Yoga und Religion

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Yoga

“All life is Yoga.” – Sri Aurobindo

Yoga und Religion

Sri Aurobindo | Die Mutter


SRI AUROBINDO

DIGITAL EDITION


Copyright 2020

AURO MEDIA

Verlag und Fachbuchhandel

Wilfried Schuh

www.auro.media

eBook Design


SRI AUROBINDO DIGITAL EDITION

Deutschland, Berchtesgaden

ALLES LEBEN IST YOGA

Yoga and Religion Auszüge aus den Werken von Sri Aurobindo und der Mutter 1. Aufl. 2020 ISBN 978-3-96387-057-6


© Fotos und Textauszüge Sri Aurobindos und der Mutter:

Sri Aurobindo Ashram Trust

Puducherry, Indien


Blume auf dem Cover:

Wrightia tinctoria. Weiß. Die von der Mutter gegebene spirituelle Bedeutung: Religiöser Gedanke Kann nur verwendet werden, wenn er vom Einfluss der Religionen befreit ist.

Anmerkung des Herausgebers

Einfache Auszüge aus den Werken Sri Aurobindos und der Mutter sollen für die Sadhana eine praktische Orientierung zu bestimmten Themen geben. Die Themen behandeln das gesamte Feld menschlicher Aktivitäten, denn wahre Spiritualität ist nicht eine Abkehr vom Leben, sondern die Kunst, das Leben zu vervollkommnen.

Die Übersetzung der Textstellen von Sri Aurobindo erfolgte aus dem ursprünglichen Englisch, während die meisten Passagen der Mutter bereits Übersetzungen aus dem Französischen waren. Fast alle Texte der Mutter wurden ihren Gesprächen, die sie mit Kindern und Erwachsenen führte, entnommen, einige ihren Schriften. Wir müssen außerdem berücksichtigen, dass die Auszüge ihrem ursprünglichen Zusammenhang entnommen wurden und dass jede Zusammenstellung ihrer Natur nach möglicherweise einen persönlichen und subjektiven Charakter hat. Es wurde jedoch der aufrichtige Versuch unternommen, der Vision Sri Aurobindos und der Mutter treu zu bleiben.

Die Textauszüge sind vom Verlag zum Teil mit Kapiteln und Überschriften versehen worden, um ihre Themen hervorzuheben. Sofern es möglich war, wurden sie in Anlehnung eines Satzes aus dem Text selbst gewählt.

Sri Aurobindo und die Mutter machen von der in der englischen Sprache gegebenen Möglichkeit, Wörter groß zu schreiben, um ihre Bedeutung hervorzuheben, häufig Gebrauch. Mit dieser Großschreibung bezeichnen sie meist Begriffe aus übergeordneten Daseinsbereichen, doch auch allgemeine wie Licht, Friede, Kraft usw., wenn sie ihnen einen vom üblichen Gebrauch abweichenden Sinn zuordnen. Diese Begriffe wurden in diesem Buch kursiv hervorgehoben, um dem Leser zu einer leichteren Einfühlung in diese subtilen Unterscheidungen zu verhelfen.

Eckige Klammern bezeichnen Einfügungen des Übersetzers, die um des besseren Verständnisses willen angebracht erschienen. Einige wenige Sanskritwörter wie Sadhana, Sadhaka, Yoga usw. wurden eingedeutscht, da sie durch ihren häufigen Gebrauch bereits als Bestandteil der deutschen Sprache angesehen werden können. Alle anderen Sanskritwörter sind kursiv hervorgehoben, wobei auf diakritische Transkriptionszeichen verzichtet wurde.

Die kursiv geschriebenen Textpassagen vor den Worten Sri Aurobindos und der Mutter sind Fragen bzw. Antworten von Schülern oder sonstige erläuternde Texte.

„Wahre Spiritualität bedeutet nicht, dem Leben zu entsagen, sondern das Leben mit einer Göttlichen Vollkommenheit zu vollenden.“ – Die Mutter

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InhaltTitelseiteCopyrightAnmerkung des HerausgebersZitateI. WORTE DER MUTTER1. Unterschied zwischen Yoga und Religion2. Die Wesensart der Religion3. Ein fundamentaler Irrtum der Religion4. Die Wesensart des Yoga5. Freiheit und Fatalismus: Das Ziel des Yoga6. Die Geschichte von zwei Geistlichen auf einem Schiff7. Die Atmosphäre in Sakralbauwerken8. Himmel und Hölle, geschaffen von Religionen9. Die Idee der Entsagung und des Nirvana in den Religionen10. Der Unterschied zwischen Moralität und Spiritualität11. Ist Sri Aurobindos Lehre eine neue Religion?12. Die Zukunft der ReligionenII. WORTE SRI AUROBINDOS1. Was ist Spiritualität?2. Das spirituelle, das religiöse und das gewöhnliche Leben3. Was ist Religion?4. Fragen und Antworten5. Religiöser Fanatismus6. Religion als Lebensgesetz7. Die spirituelle RevolutionANHANGQuellenangabenGuideCoverInhaltsverzeichnisStart


Im Wesentlichen ist Yoga ein allgemeiner Name für die Prozesse und das Ergebnis von Prozessen, durch die wir unseren gegenwärtigen Seinsmodus transzendieren oder abwerfen und zu einem neuen, höheren, umfassenderen Bewusstseinsmodus aufsteigen, der nicht dem des normalen tierischen und intellektuellen Menschen entspricht. Yoga ist der Austausch eines egoistischen für ein universelles oder kosmisches Bewusstsein, das auf das suprakosmische, transzendente Unbenennbare, das die Quelle und Stütze aller Dinge ist, ausgerichtet oder von diesem beeinflusst wird. Yoga ist der Übergang des menschlichen denkenden Tieres zum Gott-Bewusstsein, aus dem es hervorgegangen ist. — Sri Aurobindo

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„Religion“ nennen wir jede Vorstellung von der Welt oder dem Universum, die als die ausschließliche Wahrheit dargestellt wird, in der man absoluten Glauben haben muss, weil man im Allgemeinen diese Wahrheit als das Ergebnis einer Offenbarung erklärt. — Die Mutter

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Teil I

Die Zeit der Religionen ist vorbei. Wir sind in das Zeitalter der universellen Spiritualität eingetreten, der spirituellen Erfahrung in ihrer ursprünglichen Reinheit. — Die Mutter

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Kapitel 1
Unterschied zwischen Yoga und Religion

Liebe Mutter, was ist der Unterschied zwischen Yoga und Religion?

Oh, mein Kind! ... Das ist, als ob du mich fragtest: Was ist der Unterschied zwischen einem Hund und einer Katze!

Stelle dir jemanden vor, der irgendwie von so etwas wie dem Göttlichen gehört oder der persönlich das Gefühl hat, dass es so etwas wie einen Gott gibt, und der allerhand Mühen auf sich zu nehmen beginnt: Anstrengungen des Willens, der Disziplin, der Konzentration, alle möglichen Bemühungen, dieses Göttliche zu finden, um zu entdecken, was Es ist, um Einsicht in Es zu gewinnen und sich mit Ihm zu vereinigen. Dann macht diese Person Yoga.

Wenn nun diese Person alle Verfahren, die sie anwandte, aufgeschrieben hat, und wenn sie ein festes System errichtet, und wenn sie alles, was sie entdeckt hat, zu absoluten Gesetzen erhebt – sie sagt etwa: „Das Göttliche ist so und so, um das Göttliche zu finden, muss man es so und so machen, die und die Gebärde ausführen, die und die Haltung einnehmen, die und die Zeremonie vollziehen“, und man muss dies als die Wahrheit annehmen und sagen: „Ich erkenne dies als die Wahrheit an, und ich bin ganz und gar ihr Anhänger, und diese Methode ist die einzig richtige, die einzige, die es gibt“ –, wenn dies alles niedergeschrieben, geordnet und mit festgelegten Gesetzen und Zeremonien geregelt ist, wird das eine Religion.

 

* * *

Kapitel 2
Die Wesensart der Religion

Was ist eigentlich die Wesensart der Religion? Ist sie ein Hindernis auf dem Weg des spirituellen Lebens?

Religion gehört zum höheren Mental der Menschheit. Sie stellt die Bemühung des Menschen dar, sich seiner Kraft entsprechend einer Sache zu nähern, die ihn übersteigt und der er Namen wie Gott, Geist, Wahrheit, Glaube, Wissen oder Unendliches gibt, eine Art Absolutes, das das menschliche Mental nicht erreichen kann und dennoch zu erreichen strebt. Religion mag in ihrem Ursprung göttlich sein. Ihrer gegenwärtigen Natur nach ist sie nicht göttlich, sondern menschlich. Wir sollten wohl eher von Religionen sprechen als von der Religion, denn der Mensch hat unzählige Religionen geschaffen. Sie wurden fast alle auf dieselbe Art gemacht, wenn auch ihr Ursprung nicht der gleiche ist. Es ist bekannt, wie die christliche Religion entstanden ist. Bestimmt ist nicht Jesus für das verantwortlich, was man Christentum nennt. Einige sehr gelehrte und gewitzte Leute steckten ihre Köpfe zusammen und konstruierten das, was wir heute sehen. Da war nichts Göttliches in der Art, wie es gebildet wurde, und auch nicht in der Art, wie es funktioniert. Und dennoch war die Rechtfertigung oder der Anlass seines Entstehens zweifellos eine Verkündigung, die von einem solchen Göttlichen Wesen stammt, einem Wesen von anderswoher, das der Erde aus einer höheren Region ein bestimmtes Wissen, eine bestimmte Wahrheit brachte. Es kam und litt für seine Wahrheit. Aber sehr wenige begriffen, was Jesus sagte, sehr wenige bemühten sich, die Wahrheit zu finden, für die er gelitten hatte, und sich danach zu richten. Buddha zog sich aus der Welt zurück. Er setzte sich in Meditation und entdeckte einen Weg, der aus dem irdischen Leiden und Elend, aus Krankheit, Tod, Begehren, Sünde und Hunger hinausführt. Er sah eine Wahrheit, die er den um ihn versammelten Jüngern und Eingeweihten mitzuteilen versuchte. Aber schon vor seinem Tode war die Lehre von ihrem wirklichen Sinn abgewichen. Erst nach dem Ableben von Buddha trat der Buddhismus als ausgerüstete Religion auf, gegründet auf angebliche Aussprüche des Meisters und deren vermutliche Bedeutung. Weil sich aber die Jünger – und die Jünger der Jünger – nicht darüber einig waren, was ihr Meister gesagt oder gemeint habe, entstand bald ein Heer von Sekten und Untersekten im Körper der Mutterreligion – das „Kleine Fahrzeug“ oder der Südliche Pfad, das „Große Fahrzeug“ oder der Nördliche Pfad, die zahlreichen Pfade des Fernen Ostens –, jede mit dem Anspruch, die einzige, ursprüngliche, reine Lehre des Buddha zu sein. Dem, was Christus gelehrt hat, ist das gleiche Schicksal widerfahren. Auch da gingen zahllose kleine Kirchen aus der ersten Religion hervor. Es wird oft gesagt, dass Jesus, kehrte er wieder, seine Lehre unter all den Verkleidungen nicht wiedererkennen würde. Und Buddha, käme er wieder auf die Erde und sähe, was man aus seiner Lehre gemacht hat, liefe entmutigt gleich wieder ins Nirvana zurück. Von jeder Religion kann man dieselbe Geschichte erzählen. Der Anlass zu ihrer Entstehung ist die Ankunft eines großen Weltlehrers. Er verkörpert eine Göttliche Wahrheit und sucht sie zu enthüllen, doch die Menschen reißen sie an sich, nutzen sie aus und ziehen eine gleichsam politische Organisation auf. Sie versehen sie mit Regierung, Verwaltung und Gesetzen, Glaubensartikeln und Dogmen, Regeln und Reglementen, Riten und Zeremonien – alles den Gläubigen als absolut und unantastbar vorgeschrieben. Wie der Staat, so verteilt auch die so errichtete Religion Belohnungen an den Getreuen und Strafen an den, der sich auflehnt oder irregeht, den Ketzer, den Abtrünnigen.

Der erste und hauptsächliche Glaubensartikel dieser etablierten und formellen Religionen pflegt zu sein: „Meine Religion besitzt die höchste, die einzige Wahrheit. Alle anderen stecken in der Lüge oder stehen jedenfalls tiefer.“ Denn ohne dieses grundlegende Dogma hätte keine auf dem Glauben errichtete Religion fortbestehen können. Wenn du nicht davon überzeugt bist und nicht verkündest, dass du allein die höchste, die einzige Wahrheit besitzt, kannst du die Leute nicht so beeindrucken, dass sie dir in Scharen zulaufen.

Diese Einstellung ist für die religiöse Mentalität ganz natürlich, doch stellt gerade sie die Religion in Gegensatz zum spirituellen Leben. Die Glaubensartikel und Dogmen einer Religion sind Erzeugnisse des denkenden Mentals, und wenn du ihnen zu große Wichtigkeit beilegst und dich in einen fix und fertigen Lebenskodex einschließt, kennst du die Wahrheit des Geistes nicht – und kannst sie auch gar nicht kennen –, die frei und weit über allen Vorschriften und Dogmen steht. Wenn du bei einem religiösen Glauben haltmachst, dich an ihn bindest und ihn für die einzige Wahrheit auf der Welt nimmst, hältst du damit zugleich das Voranschreiten und die Entfaltung deines inneren Wesens auf. Von einem anderen Gesichtspunkt aus betrachtet, braucht die Religion jedoch nicht unbedingt jeden am Fortschritt zu hindern. Sieht man sie als eine der höchsten Betätigungen der Menschheit an und kann man in ihr die Sehnsüchte der Menschen erkennen, ohne deshalb vor dem Unvollkommenen allen Menschenwerks die Augen zu verschließen, kann sie gut ihren Platz unter den Dingen einnehmen, die auf das spirituelle Leben vorbereiten. Wendet man sich ihr ernst und einsichtig zu, kann man darin die Wahrheit entdecken, die hinter den Formen versteckte Sehnsucht und die ihr zugrundeliegende Eingebung, die durch menschliche Einmischung, Auslegung und Organisation so viele Entstellungen erlitten hat, und bei einer entsprechenden Geisteshaltung kann die Religion, auch so wie sie ist, Licht auf den Weg werfen und dem spirituellen Bemühen als Hilfe dienen.

In allen Religionen findet man Menschen mit großem emotionalen Vermögen und wirklicher Inbrunst und Aspiration, die aber nur einen ganz einfachen Geist haben und kein Bedürfnis verspüren, sich dem Göttlichen auf dem Weg des Wissens zu nähern. Für solche Naturen ist die Religion nützlich und meistens sogar nötig, denn durch äußere Formen wie die Kirchenzeremonien bietet sie ihrer inneren, spirituellen Sehnsucht eine Art Hilfe und Stütze. In allen Religionen gibt es auch Gläubige, die ein hohes spirituelles Leben entwickelt haben. Doch hat nicht die Religion ihnen ihre Spiritualität gegeben, sondern sie haben ihre Spiritualität in die Religion hineingelegt. Irgendwohin versetzt, in irgendeinen beliebigen Kult hineingeboren, hätten sie dasselbe spirituelle Leben gefunden und gelebt. Ihr eigenstes Vermögen, die Kraft ihres inneren Wesens, hat sie zu dem gemacht, was sie sind, nicht aber die Religion, zu der sie sich bekennen. Dies Vermögen in ihnen bewahrt sie davor, dass die Religion für sie zur Sklaverei wird. Nur eben, weil ihr Mental weder stark noch klar noch tätig ist, haben sie es nötig, dieses oder jenes Dogma für den Ausdruck einer absoluten Wahrheit zu halten, um sich ihm ohne Frage und ohne störende Zweifel anheimzugeben. In allen Religionen bin ich solchen Leuten begegnet, und es wäre ein Verbrechen, sie in ihrem Glauben zu behelligen. Für sie ist die Religion kein Hindernis. Im Weg steht sie denen, die das Vermögen haben weiterzugehen. Aber jenen, die nicht über sie hinausschreiten und dennoch bis zu einem gewissen Punkt auf dem Wege des Geistes vorankommen können, ist sie oft eine Hilfe. Die Religion ist Anstifterin der schlimmsten und der besten Dinge gewesen. In ihrem Namen haben die mörderischsten Kriege und die scheußlichsten Verfolgungen gewütet. Aber welch erhabenen Heldenmut, welch höchste Selbstaufopferung hat sie nicht auch hervorgerufen? Zusammen mit der Philosophie bezeichnet Religion die Grenze, die das menschliche Mental bei seinen höchsten Betätigungen erreicht hat. Sie ist Hindernis und Fessel, wenn du ihrer äußeren Form versklavt bist. Weißt du aber ihren inneren Gehalt zu verwerten, kann sie dir als Sprungbrett in die Reiche des Geistes dienen.

Wer bei einer bestimmten Glaubensform stehenbleibt oder irgendeine Wahrheit entdeckt hat, ist immer geneigt zu meinen, er allein habe die Wahrheit voll und ganz gefunden. Das ist die menschliche Natur. Eine Beimischung von Lüge scheinen die Menschen zu brauchen, damit sie sich aufrecht halten und voranschreiten auf ihrem Weg. Würde ihnen die Schau der Wahrheit auf einmal zuteil, würden sie von ihrem Gewicht erdrückt.

Jedes Mal, wenn ein Stück der Göttlichen Wahrheit und Göttlichen Kraft herabkommt, um sich auf Erden zu offenbaren, wird eine Veränderung in der irdischen Atmosphäre bewirkt. Alle, die empfänglich sind und mit dieser Herabkunft in Fühlung kommen, erwachen zu einer Inspiration, einem Beginn von Schau. Vermöchten sie das Empfangene richtig zu fassen und auszudrücken, würden sie sagen: „Eine große Kraft ist herabgekommen, mit der ich in Fühlung stehe, und was ich davon begreife, will ich euch sagen.“ Aber die meisten von ihnen können es nicht dabei bewenden lassen, weil sie einen kleinen mentalen Geist haben. Sie werden erleuchtet, besessen und schreien: „Ich habe die Göttliche Wahrheit, ich besitze sie ganz und gar.“ Es gibt jetzt auf Erden mindesten zwei Dutzend Christusse und vielleicht ebensoviele Buddhas. Indien allein kann jede Menge Avatare liefern, nicht zu sprechen von geringeren Verkörperungen. So betrachtet, sieht die Sache grotesk aus. Schaut man aber hinter die Oberfläche, ist das gar nicht so dumm, wie es auf den ersten Blick scheint. Diese menschlichen Personen sind tatsächlich mit einem Wesen, einer Kraft in Kontakt getreten, und je nach Erziehung und Tradition nennen sie sie Buddha, Christus oder nutzen irgendeinen anderen vertrauten Namen. Man kann schwerlich prüfen, ob sie mit Buddha oder Christus selbst in Verbindung getreten sind. Aber ebenso wenig kann jemand behaupten, die von ihnen empfangene Eingebung stamme nicht aus derselben Quelle, von der Christus oder Buddha inspiriert waren. Diese menschlichen Werkzeuge können sehr wohl mit einer solchen Quelle in Verbindung gekommen sein. Wenn sie schlicht und bescheiden wären, würden sie sich damit begnügen zu sagen, was ihnen widerfahren ist, und weiter nichts. Sie würden erklären: „Ich habe diese Eingebung von jenem Großen Wesen erhalten.“ Stattdessen aber verkünden sie: „Ich bin jenes Große Wesen.“ Ich habe einen gekannt, der behauptete, Christus und Buddha zugleich zu sein. Er hatte wirklich etwas empfangen, seine Erfahrung war echt. Er hatte die Göttliche Gegenwart in sich und in den anderen gesehen. Aber die Erfahrung war zu stark für ihn, die Wahrheit zu groß. Sein mentaler Geist verwirrte sich, und am nächsten Tag ging er auf die Straße und posaunte aus, in ihm seien Christus und Buddha eins geworden.

Das Eine Göttliche Bewusstsein arbeitet hier in all diesen Wesen, bereitet seinen Weg durch all diese Offenbarungen. Heute ist es auf Erden machtvoller am Werk denn je zuvor. Einige werden von ihm in gewissem Grade irgendwie berührt, entstellen aber, was sie empfangen, und machen etwas Eigenes daraus. Andere spüren den Kontakt, können jedoch die Kraft nicht aushalten und verlieren unter dem Druck den Verstand. Wenige haben die Fähigkeit, zu empfangen, und die Stärke, zu ertragen, und sie sind es, die Gefäße des vollen Wissens werden, seine Werkzeuge, seine erwählten Mittler.

Willst du den wahren Wert der Religion erkennen, in der du geboren und erzogen worden bist, oder das Land und die Gesellschaft, dem du durch Geburt angehörst, richtig einschätzen – willst du dir darüber klar werden, wie bedingt die Umgebung ist, in der du auf die Welt kamst und aufgewachsen bist, dann brauchst du nur um die Erde zu reisen, und du stellst fest, dass das, was du für gut hieltest, woanders als schlecht gilt, und was am einen Ort geschätzt wird, am anderen verpönt ist. Alle Nationen und alle Religionen sind gleichermaßen auf einer Masse von Überlieferungen errichtet. In allen begegnest du Heiligen und Helden, großen und starken Persönlichkeiten wie auch engherzigen und bösartigen Menschen. Dann begreifst du, wie lächerlich es ist zu sagen: „In dieser Religion bin ich erzogen worden, folglich ist sie die einzig wahre; in diesem Land bin ich geboren, darum ist es das beste aller Länder.“ Dasselbe könnte man genauso für seine Familie in Anspruch nehmen und erklären: „Ich gehöre zu dieser Familie, die an diesem Ort seit so vielen Jahren oder Jahrhunderten gelebt hat. Infolgedessen bin ich an ihre Überlieferungen gebunden, sie allein sind vorbildlich.“

 

Alles bekommt erst dann einen inneren Wert und wird wirklich für dich, wenn du es durch freie Wahl erworben hast, und nicht, wenn es dir aufgedrängt worden ist. Willst du dir deiner Religion gewiss sein, musst du sie wählen. Willst du dir deiner Heimat gewiss sein, musst du sie wählen. Ja, willst du dir deiner Familie gewiss sein, musst du sogar diese wählen. Denn wenn du ohne Frage annimmst, was der Zufall dir gebracht hat, kannst du dir nicht sicher sein, ob es gut oder schlecht für dich, ob es die Wahrheit deines Lebens ist. Tritt einen Schritt zurück, aus allem heraus, was deine natürliche Umgebung, dein atavistisches Erbe ausmacht, das vom blinden und mechanischen Marsch der Natur erzeugt und dir aufgezwungen worden ist. Tritt in dich selbst ein und betrachte all diese Dinge ruhig und ohne Leidenschaft. Wäge sie gegeneinander ab und wähle frei. Dann kannst du wahrhaft sagen: „Das ist meine Familie, meine Heimat, meine Religion.“

Haben wir ein Stück Weges in uns zurückgelegt, entdecken wir, dass es in jedem von uns ein Bewusstsein gibt, das durch die Zeitalter hindurch gelebt und sich in vielen Formen offenbart hat. Jeder von uns ist in zahlreichen Ländern geboren worden, hat zu mancherlei Völkern gehört, an die verschiedensten Religionen geglaubt. Warum sollten wir das Letzte für das Beste nehmen? Die Erfahrungen, die wir während all dieser Leben in den verschiedensten Gegenden und Religionen gesammelt haben, sind in der inneren Kontinuität bewahrt, die durch alle Geburten anhält. Es gibt in uns viele Persönlichkeiten, die durch diese früheren Erfahrungen geschaffen wurden, und werden wir ihrer bewusst, ist es uns nicht mehr möglich, von einer bestimmten Form der Wahrheit als der einzigen Wahrheit zu sprechen, von einem Land als unserer einzigen Heimat, von einer Religion als der einzig wahren. Es gibt Leute, deren wichtigste Bewusstseinselemente offensichtlich zu einem anderen Land gehören als dem, worin sie geboren wurden. Ich habe welche getroffen, die in Europa geboren und dennoch ganz klar Inder waren. Ich bin anderen begegnet, die einen indischen Körper angenommen hatten und doch zweifellos Europäer waren. Unter den Japanern habe ich manche gesehen, die Inder, andere, die Europäer waren. Und wenn irgendjemand von ihnen in das Land oder die Kultur geht, womit er innerlich verwandt ist, fühlt er sich dort völlig zuhause.

Ist es dein Ziel, frei zu sein mit der Freiheit des Geistes, musst du dich von allen Banden lösen, die nicht zur inneren Wahrheit deines Wesens gehören, sondern unterbewussten Gewohnheiten entstammen. Willst du dich vollständig, absolut und ausschließlich dem Göttlichen weihen, tue es ganz und aufrichtig. Lass nicht Teile von dir hier und da verkettet bleiben. Du magst einwenden, es sei nicht leicht, mit allen Bindungen radikal zu brechen. Aber hast du in deinem Leben zurückgeblickt und die Veränderungen bemerkt, die in dir im Laufe weniger Jahre stattgefunden haben? Tust du dies, so fragst du dich fast immer, wie du nur so fühlen und handeln konntest, wie du es unter gewissen Umständen getan hast, und manchmal erkennst du dich in der Person, die du noch vor zehn Jahren warst, nicht mehr wieder. Wie willst du dich also an das binden, was war oder ist? Und wie willst du im Voraus festlegen, was in Zukunft sein kann oder nicht?

All deine Beziehungen müssen auf innerer Freiheit und Wahl neu begründet werden. Die Überlieferungen, in denen du lebst oder erzogen worden bist, sind dir durch den Druck der Umgebung, die allgemeine Vorstellung oder die Wahl anderer auferlegt worden. Da ist unweigerlich ein Zwangselement in deiner Zustimmung. Auch die Religion ist den Menschen auferlegt worden. Meist wird sie durch religiöse Furcht, spirituelle oder sonstige Bedrohung aufrechterhalten. Es darf aber in deiner Beziehung mit dem Göttlichen keinerlei Nötigung dieser Art geben. Sie muss frei sein, Ergebnis der Wahl deines Mentals oder Herzens, voll Enthusiasmus und Freude. Was für eine Verbindung ist das, von der man schaudernd sagt: „Ich bin dazu verpflichtet, ich darf nicht anders.“? Die Wahrheit leuchtet von selbst ein und braucht der Welt nicht auferlegt zu werden. Sie hat es durchaus nicht nötig, von den Menschen akzeptiert zu werden, denn sie besteht aus sich selbst. Sie hängt nicht davon ab, was die Leute sagen, bedarf keiner Zustimmung. Wer hingegen eine Religion gründet, braucht viele Anhänger. Macht und Größe einer Religion wird von den Menschen nach ihrer zahlenmäßigen Stärke bemessen, obwohl es darauf bei wahrer Größe nicht ankommt. Die Größe des spirituellen Lebens liegt nicht in der Zahl. Ich habe das Haupt einer neuen Religion gekannt, den Sohn ihres Gründers, und ihn sagen hören, dass die und die Religion soundso viele Jahrhunderte zu ihrer Errichtung gebraucht habe, während seine, erst 50 Jahre alt, schon über vier Millionen Anhänger habe. „Daran sehen Sie“, fügte er hinzu, „wie groß unsere Religion ist!“ Religionen mögen zwar ihre Größe nach der Zahl ihrer Anhänger berechnen, die Wahrheit aber bleibt immer die Wahrheit, auch wenn sie keinen einzigen Jünger hätte. Der Durchschnittsmensch wird von denen angelockt, die groß angeben. Er geht nicht dahin, wo die Wahrheit sich leise offenbart. Jene, die Großes vorgeben, müssen es laut proklamieren, denn wie könnten sie sonst die Menge anziehen? Die Arbeit, die unbekümmert um das getan wird, was die Leute davon halten, ist nicht sehr bekannt und zieht nicht so leicht Massen an. Allein die Wahrheit braucht keine Reklame. Sie verbirgt sich nicht, aber sie drängt sich auch nicht auf. Es genügt ihr, sich zu offenbaren, ohne sich um die Ergebnisse zu kümmern, ohne Beifall zu suchen oder Ablehnung zu meiden, weder verlockt noch verstört von der Billigung oder Missbilligung der Welt.

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