Andershimmel

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29

In ihr war eine Tiefe. Das spürte er. Sie zwang sie, Dinge zu tun.

Der Vater sprach mit GOtt. GOtt war der Vater. GOtt war die Liebe. Wer Vater oder Mutter mehr liebt als MIch. Der Vater hätte sie auf den Altar gebunden. Der ist MEiner nicht wert. Das wussten sie. Wer Sohn und Tochter mehr liebt als MIch. So wie Abraham es mit Jakob tat. Der ist MEiner nicht wert. Daran dachten sie immer wieder. Alles hätte blutig ausgehen können. Der Vater war bereit, Johannes und Miriam auf den Altar zu fesseln und ihnen das Messer in die Kehle zu rammen. Der Vater hätte seine Prüfung bestanden. Er verstand es zu opfern.

Miriam ging auf den Steg. Die Haare fielen ihr auf einmal über die Schultern. Sie summte Phantasien von Schumann. Da waren Mächte in ihr. Eine Macht gehörte ihr; das war sie; eine andere gehörte etwas Mächtigerem, das von außen kam und das ihr nicht gehörte, das aber trotzdem eine Macht in ihr war. Die andere Macht bestand aus Musik, bestand aus einem Gehen und Wiegen, bestand aus Wasser und Größe, bestand aus blutroten Häusern und Monsterrehen. Er liebte sie. Er liebte diese Miriam, wie er sie noch nie geliebt hatte. Er liebte ihren Körper, liebte ihren Hals und die Größe ihrer Bilder.

Sie zog eine Zigarettenschachtel aus der Hosentasche. »Willst du auch eine?« Der heilige Mund, die heiligen Töne, die heiligen Worte.

»Dummkopf«, hatte sie den Vater genannt. Also musste sie fühlen. Sie nannte ihn »beschränkt«. Also musste sie fühlen. Denn mit diesem Sie-Fühlen-Lassen zeigte der Vater ihr, wie sehr er sie liebte. Er konnte sie nicht verkommen lassen. Das Schlechtsein musste ihr ausgetrieben werden. In Liebe. »Ich treibe dir das schon noch aus.« Den falschen Willen. Das Böse. Um ihrer Rettung willen.

Alles ging ineinander über – in ihr und in ihm. Sie zog an der Zigarette und ließ den Rauch in sich hineinsinken. Sie sagte: »Ich habe das Gefühl, dass ich auf einmal allein bin.«

Der Vater war in ihr Zimmer gegangen, ohne anzuklopfen. »Lass uns gemeinsam beten.« Sie brüllte. »Ich bin keine Magd, nicht deine und auch keine Magd GOttes. Du willst, dass ich werde wie du. Sanftmütig, fromm und gehorsam. Mit dem Prügel in der Hand. Ich werde nicht wie du.« Sie rannte an die Zimmertür. Die war abgeschlossen. Der Schlüssel fehlte. Den hatte der Vater zu sich genommen. Aus Liebe. Vorsorglich. Fürsorglich. Der Vater litt, ihr zuliebe, IHm zuliebe. Sanftmütig wollte er sein. Aber er musste GOtt gehorchen. Selbst wenn es ihn schmerzte.

Sie sagte: »Das Lamm Gottes.«

Sie waren Fremde – vor sich und in sich. Miriam war Schneewittchen ohne Kuss. Johannes war das Reh ohne Wald. Johannes und Miriam.

Sie träumte, sie sei eine Riesenschildkröte, so alt, dass sie Moos auf dem Rücken hatte. Sie versteckte sich unter einem Stein. Den Stein rollte der Vater weg. Der Vater schlug sie mit einem Stock auf die Nase. Sie sagte: »Warum bekomme ich immer eins auf die Schnauze?« Sie wurde immer dahin geschlagen, wo es ihr am meisten wehtat. Sie wollte in den nächsten Sumpf kriechen. Sich unter Wasser verstecken. Aber sie musste atmen. Sie wurde wieder auf die Nase geschlagen. Sie sagte: »Ist das nicht ein komischer Traum?«

Die Mutter litt aus der Ferne mit. Sie ließ alles geschehen. Aus Gehorsam. Weil es richtig war. Sie sagte: »Wisst ihr, ein behindertes Kind habe ich nicht gewollt. Aber das Nächstschlimmste für mich wäre ein Kind mit roten Haaren gewesen. Und jetzt färbst du sie dir rot!«

Die Seele war ein heißer Nebel. Sie gehörte IHm. Sie war Mensch und GOtt. Sie war unvorstellbare Nähe.

»Sie ist eigentlich noch zu jung, um so etwas zu tun«, sagte der Psychologe in der Stadt. Sie ging jetzt einmal in der Woche zu ihm. Beim ersten Mal wartete Johannes im Wartezimmer. Der Psychologe sagte: »Das nächste Mal ohne ihn.« Er meinte Johannes. Rainer Manschitz-Eisele hieß der Psychologe in der Stadt. Ab jetzt durfte Miriam einmal in der Woche mit dem Bus in die Stadt fahren. Allein. Sie kam mit leeren Augen zurück.

Sie trug ihre Haare achtlos, ließ sie sich zu Knoten verwachsen. Das war die Zeit der Herzschläge, die Bilder waren. Die Bilder akzeptierten das Schreckliche. Achtlos, bleich und immer wieder neu.

Miriam blieb in ihrem Zimmer. Sie träumte. Johannes blieb in seinem Zimmer. Er machte Fußballtabellen. Miriams Zimmer war das kleine Zimmer, das früher der Abstellraum gewesen war. Ihr Zimmer hatte ein kleines Fenster, das nach Norden blickte. Sein Zimmer war das größere Zimmer, dessen Fenster nach Osten und Süden blickten. Dafür hatte ihr Zimmer ein eigenes kleines Waschbecken. Es war der Mutter wichtig, dass Miriam ein eigenes Waschbecken hatte. Mehr Waschbecken und weniger Licht.

30

Sie wusste, sie brauchte erst gar nicht zu fragen, ob sie mitspielen dürfe. Ein Mädchen durfte nicht mitspielen. Ein Mädchen hätte alles verdorben. Ein Mädchen hätte nicht kapiert, um was es ging.

Sie stand hinter dem Fangzaun und schaute zu. Der Draht war zwischen ihr und ihnen. Da hatte sie sich hingestellt. Sie wollte nicht stören. Mit neugierigen Augen stand sie da und schaute, den Kopf gesenkt, zu. Sie bettelte nicht. Sie schaute ihnen zu, wie eine Besucherin in einem Museum der Führung einer anderen Gruppe zuschaut. Es war eine andere Welt, die sie vor sich sah. Sie würde nie zu dieser Welt gehören. Vielleicht war da eine Sehnsucht nach dieser anderen Welt. Sie wusste es selbst nicht. Sie schaute nur zu.

»Verzieh dich.« »Verpiss dich.« Das hätte Johannes ihr zugerufen, wenn sie gefragt hätte, ob sie mitspielen dürfe. Sie war hübsch mit ihren kastanienbraunen Haaren, die sie zu Zöpfen geflochten hatte, mit ihren lebendigen Lippen, die gern lachten, mit ihren Augen, die eine Mischung aus hellbraun und hellgrün waren, mit ihrer Haut voller Sommersprossen. Make-up trug sie keines. Dem HErrn gefiel es nicht, wenn ein Mädchen eitel war. Hübsch war sie. Aber mitspielen durfte sie nicht.

Sie schauten nicht zu ihr hin. Ablenken ließen sie sich nicht. Was sie taten, war wichtig.

Sie hielt die Lippen aufeinandergepresst. Sie hörte das silberne Klingeln des Fangzaunes. Ihre Lippen waren so schmal, dass sie fast aus dem Gesicht verschwanden. Es war nicht mehr sie selbst, die da lächelte. Sie war eine Figur, die dem, was war, gedankenverloren zuschaute. Das, was geschah, geschah ohne sie. Es waren Jungen, die auf der anderen Seite des Fangzaunes spielten. Sie machte sich zu dem, was sie meinte, für die, die sie nicht anblickten, sein zu müssen. Sie brauchte sich nicht zu zwingen. Es war einfach. Das Lächeln kam von selbst – von innen heraus. Das war sie – ein lächelndes Mädchen, das hinter dem Fangzaun stand, während Johannes mit anderen Jungen Fußball spielte, ein Mädchen, das zuschaute und auf den Boden schaute. Johannes. Durch ihn nahm sie teil. Auch an diesem Spiel. An diesem Fußballkonzert, das erklang, wenn der Ball ins Fangnetz einschlug. Der Bruder, in ihr, durch sie. Sie gehörte zu ihm, und er gehörte zu ihr. Er spielte. Er traf. Er schoss.

Kuss und Kussi: immer noch. Die Namen verschwanden zuletzt.

Johannes roch nach Gras und Erde. Sie atmete ihn ein.

»Hey, Süße, knackiger Arsch.«

Es lag nichts als Übermut in den Worten. Die Jungen lachten. Alle. Und im Mitlachen betrog Johannes sie. Er wurde ihr fremd. Er gehörte zu den anderen. Er spürte, wie er sich fremd wurde.

Die Mutter sagte: »Steh aufrecht, Mädchen, sonst bekommst du einen Buckel.«

Dass Miriam gebeugt sein wollte, damit ihr Rücken sie vor der Welt schützte, verstand er. Ihre Schultern drängten nach vorn. Wenn sie dann so gebeugt am Tisch saß, gab es zwischen den Schultern und den Knien einen Ort, der nur ihr gehörte. In den konnte sie sich, vom eigenen Körper umgeben, einschließen. Dorthin kam niemand außer ihr. Sie blickte nach unten. Immer schräg nach unten blickte sie. Sie traute dem Oben nicht.

31

Die Mutter betete weiterhin dafür, dass Miriam keine Hosen mehr anziehe.

Wie konnte ihre Tochter solch eine Sünde begehen. Es gehörte sich nicht. Miriam sagte: »Soll ich die Einzige in der Klasse sein, die noch im Rock herumläuft?«

Dass sie den Reißversschluss vorne auf- und zumachte, war das Allerschlimmste.

Manchmal blickten die Bubenaugen hinüber auf die Mädchenseite. Spreitzest deine Beine für alle, die vorübergingen.

Dein Schoß ist wie ein runder Becher, dem nimmer Getränk mangelt. Dein Leib ist wie ein Weizenhaufen, umsteckt mit Lilien.

Das Dorf war ein Wunder der Schöpfung. Darin waren sich die Buben einig. GOtt wusste alles und kannte alles. Die Buben waren voll der Bewunderung für diesen SChöpfer, von dem alles, auch die Mädchen und das Hohe Lied, kam. Vor GOtt gab es keine Geheimnisse. Vor dem Pfarrer und dem Zahnarzt und dem Totengräber und den Eltern schon.

32

Manche Abende verbrachten sie zusammen. Da hörten sie Pachelbels Kanon, Albionis Adagio, Vivaldis Winterlargo, Händels Ankunft der Königin von Saba. Solo deo gloria. Johannes und Miriam saßen auf ihrem Bett und hörten Musik, die aus einer Welt kam, die nicht trennte. Er sog den Geruch nach Puder und Weichspüler, nach Apfeltee und Dispersionsfarbe ein in sich.

Miriam fror. Sie war allein. Da war die Barockmusik mit ihrem sicheren Kontrapunkttakt, der alle Melodien möglich machte, das einzig Richtige. Es war eine gesegnete Welt. Brüderchen und Schwesterchen. Kuss und Kussi. Sie sangen: »Froh zu sein, bedarf es wenig, und wer froh ist, ist ein König.« Sie sangen im Kanon. Sie berührten einander, wie es nur in Worten möglich war.

 

Er sagte, wie so oft: »Du bist die schönste unter den Menschenkindern, voller Huld sind deine Lippen, wahrlich, GOtt hat dich gesegnet für ewig.«

Sie war stark. Sie bereute nichts. Sie sagte: »Juden glauben nicht an das Leben nach dem Tod. Aber wie ist es bei Muslimen?«

Die Zeit, die glaubte, wenn man alle Nebenflüsse des Neckars auswendig aufsagen könnte, bekäme man eine Eins, lag hinter ihnen. Sie waren für Neues bereit.

33

»Das Engelein aus Himmelreich«, nannten sie sie. Und »Kussi«. Kam sie von der Schule nach Hause, setzte sie sich ans Klavier. Sie spielte schottische Tänze, spielte White Sunday, spielte Jazziges, das aus den USA kam, dann Mendelssohn und Schumann und vielleicht noch Mozart und Beethoven. Es war eine Weltreise, die sie unternahm, wenn sie aus dem Gefängnis, das die Schule war, kam. »Kussi, das Engelein aus Himmelreich.« Das war sie. Sie wurde sich fremd in ihren Namen.

Nachdem sie sich durch die Welt gespielt hatte, war sie bereit für Bach. Da, wo vorher ein Kampf war, war jetzt ein Heimkommen. Alles ging in einem großen Zuhause auf. In Pulsschlägen. In Enden und Anfängen. Es hätte keine größere Überwindung geben können als die, die Miriam zwischen Schule und Bach geschehen ließ. Von Osmose, Photosynthese, Weltraum und Cape Canaveral, die gelernt werden mussten, von Kussi und Engelein aus Himmelreich hin zu weichen Herzschlägen und Schöpfungen, die ihr geschahen.

Manchmal, abends, spielte sie ein paar Takte und fragte ihn: »Weißt du, wer das ist?« Liszt, riet er, und Moreau Gottschalk. Es gab eine Nähe, wenn er einen Namen erriet. Bei Liszt die B-Moll Sonate – das zögerliche Anklopfen, das diese Musik war.

Manchmal improvisierte sie. Dann konnte er ihr stundenlang zuhören. Es gab dann kein Moll oder Dur mehr. Es gab Herzschläge. Es gab Töne, die eine eigene Sprache waren. Es berührte ihn, wenn sie so spielte. Der Taumel. Der Schwindel. Das Hinaufgehobenwerden. Das Atemholen. Der Junge und das Mädchen. Im Atmen, im Hören. Alles war ein Jetzt. Ein Jetzt der Harmonien, die sich suchten und fanden. In Körpern. Im Atmen. Im Schweben. Hier war der Rhythmus, hier war das Schweben. Hier war der Herzschlag ein grenzenloses Dürfen. Sie spürten es. Jeder für sich. Und gemeinsam. Sie gehörten dazu. Sie gehörten zueinander. Sie gehörten zum großen Atmen im großen Rhythmus. Es war ein Hören, ein Schweben, ein Vorwärtstreiben. In der Musik gab es keine Mutter und keinen Vater; es gab keinen Bruder und keine Schwester; es gab nur ein Fühlen, ein Schweben und ein Zusammensein. Etwas Tiefes verband den Jungen und das Mädchen. Es verband sie miteinander und mit den anderen Menschen der Welt. Das spürten sie. Etwas Tiefes, das von allen Menschen kam, war in ihrem Spielen – in ihrem Atmen, in ihrem Hören, in ihren Herzschlägen. Sie war Teil von allem. Allein und mit den anderen. Getragen. Gehoben. Im Suchen. Im Finden. Im Fallen. Das Spielen, der Atem, das Jetzt – augenlos, mundlos, ohrenlos, sinnlos. Sie war Bruder und Schwester. Mit allen anderen. Vereint. Im Großen. Es war Liebe, in der Freude lag. Er spürte sie. In sich. Die Liebe. Sie war Junge. Sie war Mädchen. Die Seele war eins. Die Seele war groß. In den Tönen. Im Segen. Johannes und Miriam. Sie waren allein und mit den anderen. Sie waren Kinder. Sie waren Atem, zahlloser Atem. Es war ein eigenes Leben. In den Tönen, die durch sie gingen. Und sie aufhoben. In sich. In ihr. In ihm.

Wenn sie spielte, fielen ihr die Haare über die Schulter. Dort lebten sie – in den Phantasien, in den Tokkaten, in den Liedern. Da spielten sie gemeinsam, wenn sie spielte. Sie im Spielen, er im Hören. Es waren die Bewegungen zweier Körper. Gebend und nehmend. Schenkend und empfangend. Tief atmend, tief schlagend, nahe und doch fern. Der heilige Hals der treibenden Töne.

Sie spielte Brahms. Es-Dur. Es begann dunkel zu werden. Es gab einen Ländlerrhythmus. Es gab Dezimensprünge. Es gab ein Schluchzen. Und dann leuchtete alles doch noch einmal neu und traurig auf. Die Haare. Es war der Tanz der Kindheit, die am Vergehen war.

Sie lächelte. Es war ein Lächeln, das sagte, ich wäre lieber Nacht. Sie stand auf. Es war Sommer, als sie so dastand, das Fenster hinter ihr offen, der Vorhang wehte. Gehen Alche. Arlorn.

34

Es war Frühling und roch nach Erde. Es war der erste Tag des Jahres, an dem es so roch – nach verletzter Erde. Würmer lagen nackt und wanden sich. Würmer lagen durchtrennt, und die zwei Enden bewegten sich. Der Spaten traf sie. Die Hacke flüsterte, wenn sie Erdklumpen zerschlug. Johannes schubste Miriam, nur weil er etwas tun musste und weil er der Mutter nichts antun durfte. Miriam fing sich. Sie fiel nicht so schnell um. »Hör auf, du Idiot.«

Die Mutter drehte sich um und sagte: »So wie wir diese Kartoffeln im Frühjahr in die Erde legen, so legt der liebe GOtt einen jeden von uns in die Erde. Nur kommt es bei uns darauf an, ob wir als neue Menschen auferstehen oder ob wir als alte Menschen der Sünde auferstehen. Geben wir uns nur in einigen Stücken dem Guten hin? Oder geben wir uns ganz und gar dem Guten hin? Fangen wir früh an, das zu tun, was GOtt wohlgefällig ist?«

Miriam ging zwei Schritte zur Seite, damit er sie nicht schubsen konnte.

Die Mutter sagte: »Wollen wir zu einer guten Frucht der Gerechtigkeit werden, so müssen wir in früher Jugend anfangen, uns dem Dienste GOttes zu weihen und uns IHm mit unserem ganzen Leben hinzugeben. Wir müssen nicht uns, sondern GOtt leben. Wir müssen zu einer neuen Frucht wachsen. Sonst wird es uns einmal gereuen, wenn wir auch im neuen Leben noch so viel von dem alten Menschen in uns haben, was uns ewig hindern wird, als vollkommen neue Frucht einst in SEin Reich einzugehen. Manche Menschen kommen auf die Erde und sind von einer Art, die sie nicht ablegen können. Das sieht man ihnen ewig an, weil sie als ganz alte Menschen auferstehen, gar nichts Neues angenommen haben und auf ewig als unbrauchbar verworfen werden, wie eine alte Kartoffel, die man zu nichts gebrauchen kann. Denn nur, was man durch das Wort GOttes lernt, taugt einst in jener Welt.«

Die Mutter sagte all das mit einer Stimme des hohen Ernstes. Sie wollte ihren Kindern etwas mitteilen, das diese nie vergessen würden. Die Mutter als Pfarrerin. »Lass mich doch in Ruh«, wollte Johannes sie anschreien. Er sagte: »Danke. Das werde ich mir merken.« Dabei spürte er den Teufel in sich. Er spürte die Hörner, die ihn in den Magen stachen und die ihm den Schlund heraufkriechen wollten. Er wollte in Ruhe gelassen werden. Von der Mutter. Vom Dorf. Er wollte in Ruhe gelassen werden von den Kartoffeln. Vor allem von den Kartoffeln. Er wollte nicht zu einer neuen Frucht werden. Wie seltsam die Mutter sprach. Als hätte sie etwas auswendig gelernt, damit sie es ihnen mitteilen konnte, wenn der Vater nicht in der Nähe war. Wahrscheinlich hatte sie schon Wochen darüber nachgedacht, was sie zu ihren Kindern sagen könnte. Immer wieder nahm sie Kartoffeln aus dem weißen Plastikeimer und steckte sie in die Erde. Ein paar in die rechte Furche. Ein paar in die linke Furche. Hinter ihr durften Johannes und Miriam mit der Hacke von rechts und links Erde in die Furchen hineinziehen und zu einem Haufen über den Kartoffeln formen. Miriam links, Johannes rechts. Aufhäufeln, nannte die Mutter das. Die Erde roch. Sie lud ein. Johannes ließ sich fallen. Zur Seite. Und riss Miriam mit sich zu Boden. Auf Kartoffeln und Würmer. Er lachte. Das Fallen in den Dreck gefiel ihm. Und Miriam sollte mit ihm fallen. Er konnte nicht mehr aufhören zu lachen. Er wusste, dass es nicht lustig war. Aber solange er lachte, gab es keine anderen Worte. Er lachte sich weg von der Mutter und weg von den Kartoffeln.

»Du Idiot.«

»Jetzt seid ihr aber gleich still, sonst sag ich’s nachher dem Vater.«

35

Sie waren still. Das Leben war Stille. Das Leben war ein Warten. Ein Warten auf Nähe, die aus der Ferne kam, weil sie aus der Nähe nicht kommen konnte. Aus der Nähe konnte keine Nähe kommen. Nur aus dem, was anders war, konnte Nähe kommen. Eine Erlösung. Ein Hiersein. Zwischen Wolken und Wasser. Zwischen Decke und Fenster. Zwischen Er und Sie. So spielte der Frühjahrswind. Er richtete sich ein in ihnen.

Führe mich, o HErr, und leite meinen Gang nach DEinem Wort.

Der Zwanzigmarkschein, den er aus dem Geldbeutel des Vaters nahm, verursachte Schläge. Der Zwanzigmarkschein war die Strafe, die der Vater bezahlen musste.

Johannes sah die verwirrten Augen. Er sah den Schmerz und die Ferne. Miriam war zwei Personen geworden. Sie war bei ihm, und sie war die geworden, die dem Vater beichtete und die dem Vater vergab. »VAter, vergib ihm, denn er weiß nicht, was er tut.« Er sah das Gesicht des Vaters. Er sah die Zähne im Vatergesicht. Der Vater sprach sich selbst Mut zu: »Du hättest ganz andere verdient.«

36

Ricki, das Füchslein, war kleiner als er. Sie war älter als er. Und sie kam mit ihren kurzen Zöpfen, die aussahen, als seien sie aus Drähten gemacht, auf ihn zu. Mit überwachen Augen. Sie schlug ihn auf den Oberarm. Genau an die Stelle, wo es am meisten wehtat. Er schlug zurück. Auf dieselbe Stelle bei ihr. Sie kämpften. Sie boxten. Ihre Fäuste fielen so schnell auf sein Gesicht, dass er nicht mehr wusste, wohin er bei ihr schlagen sollte.

Sie sagte: »Wenn du mir ein Eis kaufst, ziehe ich meine Unterhose vor dir aus.« Sie sagte: »Ich schwör’s.« Sie sagte: »Feigling.«

Er ging und kaufte ihr einen Eislutscher. Mit dem gingen sie in die Kiesgrube hinter der Bäckerei. Hinter der Hütte konnten sie von keiner Straße und keinem Haus aus gesehen werden. Dort gab er ihr das Eis. Rot war es, hellrot, wasserrot. Sie riss es auf und schleckte. »Was guckst du so?« Ihre Zunge wurde geranienrot. Ihr Mund bewegte sich. Ihr Mund hatte Flügel. »Erst wenn ich fertig bin«, sagte sie.

Als sie fertig war, gab sie ihm die Plastikhülle. »Sonst gibt’s noch Flecken.« Sie lachte. Dann hob sie den Rock, schob die Daumen in den Unterhosengummi und zog die Unterhose – sie war hellblau, geblümt, verwaschen – nach unten. Sie zog sie über die Oberschenkel, über die Knie, hob ein Bein, stieg aus dem einen Unterhosenloch, dann aus dem anderen. Er traute seinen Augen nicht. »Du Biest!« Er wollte sie schlagen, jetzt, sofort. Er sah ihre zweite Unterhose und sonst nichts. Sie lachte. Er schubste sie, schubste sie hart. Sie lachte. Das Schubsen gefiel ihr. Das Lachen hieß, dass sie schon wieder gewonnen hatte, hieß, dass sie die Siegerin und er der Verlierer war. Er schrie: »Du!« Dann lachte er auch. »Du Biest, du fieses Biest.« Weil sich das reimte, kam es ihm einfacher über die Lippen. Aber die Worte waren viel zu weich in seinem Mund. Das war ihm nicht recht. Jetzt musste er sie in den Schwitzkasten nehmen. Er machte einen Schritt auf sie zu und schlang den Arm um ihren Nacken, wollte sie über die Hüfte werfen, so wie er das bei den anderen immer machte. Aber sie tauchte weg, tauchte aus der Umschlingung, irgendwie, und legte ihren Arm von hinten um seinen Nacken. Das ging schnell. Jetzt wollte sie ihn auf den Boden zwingen. Sie ließ ihn aber los und lachte. »Kauf mir doch noch einmal ein Eis!« Er spuckte vor ihr auf den Boden. »Dass du, während ich bei Frau Heid bin, die alte Unterhose wieder anziehst!« »Nein, ich versprech dir’s.« »Oder du hast gleich drei angezogen!« Sie schüttelte den Kopf. »Echt nicht.« Aber er glaubte ihr nicht. Er sagte: »Komm, gehen wir an die Rote Aach.« Dort warfen sie Steine in den Bach, jagten mit einem Haselnussstab vorbeischwimmende Blätter und bauten einen Damm. Es war ihm wohler, sobald er den Ort seiner Niederlage hinter sich gelassen hatte und wieder dort war, wo er die Welt und die Welt ihn sehen konnte. Der Boden hinter der Hütte konnte sich auftun und sie verschlucken. Es ging direkt zur Hölle hinunter von da aus. Das wusste er. Es wäre dort schön gewesen, wenn er der Stärkere gewesen wäre. Aber so nicht.

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