Weihnachtsgeschichten

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Der Geist stand zwischen den Gräbern still und wies auf eines hernieder. Scrooge nahte sich ihm zitternd. Der Geist war noch ganz so wie ehedem, aber er ahnte erschauernd eine neue Bedeutung in der düstern Gestalt.

»Ehe ich zu dem Stein trete, den du mir weisest«, sagte Scrooge, »beantworte mir eine Frage. Sind dies ... die Schatten der Dinge, die sein werden, oder nur von Dingen, die sein können?«

Beharrlich schweigend deutete der Geist auf das Grab herab, vor dem sie standen.

»Die Wege des Menschen führen zu einem unvermeidlichen Ziel, wenn man auf ihnen beharrt«, sagte Scrooge. »Aber wenn man einen anderen Weg einschlägt, ändert sich das Ziel. Sage, ist dies auch mit dem der Fall, was du mir zeigen wirst?«

Der Geist blieb so unbeweglich wie bisher.

Scrooge näherte sich zitternd dem Grab, und als er der Richtung des Fingers folgte, las er auf dem Stein des öden Grabes seinen eigenen Namen: »Ebenezer Scrooge«.

»Bin ich es, der auf jenem Sterbebett lag?« rief er und sank in die Knie.

Der Finger deutete von dem Grabe auf ihn und wieder zurück.

»Nein, das kann nicht sein, Geist, o nein!«

Der Finger verharrte wie vorher.

»Geist«, rief er verzweifelt und packte das Gewand der Erscheinung, »ich bin nicht mehr der Mensch, der ich ehedem war. Ich will ein anderer Mensch werden, als ich vor diesen Tagen war. Warum zeigst du mir das, wenn alle Hoffnung umsonst ist?«

Zum erstenmal schien jetzt die Hand zu beben.

»Guter Geist«, fuhr er fort, noch immer auf den Knien liegend, »dein eigenes Gemüt bittet für mich und hat Mitleid mit mir. Gib mir nur die Gewißheit, daß ich durch ein verändertes Leben die Schatten, die du mir gezeigt hast, ändern kann!«

Die gütige Hand zitterte stärker.

»Ich will Weihnachten in meinem Herzen ehren und versuchen, stets in seinem Sinn zu leben. Ich will in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft leben. Die Geister von allen dreien sollen mir helfen. Ich will mein Herz ihren Lehren nicht verschließen. Oh, sage mir, ob ich die Schrift auf diesem Steine noch zu tilgen vermag.«

In seiner Angst griff er nach der gespenstischen Hand. Sie versuchte, sich von ihm loszumachen, aber er war kräftig in seinem Flehen und hielt sie fest. Der Geist, noch stärker, stieß ihn zurück.

Als Scrooge seine Hände zu einem letzten Flehen um Änderung seines Schicksals emporhob, sah er die Erscheinung sich verändern. Das einhüllende Gewand sank zusammen, der riesige Körper verging in Nebel und schwand schließlich zu einem Bettpfosten zusammen.

Fünftes Kapitel

Das Ende des Liedes.

Ja, und es war sein eigener Bettpfosten. Es war sein Bett und sein Zimmer. Und was das Glücklichste und Herrlichste war, die Zukunft war sein, damit er sich bessern könne.

»Ich will in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft leben«, wiederholte Scrooge, als er aus dem Bett stieg. »Die Geister von allen dreien sollen in mir wirken. Oh, Jakob Marley, der Himmel und die Weihnachtszeit seien dafür gepriesen! Ich rufe es auf meinen Knien, alter Jakob, auf meinen Knien.«

Er war von seinen guten Vorsätzen so erregt und begeistert, daß seine bebende Stimme ihm kaum gehorchen wollte. Er hatte während seines Ringens mit dem Geiste heftig geweint, und sein Gesicht war noch naß von den Tränen.

»Sie sind nicht herabgerissen«, rief Scrooge, eine der Bettgardinen an die Brust drückend, »sie sind nicht herabgerissen. Sie sind noch da, ich bin noch da, die Schatten der Dinge, die noch kommen, können vertrieben werden. Ja, ich weiß es sicherlich, ich weiß es.«

Währenddessen beschäftigten sich seine Hände mit den Kleidungsstücken. Er zog sie verkehrt an, zerriß sie, verlegte sie und machte allerhand Merkwürdiges damit.

»Ich weiß gar nicht, was ich machen soll«, rief Scrooge in einem Atem weinend und lachend und mit seinen Strümpfen einen wahren Laokoon 11 umwindend. »Ich bin leicht wie eine Feder, glücklich wie ein Engel, lustig wie ein Schulbub, taumelnd wie ein Betrunkener. Fröhliche Weihnachten allen Menschen! Ein glückliches Neujahr der ganzen Welt! Hallo! Hussa! Hallo!«

Er war in das Wohnzimmer gesprungen und blieb jetzt dort ganz atemlos stehen.

»Da ist die Schüssel, in der die Grütze war!« rief Scrooge, indem er um den Kamin herumtanzte. »Da ist die Tür, durch die Jakob Marleys Geist hereinkam, da ist die Ecke, wo der Geist der diesjährigen Weihnachten saß, da ist das Fenster, durch das ich die herumschwirrenden Geister sah! Es ist alles richtig, es ist alles wahr, es ist alles geschehen. Hahaha!«

Wirklich, für einen Mann, der so lange Jahre daran gar nicht mehr gewohnt war, war es ein treffliches Lachen, ein herrliches Lachen. Der Vater einer langen, langen Reihe herrlicher Gelächter!

»Ich weiß nicht, welches Datum wir heute haben«, rief Scrooge. »Ich weiß nicht, wie lange ich unter den Geistern gewesen bin. Ich weiß gar nichts. Ich bin wie ein neugeborenes Kind. Das macht aber nichts, ist mir auch gleich, ich will so gern noch einmal ein Kind sein. Hallo! hussa! hallo!«

Er wurde in seinen Jubelausbrüchen von dem Geläute der Glocken unterbrochen, die ihm so lustig zu tönen schienen, wie nie vorher. Bim bam, ding, dong, bim bam. Oh, herrlich, herrlich!

Er lief zum Fenster, öffnete es und steckte den Kopf hinaus. Kein Nebel, keine dumpfe schwere Luft, ein klarer, heiter-glänzender, kalter Morgen, eine Frische, die das Blut wie im Tanz kreisen machte, goldenes Sonnenlicht, ein himmlischer Himmel, liebliche, klare Luft, fröhliche Glocken. Oh, herrlich, herrlich!

»Was ist denn heute?« rief Scrooge einem Jungen in Sonntagskleidern zu, der vermutlich in den Hof getreten war, um sich draußen umzutun.

»Was?« fragte der Knabe, aufs äußerste verblüfft.

»Was haben wir heute für einen Tag, du schmuckes Kerlchen?« fragte Scrooge.

»Heute?« antwortete der Knabe. »Aber es ist doch Weihnachtstag!«

»Es ist doch Weihnachtstag«, sagte Scrooge zu sich selber. »Ich habe ihn nicht versäumt. Die Geister haben alles in einer Nacht vollbracht. Sie können alles, was sie wollen. Natürlich, natürlich. Holla, du schmuckes Kerlchen!«

»Was gibt's?« antwortete der Junge.

»Weißt du des Geflügelhändlers Laden an der zweitnächsten Straßenecke?« fragte Scrooge.

»Aber warum nicht«, antwortete der Junge.

»Ein gescheiter Junge«, sagte Scrooge. »Ein merkwürdiger Junge! Weißt du nicht, ob der extra große Puterbraten, der dort hing, verkauft ist? Nicht den kleinen Puter – nein, den großen.«

»Was, der so groß ist wie ich?« antwortete der Junge.

»Was für ein famoser Junge!« sagte Scrooge. »Es ist ein Vergnügen, mit ihm zu sprechen. Ja, mein Prachtjunge.«

»Oh, der hängt noch dort«, antwortete der Junge.

»Wirklich!« sagte Scrooge. »Ach, dann eil', bitte, hin und kaufe ihn.«

»Sie wollen sich einen Spaß mit mir machen«, rief der Junge.

»Nein, nein«, sagte Scrooge, »es ist mein Ernst. Geh und kaufe ihn und sage, sie sollen ihn hierhersenden, damit ich ihnen die Adresse geben kann, wohin sie ihn tragen sollen. Komm mit dem Träger hierher und ich gebe dir einen Schilling. Kommst du aber in weniger als fünf Minuten zurück, dann sollst du sogar eine halbe Krone erhalten.«

Der Bursche schoß dahin wie der Blitz.

»Ich will ihn Bob Cratchit schicken«, flüsterte Scrooge, sich die Hände reibend und fast vor Lachen berstend. »Er soll nicht wissen, wer ihn geschickt. Der Puter ist zweimal so groß wie Tiny Tim. Joe Miller 12 hat niemals einen so guten Witz gemacht, wie es dieser ist.«

Als er die Adresse aufsetzte, zitterte seine Hand; aber er schrieb, so gut es gehen wollte, und ging die Treppe hinab, um die Haustür zu öffnen und den Puter zu erwarten. Als er dastand, fiel sein Auge auf den Türklopfer.

»Ich werde ihn lieb haben, solange ich lebe«, rief Scrooge ihn streichelnd. »Früher habe ich ihn kaum angeschaut. Was für ein braves Gesicht er hat! Er ist ein wundervoller Türklopfer! – Da ist der Puter. Hallo, hussa! Wie geht's? Fröhliche Weihnachten!«

Das war ein Puter! Er hätte lebend nicht auf seinen Füßen stehen können. Sie wären – knacks – zerbrochen wie Siegellackstangen.

»Was, das ist ja kaum möglich, den nach Camden-Town zu tragen«, sagte Scrooge. »Ihr müßt einen Wagen nehmen.«

Das Lachen, mit dem er dies sagte, und das Lachen, mit dem er den Puter bezahlte, und das Lachen, mit dem er den Wagen bezahlte, und das Lachen, mit dem er dem Jungen den Botenlohn schenkte, wurden nur von dem Lachen übertroffen, mit dem er sich schließlich atemlos in seinen Stuhl niedersetzte und lachte, bis ihm die Tränen von den Backen kollerten.

Das Rasieren war heute keine leichte Sache: denn seine Hand zitterte immer noch sehr; und Rasieren verlangt große Aufmerksamkeit, selbst wenn man nicht gerade dabei tanzt. Aber wenn er sich die Nasenspitze weggeschnitten hätte, würde er ein Stückchen Heftpflaster darauf geklebt haben und zufrieden gewesen sein.

Er zog seinen besten Anzug an und trat endlich auf die Straße. Die Leute strömten jetzt gerade aus ihren Häusern, wie er es gesehen hatte, als er den Geist der diesjährigen Weihnacht begleitete. Er ging mit auf dem Rücken zusammengeschlagenen Händen durch die Straßen, und Scrooge sah jeden mit einem freundlichen Lächeln an. Er sah so bezwingend freundlich aus, daß drei oder vier lustige Leute zu ihm sagten: »Guten Morgen, Sir, fröhliche Weihnachten!«, und Scrooge erklärte später oft, daß von allen lieblichen Klängen, die er je gehört habe, dieser seinem Ohr am lieblichsten erklungen wäre.

 

Er war nicht weit gegangen, als er den stattlichen Herrn auf sich zukommen sah, der tags zuvor in sein Kontor getreten war mit den Worten: »Scrooge und Marley, wenn ich nicht irre.« Es versetzte ihm einen Stich ins Herz, als er dachte, was wohl der alte Herr im Vorübergehen von ihm denken würde; aber er wußte, was er zu tun hatte, und ging auf ihn zu.

»Lieber Herr«, sagte Scrooge, schneller gehend und des alten Herrn beide Hände ergreifend, »wie geht es Ihnen? Ich hoffe, Sie hatten gestern noch Erfolg. Es war sehr freundlich von Ihnen. Ich wünsche Ihnen fröhliche Weihnachten, Sir.«

»Mr. Scrooge?«

»Ja«, sagte Scrooge, »das ist mein Name, und ich fürchte, er klingt Ihnen nicht sehr erfreulich. Erlauben Sie, daß ich Sie um Verzeihung bitte. Und wollen Sie die Güte haben« – hier flüsterte Scrooge ihm etwas in das Ohr.

»Himmel!« rief der Herr, als ob es ihm den Atem versetzte. »Mein lieber Mr. Scrooge, ist das Ihr Ernst?«

»Wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte Scrooge. »Keinen Penny weniger. Es sind viele Rückstände dabei, ich versichere es Ihnen. Wollen Sie so gefällig sein?«

»Bester Herr«, sagte der andere, ihm die Hand schüttelnd, »ich weiß nicht, was ich zu einer solchen großartigen Freigebigkeit sagen soll.«

»Sagen Sie bitte gar nichts dazu«, antwortete Scrooge. »Besuchen Sie mich. Wollen Sie mich beehren?«

»Aber gern«, rief der alte Herr. Und man sah, daß es ihm mit der Versicherung Ernst war.

»Ich danke Ihnen«, sagte Scrooge. »Ich bin Ihnen sehr verbunden. Ich danke Ihnen tausendmal. Leben Sie recht wohl!«

Er ging in die Kirche, ging durch die Straßen, sah die Leute hin und her eilen, klopfte Kindern die Wange, fragte Bettler und sah hinab in die Küchen und hinauf zu den Fenstern der Häuser; und fand, daß all dies ihm Vergnügen machen könne. Er hatte sich nie träumen lassen, daß ein Spaziergang oder sonst etwas ihn so glücklich hätte machen können. Nachmittags lenkte er seine Schritte nach der Wohnung seines Neffen.

Er ging wohl ein dutzendmal an der Haustür auf und ab, ehe er den Mut hatte anzuklopfen. Endlich faßte er sich Mut und klopfte.

»Ist dein Herr zu Hause, gutes Kind?« sagte Scrooge zu dem Mädchen. »Ein hübsches Mädchen, wahrhaftig!«

»Ja, Sir!«

»Wo ist er, gutes Kind?« fragte Scrooge.

»Er ist im Speisezimmer, Sir, mit der gnädigen Frau. Ich will Sie melden, wenn Sie erlauben.«

»Danke, danke. Er kennt mich«, sagte Scrooge, mit der Hand schon auf der Türklinke. »Ich will hier eintreten.«

Er machte die Tür leise auf, steckte den Kopf hinein und sah sich um. Aber niemand bemerkte ihn: denn sie musterten die Festtafel, die heute besonders schön dekoriert war; junge Hausfrauen sind nämlich in solchen Dingen sehr sorgsam und sehen gern alles in Ordnung.

»Fritz?« lispelte Scrooge.

Heiliger Himmel! Wie seine Nichte erschrak! Scrooge hatte in dem Augenblicke vergessen, daß sie auf dem Hocker in der Ecke gesessen hatte, sonst hätte er es um keinen Preis getan.

»Donnerwetter«, rief Fritz, »wer ist denn das?«

»Ich bin's, dein Onkel Scrooge. Ich habe mich selbst zum Essen eingeladen. Willst du mich hereinlassen, Fritz?«

Ihn hereinlassen! Es war nur gut, daß er ihm nicht den Arm abriß. Der Onkel war in fünf Minuten wie zu Hause. Nichts konnte herzlicher sein, als die Begrüßung seines Neffen. Und auch seine Nichte empfing ihn ebenso freundlich. Auch Topper, als er kam. Und die dicke Schwester, als sie auf der Bildfläche erschien. Und alle, als sie der Reihe nach anrückten. Wundervolle Gesellschaft, wundervolle Spiele, wundervolle Harmonie, wundervolle Glückseligkeit!

Aber am andern Morgen erschien Scrooge früh in seinem Kontor. Oh, er erschien sehr früh. Wenn er nur dort zuerst hätte sein können und Bob Cratchit beim Zuspätkommen erwischen! Das war's, worauf sein Sinn stand. Und es gelang ihm wahrhaftig! Die Uhr schlug neun. Kein Bob. Ein Viertel auf zehn. Kein Bob. Er kam volle achtzehn und eine halbe Minute zu spät. Scrooge hatte seine Tür weit offenstehen lassen, damit er ihn in seinen Kabuff kommen sähe.

Endlich erschien Bob atemlos. Sein Hut war vom Kopf, ehe er die Tür öffnete, auch der Schal vom Hals. Im Augenblick saß er auf seinem Stuhl und eilte mit der Feder übers Papier, als wollte er versuchen, neun Uhr einzuholen.

»Hallo«, knurrte Scrooge, so gut wie es jetzt noch ging, seine sonst übliche Stimme nachahmend. »Was soll das heißen, daß Sie so spät kommen?«

»Es tut mir sehr leid, Sir«, sagte Bob. »Ich habe mich verspätet.«

»Nun, Sie gestehen es ein«, wiederholte Scrooge. »Ich will's auch meinen. Kommen Sie erst mal hier herein.«

»Es ist nur einmal im Jahre, Sir«, sagte Bob, aus seinem Kabuff nähertretend. »Es soll nicht wieder vorkommen. Ich war ziemlich vergnügt gestern, Sir.«

»Nun, ich will Ihnen was sagen, Freundchen«, meinte Scrooge, »ich kann das nicht länger so mitansehen. Und daher«, fuhr er fort, von seinem Stuhl springend und Bob einen solchen Stoß vor die Brust gebend, daß er wieder in seinen Kabuff zurückstolperte, »und daher will ich Ihr Gehalt erhöhen!«

Bob zitterte und rückte dem Lineal etwas näher. Er hatte sogar augenblicklich die Idee, Scrooge eins damit auf den Kopf zu geben, ihn zu packen und die Leute draußen um Hilfe und eine Zwangsjacke anzurufen.

»Fröhliche Weihnachten, Bob!« sagte Scrooge mit einem Ernst, der nicht zu mißdeuten war, indem er ihn auf die Schulter klopfte. »Fröhlichere Weihnachten, Bob, als ich Sie so manches Jahr habe feiern lassen. Ich will Ihr Gehalt erhöhen und mich bemühen, Ihrer Familie aufzuhelfen. Wir wollen heute nachmittag bei einer Weihnachtsbowle voll dampfenden Punsch über Ihre Angelegenheiten sprechen, Bob! Schüren Sie das Feuer an und kaufen Sie eine andere Kohlenschaufel, ehe Sie wieder einen Tüpfelchen auf ein i setzen, Bob Cratchit!«

Scrooge bewährte sich durchaus. Es tat alles und mehr noch, als er versprochen hatte; und zu Tiny Tim, der nicht starb, war er wie ein zweiter Vater. Er wurde ein so guter Freund und so guter Mensch, wie ihn die liebe alte City oder jede andere liebe alte Stadt oder Dorf in der lieben alten Welt nur gesehen. Einige Leute lachten freilich darüber, daß sie ihn so verändert sahen. Aber er ließ sie lachen und kümmerte sich wenig darum: denn er war weise genug zu wissen, daß nichts Gutes in dieser Welt geschehen kann, worüber nicht von vornherein einige Leute lachen müssen. Weil er aber wußte, daß solcherlei Leute doch blind bleiben würden, dachte er bei sich, es sei besser, daß sie ihre Gesichter zum Lachen in Falten legten, als daß sie das auf weniger anziehende Weise täten. Sein eigenes Herz lachte, und das war ihm genug.

Er hatte keine fernere Berührung mit Geistern und lebte ein recht solides Leben. Aber immer sagte man ihm, er verstehe Weihnachten recht zu feiern, wenn es überhaupt ein Mensch verstünde. Ah, ließe sich doch dies wahrhaftig auch von uns allen sagen! Und so schließen wir mit des armen kleinen zarten Tiny Tims Worten: Gott segne uns alle und jedermann.

Wie Laokoon, der Priester, von Schlangen umstrickt, so umwand sich Scrooge mit seinen Strümpfen.Joe Miller, ein zur Zeit Dickens' gefeierter englischer Komiker.

Das Heimchen am Herde - Ein Hausmärchen

Erstes Zirpen.

Der Kessel fing an! Sprecht mir nicht davon, was Mrs. Peerybingle behauptet hat. Natürlich weiß ich es besser als sie. Für ewige Zeiten mag Mrs. Peerybingle es vor Gericht zu Protokoll geben, daß sie nicht imstande sei, auszusagen, wer von ihnen beiden den Anfang gemacht hat – ich behaupte, daß der Kessel es war. Wer sollte es denn sonst wissen, wenn nicht ich. Dort in der Ecke steht eine kleine Schwarzwälderuhr, und deren Wachsgesicht zeigte an, daß der Kessel ganze fünf Minuten vorher angefangen hat, bevor das Heimchen überhaupt zu zirpen begann.

Gerade als hätte die Uhr nicht voll ausgeschlagen und als hätte der kleine Landmann oben drauf, der mit seiner Sense vor einem maurischen Schloß rechts und links drauflos arbeitete, nicht einen halben Morgen Gras abgemäht – das, nebenbei gesagt, garnicht da war, bevor das Heimchen überhaupt daran dachte, einzufallen.

Nicht, daß ich von Natur aus immer recht haben will. Alle Welt weiß das. Um nichts in der Welt möchte ich Mrs. Peerybingle widersprechen, wenn ich nicht vollkommen von der Wahrheit meiner Aussage überzeugt wäre. Wahrlich, nichts könnte mich dazu veranlassen. Hier jedoch sprechen Tatsachen. Und Tatsache ist, daß der Kessel mindestens fünf Minuten vorher begann, bevor das Heimchen überhaupt ein Lebenszeichen von sich gab. Wenn mir jetzt jemand widerspricht, so sage ich zehn!

Erlaubt jetzt, daß ich exakt erzähle, wie es geschah. Freilich hätte ich das gleich tun sollen, – aber das ist einfach so: soll ich eine Geschichte erzählen, so habe ich mit dem Anfang anzufangen – und wie kann ich mit dem Anfang anfangen, wenn ich nicht mit dem Kessel beginne?

Ist es nicht gerade, als handelte es sich um eine Wette oder ein musikalisches Preisringen? Natürlich zwischen dem Kessel und dem Heimchen. Und nun erzähle ich auch, wie es zugegangen ist und wie sich die Sache verhält.

Mrs. Peerybingle ging in die unheimliche Dämmerung hinaus und klapperte mit ihren Pantoffeln, unendlich viele rohe Abdrücke des ersten Euklidischen Lehrsatzes auf dem Hofe zurücklassend, über die nassen Steine, um den Kessel aus dem Wasserfaß zu füllen. Sodann kehrte sie in das Haus zurück, d. h. ohne die Pantoffel – und das ist ein großer Unterschied, denn die Pantoffel waren hoch und Mrs. Peerybingle war klein – und nun stellte sie den Kessel ans Feuer. Dabei verschwand ihre gute Laune, oder Mrs. Peerybingle hatte sie beiseite gelegt. Denn das Wasser auf dem Hofe – das sehr kalt war und außerdem so klebrig und glitschig, daß es alle möglichen Stoffe, selbst Pantoffel nicht ausgenommen, durchdringt – hatte Mrs. Peerybingles Füße nicht geschont und selbst ihre Waden bespritzt. Bilden wir uns aber nun – und das mit Fug und Recht – etwas auf unsere Beine ein und sind wir obendrein sehr eigen, was Sauberkeit und saubere Strümpfe betrifft, so empfinden wir das natürlich zunächst als eine große Unannehmlichkeit. –

Nun kommt noch dazu, daß auch der Kessel überaus widerspenstig war. Er wollte auf der Eisenstange nicht sitzen bleiben: er wollte nichts davon wissen, sich den Kohlen freundlich anzubequemen. Er beugte sich absolut wie ein Betrunkener vornüber und, als richtiger Einfaltspinsel von einem Kessel, ließ er seinen Inhalt auf den Herd tröpfeln. –

Er war streitsüchtig und zischte und sprudelte mürrisch über dem Feuer. Schließlich widersetzte sich auch der Deckel Mrs. Peerybingles Fingern; erst schlug er einen Purzelbaum und dann fiel er mit boshafter Hartnäckigkeit, die einer besseren Sache würdig gewesen, seitwärts bis auf den Grund des Kessels hinunter. Sogar der Rumpf des »Königlichen Georg« hat, um aus den Tiefen des Meeres gehoben zu werden, den Ingenieuren nicht halb soviel Widerstand geleistet, als dieser widerspenstige Kesseldeckel den Fingern der Mrs. Peerybingle.

Auch dann noch erwies sich der Kessel widerspenstig und dickköpfig; streckte seinen Henkel keck empor und schien seine Schnauze impertinent und höhnisch gegen Mrs. Peerybingle zu rümpfen, als wollte er sagen:

»Ich will nicht kochen. Nichts kann mich dazu bewegen!«

Aber Mrs. Peerybingle hatte ihre gute Laune wiedergefunden: sie rieb ihre molligen rundlichen Hände aneinander und setzte sich vergnügt vor den Kessel. Inzwischen schlug die Flamme fröhlich empor und beleuchtete freundlich den kleinen Grasmäher auf der Schwarzwälder Uhr, so daß man hätte glauben können, er stehe stockstill vor dem maurischen Palast und nur die Flamme sei in Bewegung.

Allein er bewegte sich doch; er hatte noch ganz richtig und regelmäßig seine Anfälle, immer zwei in der Sekunde. Aber es war schrecklich, seine Leiden anzusehen, wenn die Uhr im Begriff war zu schlagen, und sooft der Kuckuck aus seiner Klapptür im Palast herausguckte und sechsmal einsetzte, schüttelte es ihn jedesmal wie eine Gespensterstimme, oder wie ein Eisendraht, der an seinen Beinen zerrte.

Erst nach einer heftigen Erschütterung, und nachdem das Schnarren und Rasseln der Gewichte und der Schnüre unter ihm vollständig aufgehört hatte, kam der geängstete Grasmäher wieder zu sich. Sein Schrecken war übrigens begründet gewesen; denn die rasselnden Knochengerippe von Uhren sind mit ihrer lärmenden Tätigkeit ganz danach angetan, jeden außer Fassung zu bringen, und es wundert mich sehr, wie sich irgendein Mensch, ganz besonders aber ein Schwabe, daran ein Vergnügen finden konnte, sie zu erfinden. Behauptet man doch überhaupt, die Schwaben liebten weite Gehäuse und viel Kleidungsstoff für die unteren Teile ihres Körpers, und sie hätten darum schon der Übereinstimmung wegen ihre Uhren nach unten zu nicht so ganz nackt und unbekleidet lassen sollen.

 

Aber dies war der Augenblick, wo der Kessel sich zu amüsieren anfing. Dies war der Augenblick, wo der Kessel, sanft und musikalisch werdend, in seiner Kehle ein ununterdrückbares Gurgeln zu bekommen begann und kurze Schnaubetöne hören ließ, die er jedoch sofort erstickte, als wüßte er selbst noch nicht, ob er ein angenehmer Gesellschafter wäre. Dies war der Augenblick, wo er, nach zwei oder drei vergeblichen Anläufen seine zutraulichen Gefühle nicht zu verraten, alle üble Laune, alle Zurückhaltung beiseite schob und plötzlich in so fröhliche, trauliche Melodien ausbrach, daß sogar die sentimentalste Nachtigall ihn darum beneidet hätte.

Und wie einfach war der Gesang! Gott, ihr hättet ihn verstanden wie ein Buch – ja vielleicht besser als gewisse Bücher, die ich nicht nennen will. Während er seinen warmen Atem in einer lichten Wolke ausströmte, der fröhlich und anmutig einige Fuß emporstieg, und dann in der Kaminecke als an seinem Privathimmel hängen blieb, trällerte der Kessel sein Lied mit solchem Elan und einer Begeisterung, daß sein metallischer Körper auf dem Feuer summte und vor Freude schaukelte; und selbst der Deckel, der vorhin so widerspenstige Deckel – so viel vermag ein gutes Beispiel! – führte eine Art von Polka auf und klapperte wie ein taubstummes junges Zimbelbecken, das nie etwas von den Gewohnheiten seines Zwillingsbruders gehört hat.

Daß dieser Gesang des Kessels ein Einladungs- und Willkommensgruß für jedermann da draußen war, für jemand, der sich in diesem Augenblick dem kleinen behaglichen Hause und dem flackernden Feuer näherte, darüber kann gar kein Zweifel bestehen. Mrs. Peerybingle wußte das freilich sehr gut, während sie nachdenklich vor dem Herde saß.

Die Nacht ist finster, sang der Kessel, und dürre Blätter liegen am Wege; und oben ist alles Nebel und Dunkelheit, unten alles Schmutz und Schlamm; nur einen hellen Punkt gibt es in der traurigen düstern Luft, doch ich weiß nicht einmal, ob es einer ist, denn er scheint nur ein dunkelroter, zorniger Schimmer an der Stelle zu sein, wo Sonne und Wind gemeinsam den Wolken ein Brandmal aufdrücken, um sie wegen eines solchen Wetters zu strafen; und wohin man sieht, ist die Landschaft nur ein einziger trübseliger schwarzer Streifen; und Reif bedeckt den Wegweiser und Glatteis die Pfade; und das Eis ist kein Wasser und das Wasser kann nicht fließen und kein Wesen kann sagen, daß etwas sei, wie es sein sollte; aber er kommt, kommt, kommt! ...

Und hier, wenn ihr erlaubt, stimmte das Heimchen ein mit einem Zirp–zirp–zirp von einer Großartigkeit wie ein Chor, – mit einer Stimme, die in einem so fabelhaften Mißverhältnis stand zu seiner Größe im Vergleich mit der des Kessels – (was sag' ich Größe! man konnte es ja nicht einmal sehen!) – daß, wenn es geplatzt wäre wie ein zu stark geladenes Gewehr, es als ein Opfer seines Fleißes auf der Stelle geblieben wäre und seinen kleinen Körper in tausend Splitter zerzirpt hätte – es würde euch das nur als eine natürliche und unvermeidliche Folge erschienen sein, auf die es extra losgearbeitet hatte. –

Bei dem Kessel war es aus mit seinem Solo. Allerdings fuhr er mit ungeschwächter Anstrengung fort; aber das Heimchen spielte jetzt die erste Violine und behielt sie. Gott, wie das zirpte! Seine schrille, harte, durchdringende Stimme tönte durch das ganze Haus und schien in der Dunkelheit draußen zu scheinen wie ein Stern. Es lag ein unbeschreibliches Trillern und Tremulieren in seinen höchsten Noten, das auf den Gedanken brachte, es sei ihm, hingerissen von dem Feuer seiner Begeisterung, nicht mehr möglich, sich aufrecht zu erhalten und müsse nun immer hüpfen und springen. Doch stimmten sie ganz ausgezeichnet zusammen, das Heimchen und der Kessel. Der Refrain des Liedes war immer derselbe, und lauter, lauter, immer lauter sangen sie in ihrem Wetteifer.

Die hübsche kleine Zuhörerin – denn hübsch war sie und jung, obgleich ein wenig rundlich, was mir persönlich aber durchaus nicht unsympathisch ist – die hübsche kleine Zuhörerin zündete ein Licht an, warf einen Blick nach dem Heumäher oben auf der Uhr, der schon eine recht schöne Mittelernte von Minuten geerntet hatte, und blickte dann zum Fenster hinaus, wo sie jedoch dank der Finsternis nichts sah als ihr eigenes Gesicht, das sich in den Scheiben spiegelte. Allerdings ist meine Ansicht – und ich glaube, auch die eure –: sie hätte lange hinausblicken können, ehe sie nur etwas halb so Anmutiges gesehen hätte.

Als sie auf ihren alten Sitz am Herde zurückkehrte, waren das Heimchen und der Kessel noch immer am Musizieren in einer Art wütenden Wettstreites – offenbar war die schwache Seite des Kessels die, daß er nicht wußte, wann er besiegt war.

Eine Aufregung, ganz wie bei einem Wettrennen. Zirp, zirp, zirp! Heimchen eine Weile voran Sum, sum, sum–m m! Kessel tapfer hinterdrein, gerade wie ein großer Brummkreisel. Zirp, zirp, zirp! Heimchen biegt um die Ecke. Sum, sum, sum–m–m! Kessel folgt natürlich: kein Gedanke, sich für besiegt zu halten. Zirp, zirp, zirp! Heimchen lustiger als je. Sum, sum, sum–m–m! Kessel bedächtig, aber beharrlich! Zirp, zirp, zirp! Heimchen legte sich ins Geschirr, um ihm den Garaus zu machen. Sum, sum, sum–m–m! Kessel gibt nicht nach – bis sie schließlich im Holterpolter des Wettrennens sich so miteinander vermischen, daß, um einigermaßen sicher zu entscheiden, ob der Kessel zirpte und das Heimchen summte, oder ob das Heimchen zirpte und der Kessel summte, oder ob sie beide zirpten und beide summten, ein hellerer Kopf als der eure und der meine dazu nötig gewesen wäre. – Darüber kann jedoch kein Zweifel bestehen: daß der Kessel und das Heimchen genau in demselben Augenblick und vermöge einer ihnen allein bekannten Harmonie ihren Herdgesang auf den Flügeln eines Lichtstrahls, der durch das Fenster drang, die ganze Straße hinunter sandten. Und dieser Strahl, der auf einen gewissen Jemand fiel, der sich in der Dunkelheit dem Hause näherte, teilte ihm sofort die ganze Sache mit und rief: »Willkommen zu Hause, alter Knabe! Willkommen, lieber Freund!«

Gerade als dies Ziel erreicht war, kochte der Kessel, vollständig besiegt, über und wurde schnell vom Feuer genommen. Dann lief Mrs. Peerybingle nach der Tür, und bei dem Gerassel von Wagenrädern, dem Stampfen eines Pferdes, dem Rufen eines Mannes, dem Drauflosstürmen eines aufgeschreckten Hundes und dem ebenso überraschenden wie geheimnisvollen Erscheinen eines Wickelkindes wußte sie bald gar nicht mehr, wo ihr der Kopf stand. –

Woher das Wickelkind kam oder wo Mrs. Peerybingle es nur so im Handumdrehen herbekommen, das kann ich beim besten Willen nicht erzählen. Jedenfalls aber lag ein lebendiges Wickelkind in Mrs. Peerybingles Armen, und sie schien sogar glücklich und stolz darauf zu sein, als sie von der robusten Gestalt eines Mannes sanft ans Feuer gezogen wurde, der viel größer und viel älter als sie war; er mußte sich tief herabbücken, um sie zu küssen. Aber es war auch der Mühe wert. Sogar für einen Mann von sechs Fuß sechs Zoll lohnte es sich, ja, wäre er noch obendrein mit Kreuzschmerzen behaftet gewesen!

»Herr, mein Gott!« sagte Mrs. Peerybingle. »Wie siehst du aus, bei dem Wetter!«

Man konnte in der Tat nicht leugnen, daß er recht schlimm aussah, – der dicke Nebel hing in großen Tropfen an seinen Augenwimpern wie gefrorener Tau, und das Feuer und die Nässe ließen richtige Regenbogen in seinem Backenbart spielen.

»Ja, siehst du, Dot«, sagte John langsam, während er einen Schal von seinem Halse wickelte und sich die Hände rieb: »ja, ... Sommerwetter haben wir gerade nicht. Da ist's also nicht zu verwundern.«