich oder verborgen).

SRI AUROBINDO (22:75)

*

Das Wort Seele hat je nach dem Zusammenhang verschiedene Bedeutungen; es kann der purusa sein, der die Gestaltungen der prakrti stützt – das, was wir das Sein nennen, obwohl das richtige Wort dafür das Werden wäre; es kann aber auch speziell das seelische Wesen in einem evolutionären Geschöpf wie dem Menschen bedeuten; es kann der göttliche Funke sein, der in die Materie durch die Herabkunft des Göttlichen in die stoffliche Welt gelangte, und hier alle sich entwickelnden Formierungen aufrecht erhält. Es gibt kein seelisches Wesen in einem nicht-evolutionären Geschöpf wie dem asura, und kann auch keines geben, ebensowenig in einem Gott, der es für sein Dasein nicht braucht. Im Gott gibt es jedoch einen purusa und eine prakrti oder die Energie der Natur dieses purusa. Wenn ein Wesen der fixierten Welten sich entwickeln will, muss es zur Erde herabkommen, einen menschlichen Körper annehmen und willens sein, an der Evolution teilzuhaben. Die vitalen Wesen wollen aber diese Zustimmung nicht erteilen und versuchen daher, von den Menschen Besitz zu ergreifen, damit sie die Stofflichkeit des physischen Lebens genießen können, ohne die Bürde der Evolution auf sich zu nehmen oder sich dem Vorgang der Wandlung, in dem jene kulminiert, zu unterziehen.

SRI AUROBINDO (22:386)

*

Was genau ist die Seele oder das seelische Wesen? Und was ist mit der Evolution des seelischen Wesens gemeint? Worin besteht seine Beziehung zum Höchsten?

Die Seele und das seelische Wesen sind nicht genau das gleiche, obwohl ihre Essenz die gleiche ist.

Die Seele ist der göttliche Funken, der im Zentrum jedes Wesens wohnt; sie ist identisch mit ihrem Göttlichen Ursprung; sie ist das Göttliche im Menschen.

Das seelische Wesen wird im Laufe seiner unzähligen Leben in der Erdevolution fortschreitend um dieses göttliche Zentrum, die Seele, geformt, bis die Zeit kommt, da das seelische Wesen, voll gestaltet und gänzlich erweckt, die bewusste Hülle der Seele wird, um die es geformt ist.

Derart mit dem Göttlichen identifiziert, wird sie zu Seinem vollendeten Instrument in der Welt.

DIE MUTTER (16:247)

*

 

Ist im Menschen das seelische Wesen die ganze Seele oder existieren beide, die Seele (in ihrer Essenz als ein göttlicher Funke in allen Geschöpfen) und das seelische Wesen Seite an Seite?

Die Seele ist die ewige Essenz im Zentrum des seelischen Wesens. Sie gleicht tatsächlich einem göttlichen Funken, der viele Seinszustände von zunehmender Dichte annimmt, bis hinab zum ganz Stofflichen; sie ist innerhalb des Körpers, gleichsam innerhalb des Solar Plexus.2 Diese Seinszustände nehmen Form an, sie entwickeln sich, schreiten fort und werden im Laufe vieler Erdenleben individualisiert und vervollkommnet, um das seelische Wesen zu bilden. Wenn das seelische Wesen voll geformt ist, erkennt es das Bewusstsein der Seele und verkörpert sie in vollendeter Weise.

DIE MUTTER (16:358)

*

Sind die Seele und das seelische Wesen ein und dieselbe Sache?

Das hängt von der Bedeutung ab, die du den Worten gibst. In den meisten Religionen, und vielleicht auch in den meisten Philosophien, wird das vitale Wesen „Seele“ genannt, denn es heißt, dass die Seele den Körper verlässt, während es [in Wirklichkeit] das vitale Wesen ist, das den Körper verlässt. Man spricht davon, „die Seele zu retten“ oder von der „verruchten Seele“ oder von der „Erlösung der Seele“ ..., doch all das trifft auf das vitale Wesen zu, denn das seelische Wesen bedarf einer Rettung nicht! Es hat an den Fehlern der äußeren Person keinen Anteil, es ist frei von aller Reaktion.

DIE MUTTER (16:137)

*

Zwischen der Seele in ihrer Essenz und dem seelischen Wesen muss unterschieden werden. Hinter allem und jedem steht die Seele, der Funke des Göttlichen – keiner könnte ohne sie bestehen. Es ist jedoch durchaus möglich, ein vitales und ein physisches Wesen zu besitzen, ohne ein deutlich entwickeltes seelisches Wesen dahinter. Dennoch kann man keine allgemein gültige Regel aufstellen in dem Sinne, dass ein Primitiver keine Seele besitzt, oder dass sich bei ihm nirgendwo eine Seele zeigt.

Das innere Wesen setzt sich aus dem inneren Mental, dem inneren Vital und dem inneren Physischen zusammen – doch dies ist nicht das seelische Wesen. Die Seele ist das innerste Wesen und von jenen ganz verschieden. Im Englischen wird das Wort „Seele“ tatsächlich für alles gebraucht, das etwas anderes oder Tieferes als das äußere Mental und Leben und den äußeren Körper bezeichnet, für alles Okkulte und Überphysische; doch diese Ausdrucksweise bringt Verwirrung und Fehler mit sich, und wenn wir über den Yoga sprechen oder schreiben, müssen wir sie gänzlich fallenlassen. In der gewöhnlichen Umgangssprache mag ich manchmal das Wort „seelisch“ in einem freieren, populäreren Sinn gebrauchen; oder aber in der Poesie, die an intellektuelle Genauigkeit nicht gebunden ist, spreche ich manchmal von der Seele in einem mehr allgemeinen und äußerlichen Sinn, jedoch genauso in ihrer wahren Bedeutung.

Das seelische Wesen ist durch Oberflächenregungen verhüllt und drückt sich, so gut es kann, durch seine äußeren Instrumente aus, die aber eher durch von außen wirkende Kräfte als durch die inneren Einflüsse der Seele gelenkt werden. Doch dies bedeutet nicht, dass sie von der Seele völlig abgeschnitten sind. Die Seele befindet sich ebenso im Körper wie das Mental oder Vital –, doch ist der Körper, in dem sie wohnt, nicht allein dieser grobstoffliche Rahmen, sondern auch der feinstoffliche Körper. Sobald die grobstoffliche Hülle abfällt, bleiben die vitalen und mentalen Hüllen des Körpers als Gefäß der Seele noch bestehen, bis auch diese sich auflösen.

Die Seele einer Pflanze oder eines Tieres kann man nicht insgesamt als schlummernd bezeichnen – ihre Ausdrucksmittel sind lediglich weniger entwickelt als die eines menschlichen Wesens. Es gibt viel Seelisches in der Pflanze, viel Seelisches im Tier. Die Pflanze aber hat in ihrer Form nur das Vital-Physische entwickelt, daher kann sie sich nicht ausdrücken; das Tier hat ein vitales Mental und kann sich zwar ausdrücken, doch ist sein Bewusstsein begrenzt, seine Erfahrungen sind begrenzt, und daher verfügt die Seelenessenz über ein weniger entwickeltes Bewusstsein, eine weniger entwickelte Erfahrung als diejenige, die im Menschen vorhanden oder zumindest möglich ist. Und dennoch haben Tiere eine Seele und können bereitwillig auf die Seele im Menschen ansprechen.

Ein Geist (ghost) ist natürlich nicht die Seele. Er ist entweder der Mensch, der in seinem vitalen Körper erscheint, oder er ist ein Fragment seines Vitals, das von einer vitalen Kraft oder Wesenheit benützt wird. Unser vitales Wesen besteht normalerweise nach der Auflösung des Körpers eine Zeit lang fort und geht dann in die vitale Ebene ein, wo es bleibt, bis sich die vitale Hülle auflöst. Dann begibt sich die Seele, sofern sie mental entwickelt ist, in die mentale Hülle zur mentalen Welt, und schließlich verlässt sie auch ihre mentale Hülle und begibt sich zu ihrem Ort der Ruhe. Bei einem stark entwickelten Mental kann unser mentaler Teil auch bei der Seele bleiben, genau wie der vitale; Voraussetzung dafür ist, dass sie vom seelischen Wesen geformt und um dieses zentriert sind –, dann teilen sie die Unsterblichkeit der Seele. Andernfalls nimmt die Seele die Essenz von Mental und Leben in sich auf und begibt sich zu einer zwischengeburtlichen Ruhe.

SRI AUROBINDO (22:293)

*

In der Erfahrung des Yoga ist das Selbst oder Wesen essentiell eins mit dem Göttlichen oder zumindest ein Teil des Göttlichen und im Besitz aller göttlichen Macht. Doch in der Manifestation nimmt es zwei Aspekte an, den des purusa und den der prakrti, das bewusste Wesen und die Natur. Hier in der Natur ist das Göttliche verhüllt und das individuelle Wesen der Natur unterworfen, die als niedere prakrti wirkt, als eine Kraft der Unwissenheit, avidya. Der purusa als solcher ist göttlich, doch in seiner äußeren Gestalt in der Unwissenheit der Natur ist er die scheinbare Individualität, unvollkommen durch ihre Unvollkommenheit. Daher birgt die Seele oder seelische Essenz – die der purusa ist, der in die Evolution eintritt und diese stützt – in sich alle göttlichen Möglichkeiten; doch das individuelle seelische Wesen, das die Seele vertritt, nimmt die Unvollkommenheit der Natur an und entfaltet sich in ihr, bis es seine volle seelische Essenz wiedergefunden und sich mit dem Selbst darüber, dessen individuelle Projektion in der Evolution es ist, geeint hat. Diese Dualität im Wesen auf all seinen Ebenen – denn dies trifft auf andere Art und Weise nicht nur für das Selbst und die Seele zu, sondern auch für den mentalen, vitalen und physischen purusa – muss erkannt und angenommen werden, bevor die Erfahrungen des Yoga voll verstanden werden können.

Das Wesen ist durch und durch eins, doch auf jeder Ebene der Natur wird es durch eine Form seiner selbst vertreten, welche jener Ebene entspricht, dem mentalen purusa auf der mentalen Ebene, dem vitalen purusa auf der vitalen Ebene, dem physischen purusa auf der physischen Ebene. Die Taittiriya Upanishad spricht von zwei weiteren Ebenen des Wesens, der Ebene des Wissens oder der Wahrheit und der Ananda-Ebene, jede mit ihrem purusa; diese sind jedoch, obwohl Einflüsse von ihnen herabkommen können, für das menschliche Mental überbewusst, und ihre Natur ist bislang hier noch nicht geformt.

SRI AUROBINDO (22:284)

* * *

1 Die citta und der seelische Teil sind ganz und gar nicht das gleiche. Citta ist ein Ausdruck aus einer völlig anderen Kategorie; in ihr werden die hauptsächlichen Funktionen unseres äußeren Bewusstseins koordiniert und geordnet, und um sie zu erkennen, brauchen wir nicht hinter unsere Oberfläche oder äußere Natur zu gehen. „Kategorie“ bedeutet hier eine andere Klasse psychologischer Faktoren, tattva-vibhaga. Die Seele gehört zu einer Klasse – Supramental, Mental, Leben, Seele, Körper – und bezieht sowohl die innere als auch die äußere Natur mir ein. Citta gehört einer ganz anderen Klasse oder Kategorie an – buddhi, manas, citta, prana usw. –, dies ist die Klassifikation der gewöhnlichen indischen Psychologie des äußeren Wesens. In dieser Kategorie werden von den indischen Denkern nur die Hauptfunktionen unseres äußeren Bewusstsein koordiniert und geordnet; citta ist eine der hauptsächlichen Funktionen dieses äußeren Bewusstseins, wir brauchen daher, um sie zu erkennen, uns nicht hinter unsere äußere Natur zu wenden.

2 Mit Solarplexus meint die Mutter die Herz- (nicht die Nabel-) Region. Das geht aus einer anderen Äußerung hervor, wo sie sagt: „Im Allgemeinen ist es im Herzen, hinter dem Solar-Plexus, wo man diese leuchtende Gegenwart findet. Siehe auch die Antwort zu der Frage: „Ist das seelische Wesen im Herzen?“ (S. 146)