Die Silvesterglocken

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Die Silvesterglocken
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Charles Dickens

Die Silvesterglocken

Ein Märchen von Glocken, die ein altes Jahr aus- und ein neues Jahr einläuteten

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Impressum neobooks

Kapitel 1

Das erste Viertel

Es gibt nicht viele Menschen ‐ und da es wünschenswert ist, daß ein Erzähler und sein Leser einander

so rasch als möglich vollkommen verstehen, so bitte ich, darauf zu achten, daß ich meine Bemerkung

nicht auf junge oder kleine Leute beschränke, sondern sie auf alle ausdehne, mögen sie nun klein

oder groß, jung oder alt, erst im Aufschießen oder bereits wieder im Verwelken begriffen sein ‐ ich

sage, es gibt nicht viele Menschen, die gern in einer Kirche schliefen. Ich meine damit nicht ein

Einschlafen während der Predigt bei warmem Wetter, was wohl hin und wieder vorkommen mag,

sondern ein regelrechtes Übernachten, und zwar mutterseelenallein. Ich weiß, sehr viele würden

schon am hellichten Tag über ein derartiges Beginnen sich höchlich verwundern. Aber meine

Behauptung bezieht sich auf die Nacht. Und diese soll auch den Beweis liefern. Ich verpflichte mich,

in einer stürmischen Winternacht, die zu diesem Zweck gewählt werde, meiner Behauptung zu einem

glorreichen Sieg zu verhelfen, wenn sich mir ein Gegner aus der Menge allein auf einem alten

Friedhof vor ein altes Kirchtor stellt und mich vorher ermächtigt hat, falls es zu seiner Befriedigung

notwendig wäre, ihn bis zum Morgen einzusperren.

Denn der Nachtwind besitzt eine unheimliche Geschicklichkeit, ein derartiges Gebäude stöhnend zu

umkreisen, mit unsichtbarer Hand an Fenstern und Türen zu rütteln und irgendeine Spalte

aufzuspüren, durch die er sich hineinpfeifen kann. Ist er endlich drinnen, So winselt und heult er, um

wieder hinauszukommen, wie jemand, der nicht gefunden hat, was er sucht; und dabei begnügt er

sich nicht damit, durch die Schiffe zu schleichen, um die Pfeiler zu huschen, die tiefe Orgel zu

probieren, sondern schwingt sich auf zur Decke und bemüht sich, das Sparrenwerk zu zerreißen,

stürzt sich verzweifelt hinunter auf die Steinfliesen und dringt murrend in die Grüfte. Gleich darauf

kommt er verstohlen wieder herauf, schleicht an den Wänden hin und scheint in Flüstertönen die

Inschriften, die den Toten geweiht sind, zu lesen. Vor einigen derselben bricht er schrill aus, wie im

Gelächter, während er vor andern ächzt und schluchzt wie in großem Schmerz. In der Nähe des Altars

stimmt er einen gar gespenstigen Ton an und singt in seiner wilden Weise von Unrecht, Mord,

falscher Gottesverehrung und Trotz gegen die Gesetzestafeln, die so oft gebrochen und mit Füßen

getreten werden, obschon sie so schön und glatt aussehen. Hu! der Himmel bewahre uns, die wir so

gemächlich um das Feuer sitzen! Er hat eine gar schreckliche Stimme ‐ dieser Wind um Mitternacht,

wenn er in einer Kirche singt!

Aber erst hoch oben im Turm! Dort brüllen und pfeifen die unheimlichen Windstöße! Hoch oben im

Turm, wo sie frei aus‐ und einziehen können durch manche luftige Öffnung, sich um die

schwindelnde Treppe winden, den stöhnenden Wetterhahn umherwirbeln und sogar das Gemäuer

zittern und beben lassen! Hoch oben im Turm, wo der Glockenstuhl ist, wo die eisernen Geländer

sich infolge des langjährigen Rostes Schuppen; wo die Blei‐ und Kupferplatten , runzelig vor Alter und

Wetterstürzen, unter dem ungewohnten Tritt krachen und seufzen; wo Vögel ihre Kotnester in die

Ecken des alten Eichengebälks stopfen, der Staub alt und grau wird, fleckige Spinnen, während ihrer

ungestörten Ruhe fett und faul geworden, gemächlich sich von den schwingenden Glocken hin und

her pendeln lassen und niemals die Verbindung mit ihren gesponnenen Luftschlößchen verlieren,

oder wie Matrosen in rascher Unruhe hinanklettern, wenn sie sich nicht lieber auf den Boden

niederlassen, um ein Dutzend hurtiger Füße zur Rettung eines einzigen Lebens in Tätigkeit zu setzen!

Hoch oben im Turm einer alten Kirche, weit über dem Licht und Gemurmel der Stadt, dennoch aber

weit unter den fliegenden Wolken, die sie beschatten, ist das wilde, traurige, nächtige Plätzchen, und

hoch oben im Turm einer alten Kirche hausen die Glocken, von denen ich spreche.

Es waren, glaubt mir, alte Glocken. Schon vor Jahrhunderten wurden diese Glocken von Bischöfen

getauft; vor so vielen Jahrhunderten bereits, daß ihr Taufregister seit unvordenklichen Zeiten

verloren ging und niemand mehr ihre Namen wußte. Sie hatten ihre Paten und Patinnen gehabt

(nebenbei gesagt, ich für meinen Teil möchte lieber die Verantwortlichkeit übernehmen bei einer

Glocke, als bei einem Knaben Gevatter zu stehen) und ohne Zweifel auch ihre silbernen Becher

erhalten. Aber die Zeit hatte ihre Taufzeugen dahingerafft und Heinrich VIII. ihre Becher, die er

einschmelzen ließ. Und so hängen sie denn jetzt namen‐ und herrenlos in dem Kirchturm.

Wortlos allerdings nicht. Im Gegenteil. Sie hatten klare, laute, lustige, volltönende Stimmen, diese

Glocken; und auf dem Rücken des Windes fortgetragen, konnte man sie weithin hören. Sie waren

aber viel zu kühne Glocken, als daß sie sich dem Belieben des Windes unterworfen hätten. Denn

wenn er ihnen zu launenhaft war, kämpften sie tapfer gegen ihn an und ließen ihre fröhlichen Klänge

stolz in ein lauschendes Ohr strömen; sie waren darauf erpicht, in stürmischen Nächten von einer

armen Mutter, die bei einem kranken Kinde wachte, oder einer einsamen Frau, deren Gatte zur See

war, gehört zu werden. Ja, man weiß sogar, daß sie hin und wieder einen pustenden Nordwest

besiegten, ja ihn sogar »in Grund und Boden« schlugen, wie Toby Veck sagte; ‐ denn obgleich man

ihn Trotty Veck nannte, hieß er doch Toby, und niemand (außer ihm selbst) konnte ihn ohne

ausdrückliche Parlamentsakte zu etwas anderm machen. Er war zu seiner Zeit so gesetzlich getauft

worden, wie die Glocken zu der ihrigen, obschon nicht mit ganz so viel Feierlichkeit oder öffentlichem

Jubel.

Ich bekenne mich für meinen Teil zu Toby Vecks Glauben; denn ich bin überzeugt, daß er hinreichend

Gelegenheit hatte, sich eine richtige Ansicht zu bilden. was daher Toby Veck sagte, sage ich auch, und

ich will auf Tobys Seite stehen, obgleich er den ganzen Tag (und das war eine mühsame Arbeit) vor

der Kirchentür zu stehen pflegte. Er war nämlich Dienstmann und wartete dort auf Aufträge.

Freilich ein windiger, gänsehäutiger, blaunasiger, rotäugiger, steifzehiger und zähneklappernder

Warteplatz zur Winterszeit, wie Toby Veck wohl wußte. Der Wind kam wütend um die Ecke gefahren

‐ insbesondere der Ostwind ‐ als wenn er sich direkt von den Grenzen der Erde aufgemacht hätte, nur

um Toby anzuschnauben. Ja, oft schien er den armen Teufel sogar früher zu treffen, als er erwartet

hatte; denn wenn er um die Ecke raste und an Toby vorbeifuhr, wirbelte er plötzlich wieder zurück,

als wollte er sagen : »Ha, da ist er ja schon!« Unaufhaltsam flog dann Tobys kleine weiße Schürze wie

das Röckchen eines unartigen Jungen über seinen Kopf, und man sah das schwache Stöcklein

vergeblich in seiner Hand ringen und kämpfen, sah seine Beine in heftige Bewegung geraten,

während Toby selbst in schräger Körperhaltung, das Gesicht bald da‐ bald dorthin wendend, so

umhergetrieben und gestoßen wurde, wohl auch zeitweise den Boden unter den Füßen verlor, daß

es fast als ein Wunder erschien, wenn er nicht gleich einer Kolonie von Fröschen, Schnecken oder

andern tragbaren Geschöpfen in die Luft geführt und an irgendeinem fernen Weltende, wo

Dienstmänner unbekannt sind, zum großen Erstaunen der Eingeborenen niedergeregnet wurde.

Windig Wetter war übrigens doch eine Art Festtag für Toby, obschon es ihm so roh zusetzte. Das ist

Tatsache. Er schien in dem Wind nicht so lange auf ein Sechspencestück warten zu müssen wie zu

andern Reiten. Der Kampf mit dem ungestümen Element lenkte feine Aufmerksamkeit ab und

frischte ihn auf, wenn er hungrig oder kleinmütig war. Auch ein harter Frost oder ein Schneegestöber

wurde für ihn zu einem Ereignis und schien ihm in der einen oder andern Weise gutzutun, obschon

sich der eigentliche Grund nur schwer angeben ließ. Wie dem übrigens sein mochte, Wind, Frost,

Schnee und vielleicht ein tüchtiger Hagel waren für Toby Veck die rotgedruckten Tage im Kalender.

Nasses Wetter war das Schlimmste ‐ die kalte, unfreundliche Feuchtigkeit, die ihn wie ein nasser

Mantel einhüllte ‐ die einzige Art von Mantel, die Toby sein eigen nennen konnte, auf den er aber

doch zur Erhöhung seiner Behaglichkeit gern verzichtet hätte. Die nassen Tage, wenn der Regen

langsam, dicht und hartnäckig niederträufelte , wenn die Straßenschlünde wie sein eigner mit

schwefeligem Nebel erfüllt waren, wenn dampfende Schirme hin und hergingen und wie ebenso

 

viele Kreisel tanzten, sooft sie auf dem gedrängten Fußweg aneinander anstießen und eine wirbelnde

Brause ungemütlicher Tröpfchen von sich schleuderten, wenn die Dachrinnen klatschten und es in

den vollen Wassertraufen donnerte, wenn die Nässe von dem vorspringenden Gestein der Kirche ‐

tropf, tropf, tropf‐ auf Toby niederplumpste und den Strohwisch, auf dem er stand, im Nu zu bloßem

Schmutz wandelte ‐ das waren für ihn Tage der Heimsuchung. Und dann konnte man Toby

tatsächlich beobachten, wie er ängstlich und mit trostlosem, langem Gesicht aus seinem

Schlupfwinkel in einer Ecke der Kirchenmauer hervorguckte. Dieser Zufluchtsort war ein so kärglicher

Schutz, daß er zur Sommerszeit nie einen breitern Schatten auf das sonnige Pflaster warf, als ein

dicker Spazierstock. Bald aber kam er wieder heraus, um sich durch Bewegung warm zu machen,

trottete etliche Male hin und her, was seine Laune wieder aufheiterte, und kehrte dann ganz

wohlgemut in seine Nische zurück.

Man nannte ihn Trotty wegen seines Ganges, der wenigstens Eile andeuten sollte. Er hätte vielleicht

schneller gehen können; aber würde man ihn seines Trottes beraubt haben, So wäre er krank

geworden und gestorben. Dieser Trott bespritzte ihm bei schlechtem Wetter den Rock mit Kot,

vernichte ihm zahllose Unannehmlichkeiten und Beschwerden; Toby hätte ungleich müheloser

marschieren können ‐ aber das war gerade ein Grund mehr, diese schwierige Gangart krampfhaft

beizubehalten. Obschon ein schwaches, schmächtiges altes Männlein, war Toby doch ein wahrer

Herkules in seinen guten Absichten. Er hatte eine Freude daran, wenn er sein Geld verdienen konnte.

Es gewährte ihm ein großes Vergnügen, zu glauben ‐ Toby war sehr arm und konnte nicht gut auf ein

Vergnügen verzichten ‐ daß er seines Lohnes auch wert sei. Mit einem Auftrag, der ihm einen

Schilling oder achtzehn Pence eintrug, oder mit einem kleinen Päckchen in der Hand, steigerte sich

sein Mut, an dem es ihm nie gebrach, um ein beträchtliches. Wenn er so dahin trabte, pflegte er den

schnelleren Briefträgern vor seiner Nase zuzurufen, sie sollten ihm aus dem Weg gehen, weil er nicht

anders glaubte, als daß er im Lauf der Dinge sie unausbleiblich einholen und niederrennen müsse;

auch lebte er der festen Überzeugung, die freilich nicht oft auf die Probe gestellt wurde, daß er alles

zu tragen imstande sei, was ein Mensch zu heben vermöge.

Toby trabte daher auch, wenn er an einem nassen Tag aus seinem Winkel hervorkam, um sich zu

wärmen. Er trabte, wenn er mit lecken Schuhen eine krumme Linie wieder zusammenlaufender

Fußtapfen durch den Kot zog und, mit gebeugten Knien und sein Rohr unter dem Arm, seine

frostigen Hände blies oder gegeneinander rieb, da sie nur ganz ungenügend gegen die schneidende

Kälte durch fadenscheinige grauwollene Fäustlinge geschützt waren, an denen nur der Daumen ein

eignes Appartement und die übrigen Finger eine gemeinschaftliche Herberge hatten. Desgleichen

trabte er, wenn er auf die Straße hinausging, um bei dem Schall der Glocken an dem Turm

hinaufzusehen.

Diesen letztern Ausflug machte er mehrere Male des Tages; denn die Glocken waren gleichsam seine

Gesellschaft, und wenn er ihre Stimme hörte, blickte er gern zu ihrem luftigen Wohnsitz hinauf,

während er darüber nachdachte, wie sie bewegt wurden und was für Hämmer auf sie schlügen.

Vielleicht hatten sie um so mehr Interesse für ihn, weil es zwischen ihnen und ihm selbst

Ähnlichkeiten gab. Sie hingen da oben bei jedem Wetter, in Wind und Regen, sahen nur die

Außenseite aller jener Häuser, kamen den lodernden Feuern, die durch die Fenster leuchteten oder

zu den Schornsteinen herauspusteten, niemals nahe und waren nie imstande, an den guten Dingen

teilzunehmen, die ohne Unterlaß durch die Haustüren und Vorhof‐Geländer an verschwenderische

Köchinnen abgegeben wurden. Viele Gesichter kamen an die Fenster und entfernten sich wieder ‐

bisweilen hübsche Gesichter, jugendliche Gesichter, angenehme Gesichter, hin und wieder aber auch

das Gegenteil; doch Toby wußte ebensowenig wie die Glocken (sooft er auch, wenn er müßig in den

Straßen stand, Betrachtungen über diese Kleinigkeiten anstellte), woher sie kamen und wohin sie

gingen, oder ob im ganzen Jahr nur ein einziges freundliches Wort über ihn gesprochen wurde, wenn

sich die Lippen bewegten.

Toby war kein Kasuist ‐ seines Wissens wenigstens nicht ‐ und ich will nicht behaupten, daß er nach

und nach sich durch solche Betrachtungen hindurchgerungen oder eine förmliche Heerschau über

seine Gedanken abgehalten hatte, ehe er zu den Glocken eine Neigung faßte und seine erste

oberflächliche vermittels zarter Fäden zu einem innigeren Bündnis wob. Was ich aber sagen will und

auch sage, ist, daß in derselben Weise, wie Tobys körperliche Funktionen, Seine Verdauungsorgane

zum Beispiel, vermöge ihrer eignen Schlauheit und ihres mannigfaltigen, ihm unbewußten

Zusammenwirkens, dessen Kenntnis ihn nicht wenig in Erstaunen gesetzt haben würde, Zu einem

gewissen Ziel gelangten, auch seine geistigen Fähigkeiten, ohne daß er dabei wissentlich tätig war,

alle diese Räder und Federn nebst tausend andern in Bewegung setzten, als sie daran arbeiteten, in

ihm eine Neigung zu den Glocken wachzurufen.

Und wenn ich gesagt hätte: seine Liebe, so würde ich auch dies Wort nicht zurücknehmen, obgleich

es kaum ein passender Ausdruck für seine komplizierte Empfindung gewesen wäre. Denn da er ein

ganz einfacher Mensch war, verlieh er ihnen einen wundersamen und feierlichen Charakter. Sie

waren so geheimnisvoll, weil man sie oft hörte und nie sah, so hoch oben, so weit weg und so voll

tiefer, kräftiger Melodie, daß er mit einer Art von Ehrfurcht zu ihnen aufblickte. Ja, wenn er die

dunkeln, gewölbten Fenster im Turm betrachtete, erwartete er bisweilen, es werde ihm etwas

zuwinken, das keine Glocke war und doch in jenen Klängen ihm so oft ans Ohr getönt hatte. Dennoch

wies Toby mit Entrüstung ein gewisses leises Gerücht zurück, daß die Töne behext seien, weil

dadurch die Möglichkeit zugegeben war, sie stünden mit irgend etwas Bösem im Bund. Mit einem

Wort, sie tönten sehr oft in seinen Ohren, beschäftigten sehr oft seine Gedanken und standen stets

hoch in seiner guten Meinung; oft, wenn er lange mit weit offenem Munde an dem Kirchturm

hinaufgeschaut hatte, bekam er einen so steifen Nacken, daß er nachher, um ihn zu kurieren, ein

oder zwei Extragetrabe einlegen mußte.

Mit dieser außertourlichen Übung war er an einem kalten Tage gerade beschäftigt, als der letzte

schläfrige Ton der Zwölfuhrglocke wie ein melodisches, bienenartiges Ungeheuer, aber keineswegs

ein fleißiges Bienchen, durch den ganzen Turm summte.

»Wie, Essenszeit?« sagte Toby, vor der Kirche auf und ab trottend. »Ah!«

Tobys Nase war sehr rot; und seine Augenlider waren sehr rot; und er zwinkerte mächtig; und seine

Schultern waren dicht an den Ohren, und seine Beine waren sehr steif, und er war überhaupt auf

dem frostigsten Punkt der kühlen Temperatur angelangt.

»So, Essenszeit!« wiederholte Toby, den Fäustling seiner rechten Hand wie einen jugendlichen

Boxhandschuh gebrauchend und seine Brust züchtigend, weil sie sich unterstand, zu frieren. »Ah‐h‐hh!

«

Hierauf schlug er für ein paar Minuten einen stummen Trab an.

»Es gibt nichts..« sagte Toby, aufs neue lostrabend; aber mit einem Male machte er in seinem Trott

halt und betastete mit einem Gesicht voll Interesse und auch etwas Unruhe seine Nase sorgfältig von

unten bis oben. Er war bald damit fertig, denn der Weg war kurz, da er mit einer Nase nicht allzu

reichlich gesegnet war.

»Ich glaubte schon, sie sei pfutsch,« fuhr Toby fort, indem er wieder weiter trabte. »Es stimmt aber

alles. Ich könnte sie jedoch wirklich nicht tadeln, wenn sie sich auf und davon machte. Sie hat wohl

einen herzlich schweren Dienst in dieser Hundekälte und herzlich wenig zu erwarten ‐ denn ich

schnupfe ja nicht. Selbst in den besten Zeiten wird das arme Ding hart geprüft; denn wenn sie schon

einmal einen angenehmen Duft erwischt, was auch nicht oft vorkommt, dann entsteigt er gewöhnlich

dem Mittagessen eines andern, das von dem Pastetenbäcker nach Hause getragen wird.«

Diese Betrachtung erinnerte ihn an die andre, die er unbeendigt gelassen hatte.

»Es gibt nichts Regelmäßigeres,« fuhr er fort, »als die Wiederkehr der Essenszeit, und nichts

Unregelmäßigeres, als die Wiederkehr des Mittagessens selbst. Darin besteht ihr großer Unterschied.

Ich habe lange dazu gebraucht, es ausfindig zu machen. Möchte doch wissen, ob sichs nicht für einen

Gentleman der Mühe lohnte, diese Beobachtung für die Zeitungen oder für das Parlament zu

kaufen!«

Toby meinte dies bloß im Scherz, denn er schüttelte in gravitätischer Verneinung seinen Kopf.

»Du mein Himmel!« sagte er, »die Zeitungen sind voll Beobachtungen, und das Parlament auch. Da

habe ich eine Nummer von der letzten Woche« ‐ er zog ein sehr schmutziges Blatt aus seiner Tasche

und hielt es auf Armeslänge vor sich hin ‐ »nichts als Beobachtungen ‐ nichts als Beobachtungen! Ich

möchte so gerne als irgend jemand Neuigkeiten erfahren,« fügte er langsam bei, indem er den Bogen

noch ein wenig kleiner zusammenfaltete und ihn wieder in seine Tasche steckte; »aber es geht mir

fast gegen den Magen, jetzt eine Zeitung zu lesen. Ich erschrecke beinahe davor und weiß nicht,

wohin es noch mit uns armen Leuten kommen, was uns noch bevorstehen wird. Gott gebe, daß uns

im neuen Jahr etwas Besseres bevorsteht!«

»Vater! Vater!« rief eine angenehme Stimme in der Nähe.

Aber Toby hörte sie nicht, sondern fuhr fort, hin und her zu trotten und seine Gedanken laut werden

zu lassen.

»Es ist, als ob wir nichts rechtmachen könnten oder uns niemals Recht werden würde,« sagte Toby.

»Als ich jung war, habe ich nicht viel gelernt; und ich kann nicht herauskriegen, ob wir auf der Erde

etwas zu schaffen haben oder nicht. Manchmal glaube ich es wohl ‐ wenn wir auch nicht viel hier zu

tun haben; manchmal aber meine ich wieder, daß wir nur Eindringlinge sind. Mitunter bin ich so

verdutzt, daß ich nicht mit mir ins reine kommen kann, ob überhaupt etwas Gutes an uns ist, oder ob

uns die Schlechtigkeit angeboren ist. Es sieht aus, als täten wir schreckliche Dinge und fielen

ungeheuer beschwerlich; man beklagt sich immer über uns und trifft Verwahrungsmaßregeln. Ob so

oder so ‐ jedenfalls sind die Zeitungen von uns voll. Da spricht man von einem Neuen Jahr!« fuhr

Toby traurig fort. »Ich kann ebensoviel ertragen wie jemals irgendein Mensch; besser sogar als viele,

denn ich bin stark wie ein Löwe, was sich nicht von allen Leuten sagen läßt; aber gesetzt, es wäre

wirklich wahr, daß wir kein Recht auf ein Neujahr haben, angenommen, daß wir wirklich nur

Eindringlinge sind ...«

»Vater! Vater!« ließ sich die liebliche Stimme abermals vernehmen.

Toby hörte es diesmal; er stutzte, blieb stehen, rief seinen Blick zurück, der weitausgerichtet war, als

suche er im Herzen des herannahenden Jahres Erleuchtung, und fand sich nun seinem eignen Kinde

gegenüber, dem er jetzt ganz nahe in die Augen schaute.

Und es waren glänzende Augen ‐ Augen, in die eine ganze Welt schauen konnte, ohne ihnen auf den

Grund zu kommen. Dunkle Augen, die die hineinblickenden Augen widerspiegelten, nicht blitzend

oder auf Wunsch der Eigentümerin, sondern mit einem klaren, ruhigen, ehrlichen, geduldigen

Glänze, der Anspruch auf die Zugehörigkeit zu jenem Licht erhob, das der Himmel ins Dasein rief.

Augen, schön, wahr und hoffnungsstrahlend ‐ mit so junger und frischer, mit so schwungkräftiger

und heller Hoffnung, trotz der zwanzig Jahre Arbeit und Armut, die sie gesehen hatten, daß sie für

Trotty Veck zu einer Stimme wurden, die ihm sagten »Ich glaube, wir haben hier wohl etwas zu

schaffen ‐ wenn auch nicht viel!«

Trotty küßte die Lippen, die zu den Augen gehörten, und drückte das blühende Gesicht zwischen

seine Hände.

»Ei, Herzchen,« sagte Trotty, »was gibt’s? Ich habe dich heute nicht erwartet, Meg.«

»Auch ich habe nicht aufs Kommen gerechnet, Vater,« rief das Mädchen, indem es lächelnd nickte.

»Aber da bin ich ‐ und obendrein nicht allein; nicht allein!«

 

»Wie? du willst doch nicht sagen,« bemerkte Trotty, neugierig nach einem bedeckten Korbe blickend,

den sie in ihrer Hand »daß du ...«

»Riech daran, lieber Vater,« versetzte Meg. »Riech einmal!«

Trotty war eben im Begriff, hastig den Deckel abzuheben, als das Mädchen scherzend mit der Hand

dazwischenfuhr.

»Nein, nein, nein,« erwiderte Meg fröhlich wie ein Kind. »So geschwind gehts nicht. Ich will nur den

Deckelrand ein klein winzig bißchen aufheben,« fügte sie bei, indem sie ganz sachte ihr Vorhaben

ausführte und dabei so leise sprach, als fürchte sie, im Innern des Korbes gehört zu werden. »So.

Also, was ists?«

Toby schnüffelte ein klein wenig an dem Rande des Korbes und rief entzückt:

»Ei, ’s ist heiß!«

»’s ist brennend heiß,« versetzte Meg. »Ha ha ha! ’s ist siedend heiß.«

»Ha ha ha!« brüllte Toby mit einem Luftsprung. »’s ist siedend heiß.«

»Aber was ist es, Vater?« fragte Meg. »Vorwärts! Du hast es noch nicht erraten. Und du mußt

erraten, was es ist. Ich kann nicht daran denken, es herauszunehmen, bis du es erraten hast. Aber laß

dir Zeit! Warte eine Minute! Ich will ein bißchen mehr von dem Deckel zurückschieben. Jetzt rate!«

Meg war wirklich in Angst, er könnte vielleicht zu rasch das Richtige raten, und wich deshalb ein

wenig zurück, während sie ihm den Korb hinhielt, indem sie zugleich ihre hübschen Schultern in die

Höhe zog und das Ohr mit der Hand zuhielt als könne sie in dieser Weise das richtige Wort von Tobys

Lippen fernhalten. Dabei ließ sie immer ein sanftes Lachen hören.

Toby hatte mittlerweile die Hände auf seine Knie gelegt, seine Nase zu dem Korb niedergebeugt und

sog nun den Duft außerhalb des Deckels tief ein. Während dieser angenehmen Beschäftigung

verbreitete sich sein Grinsen immer mehr über das welke Gesicht, als atme er pures Lachgas.

»Ah, das riecht prächtig,« sagte Toby. »Ist es nicht ‐ es werden doch keine Schweinswürste sein?«

»Nein, nein, nein!« rief Meg entzückt. »Etwas ganz andres!«

»Nein,« fuhr Toby nach einem abermaligen Schnüffeln fort, »es ist ‐ es ist zarter als Schweinswürste.

Es riecht ausgezeichnet und mit jedem Augenblick besser. Der Geruch ist zu stark für Kalbsfüße ‐

nicht wahr?«

Meg war außer sich vor Freude. Er hätte nicht weiter vom Ziele abschießen können als mit

Kalbsfüßen ‐ Schweinswürste ausgenommen.

»Leber?« sagte Toby zu sich selber. »Nein. Der Geruch hat eine Milde, die sich an der Leber nicht

findet. Ferkelfüßchen? Nein. Er ist zu stark für Ferkelfüße. Auch fehlt ihm der Beigeschmack der

Hahnenköpfe. Und ich weiß, Würste sinds auch nicht. Ich will dir sagen, was drinnen ist ‐

Kalbsgekröse!«

»Nein, nein,« erwiderte Meg, vor Entzücken aufjubelnd. »Nicht erraten!«

»Ei, woran denke ich auch!« entgegnete Toby, plötzlich eine so aufrechte Stellung einnehmend, als

ihm möglich war. »Ich werde zuletzt noch meinen eignen Namen vergessen. ’s sind Kuttelflecke!«

Und Kuttelflecke waren es auch. Und Meg beteuerte in strahlender Freude, er werde in einer weitern

halben Minute sagen, es seien die besten Kuttelflecke, die jemals gedünstet wurden.

»Und so will ich jetzt gleich den Tisch decken, Vater,« fuhr Meg fort, indem sie sich jubelnd mit dem

Korbe beschäftigte; »denn ich habe die Kuttelflecke in einer Schüssel gebracht und die Schüssel in ein

Taschentuch eingebunden. Wenn ich nun einmal stolz sein und es als Tischtuch ausbreiten will, so

kann mich kein Gesetz hindern, es Tischtuch zu nennen. Nicht wahr, Vater?«

»Nicht daß ich wüßte, meine Liebe,« sagte Toby. »Aber sie erlassen alle Augenblicke ein oder das

andre neue Gesetz.«

»Und nach dem, was ich dir neulich aus der Zeitung vorlas, Vater, weißt du noch, was der Richter

sagte, setzt man bei uns armen Leuten voraus, daß wir alle diese Gesetze kennen. Ha ha ! welch ein

Irrtum! du meine Güte, sie halten uns für gewaltig gescheit.«

»Ja, meine Liebe,« rief Trotty, »und sie würden eine gewaltige Freude an einem von uns haben, wenn

er sie alle wüßte. Er würde fett werden von der Arbeit, die er kriegte, dieser Mann, und er kriegte

einen Stein im Brett bei all den vornehmen Leuten in seiner Nachbarschaft. Gewiß und wahrhaftig!«

»Wer er auch sein möchte, er würde sein Mittagessen mit gutem Appetit verschmausen, wenn es so

gut duftete wie dieses hier,« sagte Meg fröhlich. »Beeile dich, Vater, denn da ist außerdem auch

noch eine heiße Kartoffel und ein Seidel frisch abgezogenen Bieres in einer Flasche. Wo willst du

essen, Vater? In der Nische oder auf den Stufen? Du mein Himmel, wie gut wirs haben — zwei Plätze

zur Auswahl!«

»Heute die Stufen, mein Kind,« versetzte Trotty. »Bei trockenem Wetter sind die Stufen, bei nassem

die Nische gut. Stufen sind immer bequemer, weil man dabei sitzen kann; aber wenns naß ist, kriegt

man Rheumatismus.«

»Hier also,« sagte Meg, nachdem sie sich eine halbe Minute eifrig zu schaffen gemacht hatte und nun

in die Hände klatschte; »hier ist es ‐ alles bereit ‐ und wie schön es aussieht! Komm, Vater, komm!«

Seit Trotty entdeckt hatte, was in dem Körbchen war, stand er da und sah Meg an ‐ sprach auch ab

und zu ‐ aber in einer zerstreuten Weise, welche bekundete, daß er, obschon sie allein seine

Gedanken und Augen beschäftigte ‐ nicht einmal die Kuttelflecke konnten ihn ihr untreu machen ‐

nicht im entferntesten an sie dachte, wie sie in jenem Augenblicke war, sondern irgendein visionäres,

undeutliches Bild oder ein Drama ihres künftigen Lebens vor sich hatte. Durch ihre heitere

Aufforderung geweckt, unterdrückte er nun ein melancholisches Kopfschütteln, das ihn eben

anwandelte, und trabte an ihre Seite. In demselben Augenblick, als er sich niederbeugte, um seinen

Sitz einzunehmen, erklangen die Glocken.

»Amen!« sagte Trotty, seinen Hut abnehmend und nach denselben aufblickend.

»Amen den Glocken, Vater?« rief Meg.

»Sie fielen ein wie ein Tischgebet, meine Liebe,« sagte Trotty, indem er Platz nahm. »Ich bin

überzeugt, sie würden ein gutes sprechen, wenn sie könnten, und sagen mir überhaupt manches

Liebe.«

»Die Glocken, Vater?« lachte Meg, als sie die Schüssel niedersetzte und Messer und Gabel dazulegte.

»Der Tausend!«

»Sie scheinens zu tun, mein Herzchen,« versetzte Trotty, indem er mit Eifer über seine Kuttelflecke

herfiel. »Und worin liegt da der Unterschied? Wenn ich sie nur höre, was macht es aus, ob sie es

wirklich sagen oder nicht? Gott behüte, mein Kind,« fügte er bei, indem er mit der Gabel nach dem

Turm deutete und unter dem Einfluß seines Mahles lebhafter wurde, »wie oft habe ich jene Glocken

nicht sagen hören: ›Toby Veck, Toby Veck, sei guten Mutes! Toby! Toby Veck, Toby Veck, sei guten

Mutes, Toby!‹ Millionenmal? Reicht nicht ‐ ’s war öfter!«

»Nun, das habe ich noch nie gehört!« rief Meg.

Dennoch war es schon oft und oft der Fall gewesen, denn es war Tobys unaufhörlicher

Gesprächsgegenstand.

»Wenn es recht schlecht geht,« fuhr Trotty fort; »ich meine, wenn es recht schlecht geht ‐ fast am

schlechtesten, dann rufen sie: ’Toby Veck, Toby Veck, bald kommt Arbeit, Toby! Toby Veck, Toby

Veck, bald kommt Arbeit, Toby!’«

»Und sie kommt dann auch ‐ endlich, Vater, ‐ versetzte Meg mit einem Anflug von Trauer in ihrer

lieblichen Stimme.

»Immer,« erwiderte der arglose Toby. »Bleibt nie aus.«

Während dieses Gesprächs machte Trotty keine Pause in seinen Angriffen auf das würzige Mahl vor

ihm, sondern schnitt ab und aß, schnitt ab und trank, schnitt ab und kaute, kam von den

Kuttelflecken zu den heißen Kartoffeln und von den heißen Kartoffeln wieder zu den Kuttelflecken

mit breitem, unermüdlichem Behagen zurück. Als er endlich um die Straßenecke sah, um sich zu

überzeugen, ob man nicht von irgendeiner Türe oder einem Fenster nach einem Dienstmann winkte,

begegneten seine Augen auf dem Rückweg dem Mädchen, das mit verschlungenen Armen ihm

gegenüber saß und mit glücklichem Lächeln seinem emsigen Geschäft zusah.

»Ach, Gott verzeih mir!« rief Trotty, indem er sein Messer und seine Gabel fallen ließ. »Meg, mein

Täubchen, warum sagst du mir nicht, was ich für ein Vieh bin?«

»Vater!«

»Sitze ich da«, fuhr Trotty in reuiger Erklärung fort, »und stopfe mich voll, während du vor mir bist,

ohne auch nur ein bißchen dein Fasten zu unterbrechen noch den Wunsch dazu zu äußern, während

...«

»Aber ich habe mein Fasten schon gebrochen, Vater, und zwar ausgiebig,« unterbrach ihn seine

Tochter lachend. »Ich habe mein Mittagessen bereits gehabt.«

»Sprich keinen Unsinn,« versetzte Trotty. »Zwei Mittagessen an einem Tag? Nicht möglich! Du

könntest mir ebensogut sagen, daß zwei Neujahrstage auf einmal kommen, oder daß ich mein ganzes

Leben über ein Goldstück gehabt habe, ohne es je wechseln zu lassen.«

»Dennoch habe ich schon zu Mittag gegessen, Vater,« sagte Meg, näher herankommend; »und wenn

du deines weiter ißt, will ich dir sagen, wie und wo dein Mittagessen zustande kam und ‐ und noch

etwas andres dazu.«

Toby machte noch immer eine ungläubige Miene; aber sie sah ihm mit ihren klaren Augen ins

Gesicht, legte ihre Hand auf seine Schulter und winkte ihm, weiterzuessen, solange das Fleisch noch

warm sei. Trotty nahm daher Messer und Gabel wieder auf und schickte sich zur Arbeit an; sie ging

aber viel langsamer vonstatten als zuvor, und er schüttelte den Kopf, als sei er durchaus nicht mit

sich zufrieden.

»Ich habe schon gespeist, Vater,« sagte Meg nach einigem Zögern, »mit ‐ mit Richard. Er ißt früh, und

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