Andershimmel

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17

Beim Beten war es, als stülpte sich etwas in ihnen um. Es waren Stimmen in ihrem Inneren. Die Stimmen sagten: »Ich gehöre ganz DIr; danke, dass DU mich willst, danke, dass DU mich annimmst, danke, dass DU mir gibst, was ich brauche.« Es waren ihre eigenen Stimmen, die sie umstülpten. Sie gehörten ihnen, und sie gehörten IHm. Von innen heraus.

Die Stimme des Vaters sprach beim Beten in einem Rhythmus. Wie dieser Rhythmus sich ergab, war die natürlichste Sache der Welt. Es war die Stimme, die sich mit IHm verband. Sie atmete einen Rhythmus, sie atmete ein Ja. »Führe mich, o HErr, und leite meinen Gang nach DEinem Wort.«

Tief fühlten sich die Stimmen im Gebet miteinander verbunden. Es waren ihre Worte, und es waren SEine Worte. In der Gemeinde. Im Gottesdienst. ER hielt sie in SEinen Händen. ER bewegte sie. ER führte sie. ER sprach. Durch sie. ER ließ sie einander fühlen. Sie waren SEine Stimmen. Sie waren SEine Sprecher. Sie waren SEine Jünger. ER lehrte sie, damit sie sich IHm öffneten und IHn willkommen hießen, damit sie SEinen HEiligen GEist, SEine Worte, SEine Gebote empfingen. Sie waren bei IHm. Sie waren in IHm. Sie waren mit IHm. ER schenkte SIch ihnen; und sie schenkten sich IHm. ER sah sie, wie sie waren. ER sah alles, was sie waren. ER blickte ihnen ins Herz. ER sah, was sie fühlten. ER sah ihre Lauterkeit. ER sah ihre Demut. ER sah ihre Treue. Und von dort her, wo ER sie sah und aufnahm, kamen ihre Stimmen. »Sei bei uns, lieber VAter im Himmel, führe uns in DEinem Geiste.« »Habe Dank, lieber VAter, dass DU uns wieder behütet hast. Habe Dank für unsere Gesundheit und für DEine Bewahrung in Anfechtung und Gefahr.« Manchmal sprachen die Stimmen Bitten aus. »Behüte uns.« »Sei bei uns.« »Und sei auch bei der Tante Mechthilde, die heute im Krankenhaus operiert wird. Und denke auch an den Pfarrer, wenn er morgen von der Kur heimkommt und gleich wieder predigen muss. Führe DU ihn.«

Nach dem Amen blickten die Augen überrascht auf. Nach dem Amen nahm man einander wieder wahr. Die Stimmen wurden strenger, wurden tiefer, wurden härter. Sie wurden die Stimmen, die wieder strafen konnten – in SEinem Namen, in SEiner Liebe, in SEiner Barmherzigkeit.

Dabei verhielt es sich seltsam mit der Sünde im Dorf. Sie war allgegenwärtig. Alle waren arme Sünder. Wer das nicht erkennen wollte, war verstockt und stand nicht im Glauben. Denn ER hatte SEinen eingeborenen Sohn dahingegeben, auf dass alle, die an IHn glaubten, nicht verloren würden, sondern das ewige Leben hätten. Wer die eigene Sünde nicht sah, konnte unmöglich IHn anerkannt haben und konnte unmöglich ins ewige Leben gelangen.

Alle waren sündig. Alles war sündig – der Körper, die Gedanken, die Augen, das Fleisch. »Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.«

Sünde löste ein komisches Gefühl im Magen aus – wenn man wieder einmal gestohlen hatte: einen Zeringenast aus einem Garten an der Straße für Rahel, Gebäck aus dem Keller der Mutter, Haribocolaflaschen aus dem Glasbehälter neben der Kasse der Bäckerei.

Rahel, die Abiturientin mit den roten Haaren, sagte auf dem Jägerstand: »Man darf alles, nur nicht sich erwischen lassen.« Dann zog sie an der Zigarette und blies ihm eine Wolke ins Gesicht.

Sie schworen einander, sie würden eines Tages Blue Jeans anziehen, Mendocino, West Virginia’s Country Roads, the City of New Orleans, Denver, Rocky Mountain High und California Dreaming sehen. Sie würden singen: »I sing it in the morning, all over this land.« Und sie würden sich der Grenzenlosigkeit dieses anderen Landes voller Hingabe öffnen.

18

Der Gehorsam in der Gemeinde wuchs im Körper. Körper und Gehorsam wuchsen gemeinsam. Sie wuchsen in Haut und Blut, in Fleisch und Haar. Sie wuchsen in Schmerz und Hoffnung.

Wer nicht hören wollte, musste fühlen. Das war der Hauptsatz der Liebe in der Gemeinde. Miriam musste weniger fühlen als Johannes. Auch Rahel, die Tochter des Zahnarztes, durfte immer wieder fühlen. Sie rauchte mit Johannes auf dem Jägerstand, und als ihr Vater es erfuhr, durfte sie fühlen. Sie durfte den Hauptsatz der Liebe hinter der Tür des Vaters fühlen, die der Vater geschlossen hatte, damit er ihr hinter der Tür den Satz besser in den Körper lieben konnte. Mit den Instrumenten der Liebe, die seine Hände waren. In manchen Häusern gab es auch andere Instrumente der Liebe. Manche waren aus Leder. Manche waren aus Gummi. So konnte der Hauptsatz der Liebe voll Freud und Wonne in der Liebe des HErrn wachsen. Wer die Gesetze des HErrn missachtete, dem wurde liebend geholfen, damit er diese Gesetze das nächste Mal besser verstand. Immerhin war das ewige Leben in Gefahr. Da musste geholfen werden. Da musste gehorcht werden. Da mussten die Gesetze der Liebe mitgeteilt werden.

Johannes und Rahel. Sie gingen zusammen in den Wald und in die Räuberhöhle. Rahel sagte: »Das machen wir. Und wenn mein Alter durchdreht, dann dreht er eben durch.«

»Hure Babylon«, brüllte ihr Alter und schritt zur Ausführung der Liebe. Er sagte: »Das tut mir auch weh, aber es muss sein.« »So lügt das sadistische Arschloch auch noch sich selbst an«, sagte Rahel, als sie aus dem Fenster gestiegen war. »Er meint wirklich, GOtt verlange es von ihm.«

Der Zahnarzt Maiwald war ein frommer Mann. Die Liebe zur Familie und zur Gemeinde verlangte von ihm, dass seine Tochter verstand. Niemand war allein auf der Welt. Jeder musste gehorchen. IHm gehorchen. Und der Zahnarzt Maiwald tröstete sich für die ihm auferlegte Prüfung mit dem Satz aus Psalm dreiundzwanzig: »Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn DU bist bei mir; DEin Stecken und Stab trösten mich.«

Die Tochter verstand den Vatertrost, den er sich selbst spendete. »Sein Stecken und Stab trösten ihn.« Und sie lachte und blies Johannes eine Wolke ins Gesicht.

Der Zahnarzt Maiwald wusste nur zu gut, dass Kinder von Natur aus wild waren. Wenn man es zuließ, dann stachen und schlugen sie, dann zerstörten sie aus Freude am Zerstören. Man musste sie lieben, damit sie sich im Leben zurechtfinden konnten. Man tat Kindern keinen Gefallen, wenn man sie machen ließ. Je früher man mit der Liebe anfing, desto besser war es für sie. Kinder wurden in den Stubenwagen gebunden, damit sie ihren Mittagsschlaf machten und nicht aufstanden.

Schon die Säuglinge des Dorfes lernten, dass die Welt sich nicht um sie drehte. Sie lernten, sich einzuordnen. Sie lernten, sich unterzuordnen. Unter die Liebe GOttes, der in SEiner Güte die Welt geschaffen hatte. Nachts brauchte der Mann des Hauses seine Ruhe. Es war die Aufgabe der Ehefrau und Mutter, ihm diese Ruhe zu gewähren. So stand es im Buch der richtigen Erziehung.

Ausnahmen von der Regel der nächtlichen Trinkverweigerung würde der Pfarrer zulassen, wenn nicht die Mütter so sehr in dem Ruf der Schwäche stünden und der Pfarrer fürchten müsste, dass bei solchem Zugeständnis jede Mutter ihr Kind als eine Ausnahme betrachtete. Wir können nicht zweifeln, dass auch diese Seite der Religion dem Menschenkind zu seiner eigenen Veredlung und zur Erfüllung seiner Bestimmung unter den Menschen helfen wird.

So geschah die nächtliche Trinkverweigerung in diesem Dorf um der unerschöpflichen Liebe GOttes willen.

Über jeder Liebe lag ein Schmerz. SEin Schmerz. Da waren Tränen. SEine Leiden am Kreuz. So wie ER SEinen eingeborenen Sohn gab. Rahel ließ sich von der Hand, die sie geliebt hatte, wieder über den Kopf streichlen. Und dann kam die Mutter ins Zimmer: »Komm, beten wir zusammen.« Sie betete für die Tochter, dass sie so etwas nicht noch einmal machte. Und dann kam die Mutterliebe: »Gell, jetzt geht’s uns schon wieder besser.«

Das Wunder war, dass zu dieser Zeit, als Johannes von nichts und von niemandem berührt werden wollte, Rahel und er Hand in Hand zur Räuberhöhle gingen.

Sie hatte sich die Haare streng nach hinten gekämmt und zu einem Haarknoten zusammengesteckt. Auf dem Jägerstand löste sie die Haare und ließ sie sich um den Nacken fallen. Rahel. Die Zahnarzttochter. Die Lippen. Die Fingernägel. Die Handbewegung, mit der sie sich die Haare hinters Ohr strich. So einfach. Und sie blickte ihn an dabei. Sie vertraute ihm. Unter dem Segen ihrer Haare.

19

»Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an JEsus CHristus, meinen HErrn, glauben oder zu ihm kommen kann; sondern der HEilige GEist hat mich berufen.«

Zusammengefaltete Zettel wanderten unter den Tischen hin und her: Hesekiel 23, 3. Hesekiel 4 × 4, 5 × 5. Hesekiel 23, 34. Sie blätterten eifrig in ihren Bibeln. »Dort ließen sie nach ihren Brüsten greifen und ihren Busen betasten.« »Du spreizest deine Beine für alle, die vorübergingen.« »Den Kelch musst du bis zur Neige austrinken, danach die Scherben ausschlürfen und deine Brüste zerreißen.«

Johannes und Miriam ließen sich in ihrem christlichen Glauben konfirmieren und bekamen Geld von den Verwandten und Handtücher und Taschentücher von den Geschäftsleuten des Dorfes. Seine Großmutter, silberhaarig und mit Augen, die jedes Jahr weicher wurden, strich ihnen über die Haare und wünschte, dass aus ihnen einmal etwas Rechtes würde. Sie sagte: »Bei der Miriam mache ich mir keine Sorgen. Bei dir, Johannes, aber schon.« Dazu lachte sie so, dass man merkte, wie gern sie ihn hatte, weil sie sich bei ihm Sorgen machen musste. Sie mochte das Wilde. Bei Jungen. Wenn sie sich bei Miriam hätte Sorgen machen müssen, hätte sie Miriam dafür nicht gern gehabt. Das wäre eine andere Sache gewesen.

Johannes ging mit Rahel ins Ried. Sie waren beide konfirmiert. Sie schenkten einander das Hohe Lied.

»Mein Freund ist mein, und ich bin sein, der unter den Lilien weidet.«

 

»Die Rundung deiner Hüfte ist wie ein Halsgeschmeide, das des Meisters Hand gemacht hat. Dein Schoß ist wie ein runder Becher, dem nimmer Getränk mangelt. Dein Leib ist wie ein Weizenhaufen, umsteckt mit Lilien. Deine beiden Brüste sind wie junge Zwillinge von Gazellen. Wie schön und wie lieblich bist du, du Liebe voller Wonne!«

Die Worte blickten auf sie. Rahel war überall. Sie bedeutete alles – und noch mehr.

Auf dem Jägerstand schenkten sie einander den Psalm. Sie berührten einander, wie es nur in Worten möglich war. Im Wechselgesang.

Sie: »Du salbest mein Haupt und schenkest mir voll ein.«

Er: »Meine Zunge ist ein Griffel.«

Sie: »Gürte dein Schwert an meine Seite, du Held, und schmücke dich herrlich!«

Er: »Du bist die schönste unter den Menschenkindern, voller Huld sind deine Lippen, wahrlich, GOtt hat dich gesegnet für ewig.«

Sie: »Es muss dir gelingen in deiner Herrlichkeit.«

Sie gab ihm Feuer. Sie rauchten gemeinsam eine Zigarette. Immer wieder sogen sie den Rauch in sich ein. Es wurde ihnen leicht im Hirn. Sie öffneten die Lippen und hauchten sich gegenseitig Wolken in die Augen. Sie berührten einander mit dem Rauch, mit den Lippen, mit den Händen.

20

Das Dorf war ein Wunder an Widersprüchen. GOtt wusste alles. Daran gab es keinen Zweifel. Wenn Menschen etwas nicht wussten, dann wusste GOtt, warum die Menschen etwas nicht wussten. Aber das Nicht-Wissen des Dorfes war dem Nicht-Wissen der umliegenden Ortschaften überlegen. Denn diese umliegenden Ortschaften hatten eine andere Verbindung zu Gott, wenn sie überhaupt eine hatten. Nur im Dorf hatte man die richtige Verbindung zu GOtt. Deshalb lebten die Menschen hier – weil sie fest standen in ihrem Glauben. Sie dienten GOtt so, wie ER es die Menschen gelehrt hatte. Dass die Verbindung des Dorfes zu GOtt anderen Verbindungen zu GOtt, womöglich zu anderen Göttern, vielleicht zu Allah oder zu Buddha, noch weiter überlegen war, verstand sich von selbst. Deshalb wurde großzügig und oft für die Heidenmission geopfert. Es wurde nicht nur Geld geopfert. Manche im Dorf fühlten sich berufen, ihr Leben der Mission zu opfern. Sie zogen mit ihren Frauen, denn meist waren es Männer, die sich zu diesem Dienst berufen fühlten, und mit ihren Kindern nach Gambia und nach Alaska, nach Ghana und nach Guyana. Nur nach Israel zogen sie nicht. Denn die Juden waren das von GOtt auserwählte Volk. Sie waren SEin Volk. Egal, was man in der Gemeinde tat, man würde nie so auserkoren sein, wie es die Juden waren. Aber GOtt stellte einen jeden an seinen Ort und gab einem jeden seine Aufgabe. So hoch wie der Himmel über der Erde war, so hoch waren SEine Gedanken über ihren Gedanken.

Johannes und Rahel zogen abwechselnd an der Zigarette und fühlten sich der Überlegenheit des Dorfes, die nichts war als Einbildung und Beschränkung, überlegen. Sie sahen, was das Dorf nicht sah. Das Vorurteil im Dorf. Die Herablassung im Dorf. Die Eitelkeit im Dorf. Und indem sie Vorurteil, Herablassung und Eitelkeit im Dorf sahen, konnten sie sich dem Dorf überlegen fühlen. Sie wussten, sie hatten keine Vorurteile. Sie waren offen für die Welt und für alle Religionen. Wenn es nach ihnen gegangen wäre, wäre das sonntägliche Opfer aus dem Betsaal direkt der Romafamilie im Nachbardorf übergeben worden. Ohne dass man sie zuerst hätte missionieren und taufen müssen.

Und trotzdem hielt sich das Dorf für wohltätig. Das Dorf lebte der Nächstenliebe. Die Einwohner glaubten an ihre Nächstenliebe. »Das ist«, sagte Rahel, »Wohltätigkeit und Hochmut in selbstgerechter Mischung.« Sie sagte: »Das ist christlicher Snobismus.«

Rahels Großvater war aufs Stift gegangen. Also kannte auch ihr Vater, der Zahnarzt, die Namen Barth und Buber und Bonhoeffer und Kierkegaard. Er konnte von Diesseitigkeit und Mündigkeit und Daseinsangst und Zwiegespräch und Gebet und Dialektik reden. Nicht von ungefähr hatte er, als ihm die Zahnarztstelle im Dorf angeboten wurde, zugesagt. Er hatte sich berufen gefühlt. »Das ist der Ort, den ER mir zuwies.«

Rahel sagte: »Bei ihm weiß ich nie, ob er von innen heraus glaubt oder ob er sich von außen zuschaut und gern glauben würde.«

Johannes sagte: »Ist nicht beides gleichzeitig möglich?«

Rahel sagte: »Trotzdem ist der Stiftsstolz nichts als peinlich. Als ob die Stiftler die Aristokratie der Welt wären. Wer dazugehört, bildet sich darauf wunder was ein.«

»Dabei hätte es dein Vater gar nicht nötig.«

Die Zigarette war zu Ende. Sie warfen sie vom Jägerstand und stiegen die Leiter hinunter. Unten spuckten sie auf die Erde, weil es sich gut anfühlte, auszuspucken. Denn das Ausspucken fühlte sich wie eine Sünde an. Es war eine Sünde wie das Kauen mit offenem Mund, das Furzen beim Essen, das Rülpsen in der Kirche und das Rauchen von Zigaretten. Sünde über Sünde. Alles, was Innen und Außen überraschend verband und zu einem Gefühl der Erleichterung führte, war eine Sünde. So war das. Und deshalb spuckten sie gleich noch einmal auf den Fichtennadelboden des Hohen Waldes. »Sodom und Gomorrha.« »Ernte 23.« »Spitz auf Knopf.« »Fick dich ins Knie.«

21

Zu Rahels Familie gehörte die Dichterin von »O du Lamm Gottes«. Alle kannten dieses Lied. Die Dichterin war Hausmutter einer Missionsanstalt gewesen, wo sie jahrzehntelang treu ihren Dienst versah. Zweiundvierzig Jahre lang war sie verheiratet mit dem Leiter der Missionsanstalt. Die Gehirnhautentzündung, die sie sich als Kind in Jerusalem zugezogen hatte, und die Krankheit am Kehlkopf, die sie später befiel, minderten ihren Opfermut nicht. Sie ging auf in ihrer Aufgabe. Sie gab sich hin – der Anstalt und der Mission. Zehn Kindern schenkte sie das Leben. Zwei von ihnen gingen schon bald wieder heim. Das Dichten von Kirchenliedern war Teil ihrer Gaben und Aufgaben. Sie gehorchte IHm. In allem.

Dass es in Rahels Familie einen Nobelpreisträger gab, erwähnte niemand, denn dieser Nobelpreisträger war dreimal verheiratet und schrieb Dinge, die nicht christlich waren. Auf ihn war niemand stolz. Eltern im Dorf gaben ihren Kindern nie seinen Vornamen.

Überhaupt hatte man im Dorf ein seltsames Verhältnis zur Literatur. Es gab zahlreiche Verbindungen; Namen, Stuben, Klassenzimmer, die nach Dichtern benannt waren: das Hölderlin, das Mörike, das Hauff. Man erinnerte sich auch an jene, die Theologen waren oder in die Mission gingen oder die Bibelanstalten und christliche Verlage leiteten. Jene, die keinen christlichen Lebenswandel führten, erwähnte man nicht. Man verurteilte sie nicht. Das stand einem nicht an. Urteilen tat der HErr, der ALlmächtige, der SChöpfer des Himmels und der Erde. In der Bibliothek des Dorfes standen die Werke des Abtrünnigen. Und Johannes las sie – alle. Wer dreimal heiratete, konnte kein Vorbild sein. Wer indische Religionen vorzog, konnte kein Vorbild sein. Wer griechische Frauen anbetete, konnte dagegen ein Vorbild sein. Friedrich und Eduard und Wilhelm und Dorothea durfte man seine Kinder nennen, Hermann nicht.

Johannes las Bücher, in denen nicht klar war, wer gut und wer schlecht, wer angenommen und wer nicht angenommen war. Miriam las Bücher über Frauen, die durch Losentscheid nach Tibet geschickt wurden, um dort einen unbekannten Mann in einer Missionsgesellschaft zu heiraten. Sie las von der Mission in der Provinz Ladakh. Sie las von den Entbehrungen, die Frauen auf sich nahmen, von Landwirtschaften, die sie im Land der Heiden unter schwierigsten Bedingungen und größten Entbehrungen aufbauten, vom Unterricht, den sie in primitiven Klassenzimmern erteilten, von Kindern, die sie gebaren, von Krankheiten, die sie überstanden, und von Reiseabenteuern, die sie, mit GOttes Hilfe, ans Ziel führten. Sie las von einer großen Liebe in einem rätselhaften Land, von den bescheidenen Mitteln, mit denen gearbeitet wurde, und von den Entbehrungen, die Familien um des hohen Zieles willen auf sich nahmen.

Der HErr segnete Miriam. Der HErr behütete sie. Sie war treu und gehorsam. Um SEines und SEiner Liebe willen. Jeder Schmerz kam von IHm. Jedes Leiden kam von IHm. Jeder Segen kam von IHm. Alles, was in ihr geschah, kam von IHm. Sie konnte und sie durfte es annehmen. ER würde alles einrichten. Das war, da war sie sich sicher, gewisslich wahr.

22

In Rahels Zimmer hing ein langes Regalbrett über dem Bett. Zwei chinesische Vasen standen darauf. Rahel war aus dem Elternhaus ausgezogen, ohne auszuziehen. Sie lag auf ihrem Bett unter dem Regal. Er spürte ihren Atem. »Soll er doch toben, der Alte«, sagte sie. Das Leben und das Atmen waren am Abgrund. Sie musste am Abgrund leben, damit sie sich spürte. Es roch nach Ernte 23, roch nach Chanel, roch nach Jeans, die sie nicht wusch. »Wenn sie kaputt sind, werfe ich sie weg und kaufe mir neue.« Da waren das hautenge T-Shirt und der lange Zipfelrock, da waren der Minirock und die Jeans, die hart in sie schnitten. Alles war auf einen Stuhl in der Ecke geworfen. Deshalb musste er sich aufs Bett setzen. Sie hatte sich die Haare gefärbt und die Fingernägel. Hellrot und schwarz. Wie sie zuhause leben und nicht zuhause sein konnte, war ihr Geheimnis.

Sie lehnte sich zurück ins Kissen. Da war sie allein. Nur das Licht. Nur die Tapeten. Nur das Atmen. Nur die Wärme unter der Bettdecke. »Ich will mehr vom Leben als nur das hier«, sagte sie und zeichnete mit dem Zeigefinger einen Kreis in die Luft. »Diese Dummköpfe«, sagte sie. »Beschränkt«, sagte sie. »Alle.« Sie sagte: »Die sollen aufpassen. Ich studiere BWL, und dann drehe ich denen allen den Kragen ab.«

Johannes saß auf dem Bett und nickte. Sie war zuhause in ihren Dunkelheiten. Das gefiel ihm. Er hätte auch gern so in seinen Dunkelheiten gewohnt. Sie sagte: »Ich glaube, ich könnte mich prostituieren.«

»Nur, damit du wegkommst?«

»Nur, damit ich wegkomme.«

Es gab eine Dunkelheit, aus der sie trank. Es gab eine Dunkelheit, in der sie aufging und die in ihr aufging, langsam und weich wie eine sich öffnende Hand. Sie ließ sie in sich wachsen. Dunkel und dankbar. »Ich habe das Gefühl, dass ich geopfert werde.«

»Von dir selbst.«

»Wenn es sonst niemand tut.«

Sie sagte: »Ich bin keine Magd, nicht seine und auch keine Magd GOttes. Der HErr mag mich schlagen, er mag mich schlagen in seiner Frömmigkeit. Die Strafe macht ihn nur kleiner – und den HErrn auch.«

»Er will doch nur, dass du sanftmütig, fromm und gehorsam wirst.«

»Ich werde lieber Börsenmaklerin oder Puffmutter, als dass ich werde wie die. Ich bin nicht wie die, auch wenn mein Alter das denkt.«

Ihr Vater erlitt alles, IHm zuliebe. Sanftmütig wollte er sein und in IHm aufgehen. Gehorsam musste er sein, IHm gehorchen. Er trug eine dünnrändrige Vaterbrille. Er sah die Dunkelheiten in ihrem Gesicht. Er wollte sie ihr austreiben. Ihr zuliebe. Er tat, was er ihr und IHm zuliebe tun musste, wie in einer Ohnmacht. Dies war, was der HErr ihm und seiner Familie auferlegt hatte. Er musste stark sein. In IHm.

Sie sagte: »Mein Alter ist ein Idiot.« Es war sinnlos, ihm etwas erklären zu wollen.

Gegen ihren Alten trug sie ihren Körper in die Welt. Dass ihr Alter dann in ihr Zimmer kam und ihr die Regeln der Welt erklärte, in bester Absicht und voller Liebe, gehörte dazu.

Sie sagte: »Weißt du, das tropft an mir ab wie Öl.«

Johannes beugte sich über sie. Er küsste ihre Lippen. Er mochte diesen Geschmack nach Tabak. Ernte 23. Er hätte ihn gern noch viel stärker geschmeckt. »Sei gut zu dir«, sagte er. Er schmeckte den Rauch an ihren Fingern, er schmeckte die Augen und das Lächeln, das sie ihm aus der Ferne schenkte. Sie war da. Sie stupste ihn an und sagte: »Feigling.«

Jeder Geruch, jede Geste, jedes Kichern. In diesem Zimmer.

Sie sagte: »Er hat Angst zu versagen, wo ihn GOtt doch stark gemacht hat. Weil er mich nicht unterkriegt, schämt er sich – vor sich selbst, vor den Gemeindeältesten, vor mir und vor GOtt. GOtt hat ihn als Mann erschaffen. Ist er schwach, lebt er nicht im HErrn.«

Er sagte: »Quälst du ihn gern?«

Sie sagte: »Und wie.«