Andershimmel

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23

Der Totengräber, der eigentlich Kurt Krüger hieß, sagte: »Stampft eine Frau mit, die ihre Tage hat, dann hält das Kraut nicht.« Es gab im Dorf keinen Stammtisch. Aber der Totengräber wäre zum Stammtisch gegangen, wenn es einen gegeben hätte. Aber weil es keinen gab, musste er sein Bier zuhause trinken, am Küchentisch. Allein. Außer wenn Johannes da war und sich zu ihm setzte.

Der Totengräber roch nach Gärung. Er roch nach Schweiß. Er roch nach Lehm. Zu Johannes sagte er: »Ich bin der größte Arbeitgeber im Dorf. Niemand hat so viele Leute unter sich wie ich.«

Als Gast lachte man über die Witze des Gastgebers. Als Gast, wenn man die Tochter des Gastgebers besuchen wollte, lachte man laut über die Witze des Gastgebers.

Die Augen des Totengräbers lagen tief in seinem Schädel. Die Frau war ihm weggestorben, einfach so, niemand wusste, warum. Vor fünf Jahren. Martina war zehn gewesen, Johannes neun. »Der HErr schenkt; der HErr nimmt; der HErr prüft.« Das sei jetzt eine Prüfung, die der HErr dem Totengräber auferlegt habe, sagte der Pfarrer. Es war seltsam, an diesem Grab zu stehen, das der Totengräber selbst ausgehoben hatte und das nach Tannenreis und Orchideen roch. Seltsam war, dass dem Totengräber die Frau einfach wegsterben konnte. Johannes hatte bis dahin geglaubt, dass die, die auf dem Gottesfeld arbeiteten, Pfarrer und Totengräber und deren Familien, selbst nicht sterben könnten.

»Gut, dass du da bist«, sagte der Totengräber. »Martina hat schon nach dir gefragt. In ein paar Minuten ist sie wieder da.« Sie waren nicht mehr zehn und neun. Sie waren nicht mehr wortlos. Sie waren nicht mehr unterwürfig. Der Totengräber Krüger war so anders als der Zahnarzt Maiwald. Gelb und braun waren die Finger des Totengräbers. Von den Reval, vom Lehm und von der Erde. Den Hosenladen seiner schwarzen Cordhosen hielten zwei dicke Sicherheitsnadeln zusammen. Johannes fühlte sich wohl beim Totengräber am Küchentisch. Da war es gemütlich, auch wenn er spürte, wie dem Totengräber die Worte ausgingen. Johannes einfach hinauf in Martinas Zimmer schicken, solange Martina noch nicht zuhause war, konnte er nicht. Der Totengräber sagte: »Auf den Straßen spüre ich die Augen, die der Martina hinterher fliegen. Sie bringt sie an den Kleidern mit nach Hause.«

Johannes lachte. Er verstand den Totengräber viel besser als den Zahnarzt.

Der Totengräber sagte: »Die Martina ist sauber. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer.«

Der Totengräber sagte: »Weißt du, ich wollte ihr das Malen schon verbieten, weil sie sich damit so ausstellt. Vor allen Leuten. Aber sie hat mich nur ausgelacht«, lachte der Totengräber. »›Dad‹, hat sie gesagt, ›ich bin alt genug, okay?‹ Also lasse ich sie halt machen. Ihr Lachen überrollt mich wie eine Dampfwalze. Da gehe ich ihr lieber aus dem Weg.«

Er zündete sich eine neue Reval an. »Der Stauch ist an einem Herzinfarkt gestorben. Das hat die Obduktion ergeben. Übermorgen kann er endlich beerdigt werden.«

Johannes nickte. »Wie lang ist der jetzt schon tot?«

»Zwei Wochen. Aber so ist es, wenn man allein in Urlaub reist und dann drei Tage im Pensionszimmer liegt, bevor man gefunden wird.« Der Totengräber zog an der Zigarette und hielt den Rauch in der Lunge.

Johannes wusste: Bei einem Einzelgrab ging es eins achtzig in die Tiefe, bei einem Doppelgrab zwei zwanzig. Er sagte: »Eins achtzig oder zwei zwanzig beim Stauch?«

»Da muss ich die Stauch erst noch fragen. Da unten am Bach, wo die Erde so schwer wird, wären mir eins achtzig lieber, ehrlich gesagt. Aber an einem Mittag schaffe ich das so oder so.«

Dann kam Martina nach Hause. »Schön, dass du schon da bist.« Jetzt konnten sie auf ihr Zimmer gehen. Züchtig, verschämt, neugierig. Die Natur hatte Martina wohlwollend ausgestattet. Mit Körper und Seele. Sie malte. Johannes’ Augen begleiteten sie, wie sie malte. Sie beobachteten, wie der Körper sich mit den Pinselstrichen wiegte. Die Hüften waren das Gegengewicht zur Leinwand.

Martina ließ es zu, dass Johannes sie mit den Augen berührte. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah den Vater in der Tür stehen. »Es ist schon nach zehn«, sagte er. Und Johannes sagte: »Schon so spät? Dann gehe ich jetzt lieber.«

24

»Komm«, sagte sie zu Johannes. »Wäre Liebe nur ein Geist, dann könnten wir einander lieben«, sagte sie. »Wäre Liebe nur ein Hauch, dann könnten wir einander lieben. Wäre Liebe nur eine Farbe, dann könnten wir einander lieben.«

Martina wusste, was der HErr von ihnen verlangte. Sie wusste, wohin der HErr sie führen wollte.

Er sagte: »Selbst so, wie die Liebe ist, können wir einander lieben.«

Sie sagte: »Ich werde.«

Er sagte: »Was wirst du?«

Sie sagte: »Nichts. Ich werde. Das reicht schon.«

Er sagte: »Ich werde flüstern.«

Sie sagte: »Du Idiot.« Dann nahm sie seine Hand. Sie gingen spazieren und brachten ihre Schritte dazu, eins zu werden. Sie spürten die Gesichter des Dorfes.

Weit weg waren die Eltern.

»Die Farben«, sagte sie, »winden sich.«

»Von innen heraus.«

»Komplementär und konträr.«

Im Wohnzimmer hing bei Krügers ein Gemälde mit einem auf Wolken schwebenden und die zu IHm Kommenden segnenden JEsus in weißem Kleid. Daneben hing von Hand gestickt das Tischgebet: »Komm, Herr JEsus, sei unser Gast, und segne, was DU uns bescheret hast.« Das hatten sie von der Urgroßmutter geerbt.

Sie gingen zurück auf ihr Zimmer. Es war Mittag, und der Vater grub. Ein Wäschekorb stand leer in der Ecke. Sie sagte: »Als Kind wollte ich in einem Weidenkorb auf einem Fluss davontreiben.«

»Nichts wie weg. Wie Mose.«

»Genau.«

Langsam zog sie sich aus. Er berührte mit den Augen die Narbe unter ihrem linken Auge. Er berührte die Haut, berührte den Arm und die Stelle, wo ihr der Gummi vom Schlüpfer noch als rotes Tattoo um die Hüften wehte. Sie war eine Künstlerin, die nackt vor ihm stand. Sie streichelte mit ihren Händen überkreuz ihre Schlüsselbeine und ihre Arme. Dabei schaute sie ihn an. »Jetzt bist du dran.« Sie zog einen blau-weißen Bademantel über und legte sich aufs Bett.

Er schlüpfte aus den Schuhen. Er öffnete den Gürtel. Metall klang auf Metall. Die Gürtelschnalle machte immer dieses Geräusch.

Sie sagte: »Nein, zuerst das Hemd.«

»Warum?«

»Weil das dramatischer wirkt.« Sie nahm eine Orange vom Nachttisch und begann, sie zu schälen. Es roch nach Weihnachten.

Er zog das Hemd, dann das Unterhemd aus. Er tanzte, als höre er Musik. Er hörte Musik. Er hörte das erste der Brandenburgischen Konzerte. Langsam. Die Flöten, die atmeten.

Sie sagte: »Das mit dem Tanzen machst du gut.«

Er war nackt vor ihr. Er tanzte weiter. Er konnte nicht ruhig stehen.

Sie sagte: »Komm, setz dich.« Sie biss in den Apfelsinenschnitz. Sie trank im Kauen. Dann bot sie ihm die andere Hälfte an. Er biss, er kaute, er schluckte.

Sie sagte: »Es muss einmal ernst werden.«

Er sagte: »Ist es jetzt nicht ernst?«

Ihre Augen waren die Augen einer Suchenden. Ihre Augen verstanden ihn nicht. Ihre Augen waren zuhause in Farben und Formen. So gab es keine Gegenseitigkeit. Es gab keine Antworten. Diese Welt war zu groß für zwei Fünfzehnjährige, die staunten und kauten.

Martina reichte ihm die Hälfte des nächsten Schnitzes. Ihre Finger glänzten. Am Handgelenk trug sie ein silbernes Kettchen. Das sah er, obwohl sich der Bademantel vorne großzügig öffnete. Aber die Hauptsache waren ihre Finger, die ihn fütterten. Das war ein Geschenk. Das war ein Geschmack. Auch wenn sie einander nicht verstanden.

25

Als er von Martina nach Hause kam, sah Miriam anders aus. Sie trug die Haare nach hinten gekämmt. Sie wirkte streng mit ihrer Frisur. Sie wirkte verschlossen mit dieser Frisur. Sie wirkte ängstlich mit dieser Frisur. Ihre Augen sagten etwas, ohne dass ein Wort über ihre Lippen kam. Sie sagten: »Ich halte es gut mit mir allein aus.« Sie sagten: »Meinst du, ich weiß nicht, wo du warst? Meinst du, ich weiß nicht, was du gemacht hast?«

Er fühlte sich fern von ihr.

Sie redete mit sich selbst. Sie spürte etwas in sich, spürte Worte, die aufeinandertrafen und sich in Gegensätzlichem Platz schufen. Sie suchte nach Ursachen. War Johannes für sie auf einmal, weil er war, wie er war, schwer und kompliziert? Er war das Dürfen. Sie war das Sollen. Sie war das Gute, Züchtige, Fleißige, Ordentliche, Saubere und Treue. Er war das Gehen, das Sehen, das Neugierige.

Sie war, wie sie war. GOtt wollte, dass sie so war. GOtt wollte, dass sie keusch und züchtig lebte. GOtt wollte, dass sie keine unkeuschen Gedanken hatte. GOtt wollte in SEiner Liebe, dass es ihr gut gehe.

»Lass uns zusammen beten, denn heute ist ein gesegneter Tag für dich.« Das war der Satz, den die Mutter an dem Tag zu ihr gesagt hatte, an dem das Besondere in ihr anfing. Diese Veränderung. Dieses Plötzliche.

Auf einmal sah für sie beide alles anders aus. Auf dem Saalplatz wurden Leute mit Blut bespritzt. Mann und Frau. JEsus und seine Schwester. Er und sie. Alles in dieser Welt war dazu bestimmt, zu bluten und auseinanderzugehen. Gegen alles in der Welt gab es Zaubersprüche, aber gegen das Auseinandergehen von Geschwistern gab es keine. Von nun an gab es zwei Wahrheiten. Es gab die Wahrheit der Augen und die Wahrheit der Nacht. Sie wollten gleich sein; aber sie schafften es nicht. In ihr und außer ihr. Drinnen und draußen. Mit dem einen Auge und dem anderen. Dunkle Umrisse und dunkle Formen. Nichts war mehr gleich.

Sie und er. Miriam und Johannes. Sie waren einander fremd geworden. Von einem Tag auf den anderen. Und es ging weiter. Einfach so. Es war drei Jahre her, dass die Mutter für den gesegneten Tag gebetet hatte. Heute, als er von Martina kam, war die Trennung endgültig.

 

26

Es war das erste Mal, dass die Klassenlehrerin den Vater dazu überreden konnte, Miriam mitfahren zu lassen. »Wir passen auf sie auf.«

Mädchen schliefen auf dem Stock der Klassenlehrerin. Jungen schliefen einen Stock tiefer. Abends, nach dem Abendessen, in den Stunden, bevor es hieß, »Ab elf ist absolute Bettruhe«, wurde gesungen.

Sang Miriam mit? Er erinnerte sich nicht. Er erinnerte sich nur an die Refrains, die sie grölten und die er mitgrölte, als wäre er so bereit für die Welt und bereit fürs Leben – viel bereiter, als man es in diesem Dorf je werden konnte.

Dieses Singen kribbelte. Dieses Singen hatte etwas in sich. Dieses Singen ließ den ganzen Raum erzittern. Letztes Jahr hatten sie noch vom Frühtau zu Berge und von Jan und Klaas und Hein und Pits Bärten gesungen. Das war aber nichts als langweilig gegen die Lieder, die sie jetzt sangen.

Die Schwester biss sich auf die Lippen. Sie lachte und hielt sich die Hand vor den Mund. Es gab auch andere Mädchen. Regina und Waltraud und Beate und Angela und Eva und Ulrike und Marieluise. Sie hießen Giggi und Waldi und Ati und Angie und Evi und Uli und Lulu. Dass Miriam Kussi hieß, war seine schuld. Es blieben die Namen hängen, die die größte Peinlichkeit verursachten.

Kuss und Kussi.

Die Klassenlehrerin lachte. Und die Klassenlehrerin sang mit. Lange, rote Haare hatte sie. »Fettarsch«, war einer der Namen für sie, der im ersten Stock, nachdem die Mädchen und sie in den zweiten hinaufgestiegen waren, gesagt wurde. »Feuerwehr.« »Fettarsch.« »Ferkelfiedla.«

In den Liedern, die sie sangen, bevor die Mädchen und die Lehrerin hinaufstiegen, »Licht aus jetzt!«, schliefen Mädchen. Sie schliefen so gut, dass sie, nachdem sie geschlafen hatten, schwanger waren.

Die Jungen sangen: »Einst ging ich am Ufer der Donau entlang.« Alle Jungen waren ein Ich. »Ein schlafendes Mädchen im Grase ich fand.«

Es kam der Refrain, den Mädchen und Jungen gemeinsam sangen: »O-oh, oh, oh-la-la-la.«

Dann kamen die Mädchen an die Reihe: »Du schamloser Jüngling, was hast du gemacht? Du hast mich im Schlafe zur Mutter gemacht.« Die Mädchen waren auch alle zusammen ein Ich. Dass dieses Ich wach sein könnte, wenn es ums Mutterwerden ging, war unvorstellbar. Johannes blickte nicht hinüber zu Miriam. Sie saß auf der anderen Seite.

»Du schamloser Jüngling, was hast du gemacht?«

»O-oh, oh, oh-la-la-la.«

Die Mädchen waren gar kein Ich. Sie waren ein Mich. Im Schlafe wurde das Mich zur Mutter gemacht. Am Wasser wurde das Mich zur Mutter gemacht.

Er spürte ein Kitzeln, als er die Lieder sang. Es kitzelte, weil er jetzt zur Welt gehörte. Da sang er noch lauter. Solange er sang, passierte nichts. Solange er sang, konnte ihm die Sünde nichts anhaben. Solange er sang, kam er der großen Welt, der Welt, die außerhalb des Dorfes existierte, näher.

Vor dem Haus wurde geraucht. Den Zigarettenrauch saugte Johannes in sich ein wie ein Stück Männlichkeit, von dem er ein Leben lang zehren wollte.

»Kennst du den schon? ›Frau, ich kann dir nicht zusehen, wie schwer du arbeitest. Mach bitte die Küchentür zu.‹«

»Der ist gut. Aber der auch: ›Was ist los, wenn die Frau in der Stube sitzt?‹ ›Dann ist die Leine zu lang.‹«

»Und hör dir den an: ›Was ist los, wenn die Frau die Fernbedienung in der Hand hat?‹ ›Dann ist sie fehl am Platz.‹«

Das Lachen und den Rauch saugte Johannes ein in sich.

O Susanna, du hast am Arsch ’nen Leberfleck. Der Leberfleck muss weg.

Sie sangen vom Lieschen, Lieschen, Lieschen, das ein bisschen, bisschen, bisschen kommen sollte – in den Keller, da ging es schneller, in die Scheuer, da war’s nicht teuer, in den Garten, da gab’s kein Warten, auf die Leiter, da ging es leichter, in das Gartenhaus, da zog man sich aus.

Alles reimte sich. Alles konnte gegrölt werden. So wie früher, früher, früher. Auch da war die Melodie einfach. Ohne Hemd und ohne Höschen, ohne Gummiüberzieher.

Es war das große ES. Alles war, wie es sein sollte. Und Kuss und Kussi gehörten dazu, weil sie dazugehören wollten. Die Welt war nicht nur ein Dorf. Die Welt war viel größer. Das erlebten sie jetzt.

Und einmal war da nach dem Singen, bevor man dann, »Licht aus jetzt!«, hinaufging, das Mondnachtspiel, bei dem die anderen bestimmen durften, was das durchs Los bestimmte Liebespärchen auf der Parkbank im Mondschein tun sollte. »Ihr den Arm um die Schulter legen.« »Den Kopf von unten an seinen Nacken legen.« »Ihn von unten herauf mit Glubschaugen angucken.« »Er streicht ihr die Haare aus dem Gesicht und küsst sie auf die Stirn.«

Miriam traf es zum Glück nie. Aber Johannes saß neben der lispelnden Angela, der Tochter des Briefträgers. Angela schaute ihn an. »Angela, sag mal süße Sahne«, dachte er. Aber das sagte er nicht. Er küsste sie auf die Stirn. Er spürte sie. Er spürte, wie ihr Herz klopfte. Er spürte, wie sie sich gern heranziehen ließ. Am nächsten Tag machten sie sogar einen Spaziergang zusammen. Ohne die anderen. In der Abendluft in den Bergen. Sie hielten sogar die Hände. Silbern waren die Härchen an ihrer Stirn. Das gefiel ihm. Und groß waren ihre Augen. Sie schauten sich lang an. Und sie spürten einander. Wie weich sie beide waren. Gern. Miteinander.

27

»Einmal und nie wieder«, sagte die Mutter. Sie betete dafür, dass Miriam keine Hosen mehr anziehe. Zuerst zog Miriam Hosen an, die auf der Seite auf und zu gemacht wurden. Elegant zog sie die Reißverschlüsse hoch. Aber dann zog sie sogar eine Hose an, die sich vorne öffnen ließ.

Miriam spürte die Kälte der Gemeinde – die Gesichter mit den schrägen Mündern und den querliegenden Zähnen. Wo begann die Gemeinde? Begann sie in ihr? Begann sie da, wo alle auf IHn schauten, wie er schlafend unter seiner Dornenkrone über dem Altar hing? Begann sie im Leiden? Das Leiden war ein Segen. Das Leiden war die Gegenwart GOttes.

Miriam wusste, dass Schmerzen empfinden zu dürfen, ein Liebesbeweis GOttes war. Es war eine gesegnete Welt, in der sie leben durften.

Johannes spielte Fußball. Hier gab es Worte wie »geil«, »mega«, »Hammer« und »brutal«. Und im Spiel durfte Johannes andere schlagen wollen. Im Spiel spielte es keine Rolle, ob er aus Himmelreich oder aus dem Nachbardorf kam, das eine richtige Fußballmannschaft hatte. Johannes spielte fürs Nachbardorf. Zusammen wollten sie gewinnen. Zusammen wollten sie die Mannschaften schlagen, die von weiter weg kamen. Wenn Erdan an Ramadan nicht essen und trinken durfte, so durfte der Rössler Helmut während der Heuernte nicht spielen. Johannes wusste nicht einmal, ob Alpay Muslim oder Christ war. Das war egal. Wichtig war, dass man gewann.

Und jedes Mal war es ein Aufatmen für Johannes, wenn er zu einem Auswärtsspiel noch weiter weg vom Dorf fahren durfte. Hinaus, dachte er. Hinauf, dachte er. Es riss ihn förmlich in die Höhe. Da war eine andere Welt, wenn sie aus dem Tal hinausfuhren. Die Welt war groß. Man konnte sie einatmen.

28

Am Moorsee auf dem Steg zog Rahel an der Zigarette, hielt den Rauch in ihren Lungen und ließ den Rauch in sich zu Stärke werden. Sie verstand, warum Indianer Friedenspfeifen rauchten. »Das ist eine ganz andere Intensität, so tief in dir«, sagte sie. Und sie sagte: »Soll er doch toben, der Alte.«

Sie lebte an einem Abgrund. Sie musste an einem Abgrund leben, damit sie sich spürte. Ernte 23, Chanel und Jeans, die sie nicht wusch. Auf einmal waren ihre Haare hellrot gefärbt, und die Fingernägel waren schwarz. Sie legte sich lang auf den Steg. Nur das Atmen war noch da – und er, der sie beobachtete.

In der Schule sagte ein Junge, der zwei Klassen über ihnen war: »Entweder du bringst sie heute Mittag ins Wäldchen oder es gibt morgen Klassenprügel.«

Johannes wusste, was das Wäldchen hieß, wusste, was Klassenprügel hieß. Der Junge sagte nicht: »Du kommst heute Mittag ins Wäldchen und bringst sie mit.« Er sagte: »Du bringst sie heute Mittag ins Wäldchen.«

Danach wich Johannes diesem Jungen und allen in dessen Klasse wochenlang aus. Zwei Tage lang ging er nicht in die Schule. Er war krank. Zahnpasta essen ging immer.

Lauerten sie auch der Schwester auf, so wie sie Rahel auflauerten? Miriam erzählte nie etwas. Aber sie wurde ruhig. Sie lachte nicht mehr. Etwas war los mit ihr. Er spürte es.

»Was ist los mit dir auf einmal?«

»Nichts ist los mit mir. Was soll mit mir schon los sein?«

Johannes ging mit Miriam an den See. Sie hörten den Wind, der mit den Schilfrohren spielte. Das Dorf lag hinter ihnen. Und hinter dem Dorf lag das Wäldchen. Der Steg war langweilig ohne den Zigarettenrauch. Miriams Gesicht war rundlich geworden. Sie hatte zugenommen.

Sie lachte: »Meine Lippen, mein Bruder, lechzen nach dir. Ich suche das Rot in deinen Lippen.« Aber das Lachen passte nicht. Er war schockiert von ihrem Aussehen. Es war Frühling. Sie sagte: »Liebe, mein Bruder, ist eine Zeit, die außer sich ist.« Sie sagte: »Lass uns uns gegenseitig begleiten, bis wir miteinander in unseren Nächten wohnen.«

So hatte sie noch nie geredet. Es gefiel ihm, wie sie redete. Es machte ihm Angst.

Sie sagte: »Jauchzet, ihr lieben Gemeindeglieder, die ihr eure Nächstenliebe mit Löffeln gefressen habt, die ihr uns mit keinem Blick würdigt. Unser Anblick macht euch unwohl. Wir könnten euch anstecken mit unseren Augen, die ganz andere Dinge sehen als die, die ihr uns vorgaukeln wollt. Habt ihr die Angst gesehen? Habt ihr die Angst gesehen, die eurem Körper mit anderen Körpern nahekommt?«

Danach vermied Johannes es, in Miriams Augen zu blicken. Sie hatten etwas Wildes an sich. Sie kümmerte sich nicht um die Gedanken des Dorfes. Er sagte: »Soll ich mich auch ein bisschen ritzen? Nur für dich?« Sie zuckte die Schulter. »Was du tust, ist deine Sache.«

Am See gab es keine Häuser. Es gab es nur den Wind und die vom Wind ins Wasser gezeichneten Schemen. Seerosenblätter schaukelten, und Schilfrohre murmelten.

Zuhause malte Miriam auf einmal eine grelle Landschaft – ein blutrotes Haus, feurige Wälder, Monsterrehe und ein von Schlangen umwachsenes Schloss. Sie sagte: »Ist das nicht toll, was der Papa heute wieder verzapft hat.«

Johannes sagte: »›Der Mann ist nicht vom Weib, sondern das Weib vom Manne.‹«

»Ja, genau so.«

Johannes sagte: »›Der Mann ist nicht geschaffen um des Weibes willen, sondern das Weib um des Mannes willen.‹«

Sie sagte: »Du triffst den Ton. Der passt zu dir.«

Johannes sagte: »›Lasset eure Weiber schweigen in der Gemeinde. Es steht dem Weibe übel an, in der Gemeinde zu reden.‹«

Johannes sagte: »›Die Weiber seien untertan ihren Männern.‹«

Johannes sagte: »›Das Weib aber fürchte den Mann.‹«

Der Vater hatte zugeschlagen. Ins Gesicht der Schwester. Das war jetzt rot. Auf der linken Seite. Denn der Vater war Rechtshänder.

Miriam war in ihr Zimmer gerannt. Als Johannes anklopfte, malte sie. Das blutrote Haus. Zwei Monsterrehe. Es war, wie es war. Es war, wie es sein musste. So oder so. Dachte er. Was sie dachte, konnte er nicht ahnen. Nicht mehr. Alles war durcheinandergeraten. Rahel, Miriam, der Vater, der Schlag ins Gesicht.