Andershimmel

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10

Gemeinsam sagten sie: »Ich glaube, dass mich GOtt geschaffen hat; dazu Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof, Weib und Kind, Acker, Vieh und alle Güter. Das ist gewisslich wahr.«

Sie wuchsen in einer Zeit auf, die glaubte, wenn man alle Nebenflüsse des Neckars auswendig aufsagen konnte, bekäme man eine Eins, die glaubte, wer eine Eins bekam, war sehr gut, die glaubte, darauf könne man sich verlassen und auch darauf, dass wer eine Eins bekam, sich nicht mit dem Messer in die Unterarme schnitt.

Miriam versteckte die roten Linien unter langen Ärmeln. »Wenn es weh tut, tut es gut«, sagte sie.

Im Beten gaben sie sich hin. Wenn sie beteten, waren sie eins. Sie hörten sich. Sie erfuhren den VAter, den SOhn und den HEiligen Geist. ER fühlte sich seltsam an. Wie etwas, das sie gegessen hatten. ER war in ihnen. Drei war drei und drei war eins. Diese Rechenaufgabe löste jedes Kind im Dorf. Mühelos.

Alles war möglich in dieser Logik. Alles stand in SEinem unergründlichen Ratschluss. Man musste es nur annehmen.

Der HErr wollte nicht, dass sie so viel Schokolade und Gummibären aßen. Das sagte die Mutter. Wenn Johannes und Miriam etwas wollten, was dem HErrn nicht gefiel, war der Feind in ihnen. Der musste bekämpft werden. Wer vom Teufel frei ist, dem widerstreben die Gebote des HErrn nicht. So sprach die Mutter, die wusste, was dem HErrn gefiel und was dem HErrn missfiel. Immer.

Der HErr führte. Der HErr liebte. Deshalb fügte der HErr Schmerzen zu. Schmerzen waren Prüfungen. GOtt schuf den Schmerz. Und ER sah, dass es gut war. Der Schmerz war Führung. Wenn es nicht wehtat, war es eine Führung des Teufels. »Wenn du das noch einmal machst, musst du eine Tafel Schokolade essen!« Das war die Strafe des Teufels. Man musste etwas verlieren, damit die Lektion vom HErrn kam. Man musste seine Schmerzensfreiheit verlieren, damit man GOtt spürte. Wer IHn erfuhr, war gesegnet.

Er sagte: »Rems, Murr, Steinbach, Lein, Enz, Kocher, Jagst.«

Sie sagte: »Ich will gar nicht wissen, wieviele du vergessen hast.«

Er sagte: »Wenn du den Zipfelbach meinst, den hab’ ich mit Absicht weggelassen.«

Sie lachte. Und er spürte ihr Lachen. Es war hell. Es war gut. Es war ein Geschenk. Solange sie lachte, schnitt sie sich nicht. Solange sie sich nicht schnitt, spürte er es nicht, wie sie sich schnitt. Er wollte weg von ihren Schmerzen. Von ihren Schmerzen, die sie sich selbst zufügte.

11

Es gab Moorseen im Dorf, und eine Kirche gab es, genannt Betsaal. Es gab sieben aus Nächstenliebe gegründete Einrichtungen: das Waisenhaus, die Trinkerheilstätte, die Gehörlosenschule, die Heilerziehungsanstalt, das Knabeninstitut, das Mädcheninternat und das Heim für Mehrfachbehinderte.

Alles und alle lebten im Sinn der Nächstenliebe. Im Dienst an Anderen wurde man IHm gerecht.

Der Richtspruch des Dorfes lautete: Wer unter dem Schirm des HÖchsten sitzt und unter dem Schatten des ALlmächtigen bleibt, der spricht zu dem HErrn: Meine Zuversicht und meine Burg, mein GOtt, auf den ich hoffe.

Jedes Kind konnte diesen Spruch auswendig aufsagen.

Alles, was in diesem Dorf geschah, lag in GOttes unergründlichem Ratschluss. Wenn etwas geschah, stand es den Menschen nicht an, SEine Weisheit zu hinterfragen. Lebensversicherungen waren verpönt. Wer vom HErrn heimgeholt wurde, durfte von dieser Gnade nicht auch noch profitieren wollen.

Denn ER errettet dich vom Strick des Jägers und von der tödlichen Pest. ER deckt dich mit SEinen Fittichen, und deine Zuversicht ist unter SEinen Flügeln.

Unter SEiner Hut lebte das Dorf. In SEinen Händen lebte das Dorf. Vier Straßen führten auf den Betsaal zu. Von Ost, Nord, Süd und West. Egal, woher man kam, der Weg führte direkt zum Haus des HErrn.

Es war eine gesegnete Gemeinde. Die Gemeinde war voll von GOtt. Die Gemeinde stand unter dem Schirm des HÖchsten, des ALlmächtigen, des SChöpfers des Himmels und der Erde. Bruder Nagel. Bruder Maiwald. Bruder Lerner. Bruder Dreher. Brüder gründeten das Dorf. Brüder bestimmten das Dorf. Brüder waren das Dorf. Unter der Hut des HÖchsten.

Das Dorf war eine männliche Zeugung. Das Dorf war eine Brüdergemeinde. GOtt, VAter, SOhn und der HEilige Geist.

Frauen waren keine Männer. Frauen waren keine Brüder. Frauen waren Mütter. Alle Mütter lebten streng im Dorf. Also redeten die Mütter, die Weiber waren, in der Gemeinde nicht. Sie gehorchten der Heiligen Schrift, die GOttes Wort war. Der Mann ist des Weibes Haupt. Der Mann ist nicht vom Weibe, sondern das Weib ist vom Manne. Der Mann ist nicht geschaffen um des Weibes willen, sondern das Weib um das Mannes willen. Lasset eure Weiber schweigen in der Gemeinde. Es steht den Weibern übel an, in der Gemeinde zu reden. Die Mutter glaubte. Die Mutter lebte streng.

Der Vater war ein Ältester. Er gehörte zum Ältestenrat. Sprach der Vater mit dem HErrn, wurde sein Mund spitz. »ALl-mächtiger« und »EWiger« und »ZEbaoth« und »VAter«, sagte der Vater, wenn er mit dem VAter sprach. Sprach der Vater mit dem VAter, machte der spitze Mund seine Stimme hoch. Der Vater wurde zum Kind im VAter. Er liebte den VAter. »GOttes Sohn«, »HEiland«, »lieber HErr, der DU für unsere Sünden gestorben bist, der DU sitzest zur Rechten GOttes«.

Johannes wollte weg von dem Spitzmaul.

»Führe mich, o HErr, und leite meinen Gang nach DEinem Wort.«

12

Miriam sagte: »Wir haben nur probiert, die Handbremse anzuziehen.«

Der VW Käfer hatte der Schwerkraft gehorcht und Bekanntschaft mit einem Grenzstein am Parkplatzrand gemacht. Krachend. Scherbend. Überraschend.

Obwohl auch das in GOttes unergründlichem Ratschluss lag, war der Vater nicht dankbar für diese Prüfung.

Wer nicht hören wollte, musste fühlen.

Johannes musste fühlen. Aus Liebe.

Nachher, als der Vater gegangen war, kam Miriam in sein Zimmer: »Tut’s noch weh?«

»Nein, ich hab gar nichts gemerkt. Wirklich. Mich trifft er nicht, höchstens meinen Körper.«

Diese Trennung zwischen Körper und Seele hatte Johannes bei der Tante gelernt, die einen Krebs im Körper hatte. »Mir geht es gut. Wie es meinem Leib geht, ist eine andere Sache.«

»Du hättest ganz andere verdient«, brüllte der Vater. »Du hättest es hinter die Löffel verdient, nicht nur auf den Hintern.«

Verdienen. Etwas verdienen. Auch das gehörte zu diesem Dorf. Wenn der Vater ihm etwas gab, das er verdient hatte, staunte Johannes, weil dann die Zähne im Vatergesicht groß wurden. Es sah aus, als hätte er die Zähne eines anderen Wesens im Gesicht.

Miriam sagte: »Was spüren Tiere, wenn sie geschlagen werden? Hast du dich das schon mal gefragt?«

Schläge waren gängige Währung im Dorf. Bei Kindern und Vieh. Alles, was von GOtt, dem VAter, den Menschen anbefohlen worden war. In GOttes unergründlichem Ratschluss lag es. So wollte es GOtt. So wollte es GOttes Wort. So wollten es die Gemeindeältesten. So wollten es die Eltern. Schläge bedeuteten Ordnung. Schläge zählten. Schläge halfen der Seele. Wer geschlagen wurde, erfuhr SEine Güte und Barmherzigkeit. In Liebe.

Denn also hatte GOtt die Welt geliebt, dass er SEinen eingeborenen SOhn gab, dass ER Mensch werde und als Mensch leide. Auch GOtt ließ sich als SEin eingeborener Sohn, der ER auch war, schlagen. Er ließ sich Nägel durch Hände und Füße schlagen. ER ließ sich anspucken. ER ließ sich erlösen.

Und der HErr sah, dass es gut war.

Mit Mann und Ross und Wagen, hat sie der HErr geschlagen.

Johannes holte Luft, bevor es anfing. Er hielt die Luft an. Er machte sich klein. Er atmete aus, wenn es vorbei war. Im Ausatmen ließ er alles aus sich heraus. Auch das, was sich in seinem Körper angestaut hatte. Im Ausatmen trennte er sich von dem, was geschehen war. Es war gar nicht ihm geschehen. Es war jemand anderem geschehen. Es war vorbei. Gelobt sei, was hart macht. Ein Indianer kannte keinen Schmerz. Johannes war stärker als das, was da mit ihm geschah.

»Wer den Stock schont, schadet dem Kind«, hieß es im Dorf.

Manche Eltern mussten vom Pfarrer und von den Ältesten getröstet werden, wenn der HErr ihnen die Prüfung auferlegte, dass sie ihre Kinder lieben sollten. »Es ist nicht immer einfach, IHm gehorsam zu sein.«

SEine Güte und Barmherzigkeit währten ewiglich. Das durfte man nicht vergessen. Es ging um das ewige Leben.

Johannes und Miriam blickten durchs Dachfenster. Draußen war der Himmel. Draußen war es Nacht. Draußen hörten sie den Wind, der sich mit den Pappeln auf dem Nachbargrundstück beschäftigte.

Miriam sagte: »Dass der Grenzstein auch gerade an der Stelle stehen musste.«

Johannes sagte: »Genau. Der hätte auch ein paar hinter die Löffel verdient.«

Miriam lachte.

Johannes lachte. Er wusste, er würde eines Tages aus dem Dorf gehen. Weggehen. Verschwinden. Nach Amerika würde er gehen. Amerika war das Land, das schlug und nicht geschlagen wurde. Wer in Amerika war, wurde nicht geschlagen. Nicht vom Vater. Nicht von GOtt. Nicht von den Ältesten.

13

Sie sagte: »Soll er doch toben, der Alte.«

Nur das Atmen war noch da – und die Wärme der Bettdecke. »Willst du dich noch ein bisschen zu mir legen?«, fragte sie Johannes. Er legte sich neben sie. Er betrachtete die Tränen in ihren Augenwinkeln. Sie zog die Decke weit über sich und über ihn. Da waren sie allein.

»Pubertär.« Das war ein Vaterwort. Wenn der Vater »pubertär« sagte, war es ihm wohl, denn er meinte, wenn er ein Wort gefunden hatte, dann hätte er ein Verstehen gefunden, und das Verstehen war ihm ein Werkzeug des Trostes. Des Selbsttrostes. Im Verstehen fand der Vater seinen Atem. Im Verstehen fand der Vater die Ordnung der Welt. Der Vater meinte es gut, wenn er etwas verstanden hatte. Alles gehörte in SEine Ordnung, gelobet sei der HErr. So verstand der Vater die Welt. Alles war größer als man selbst. Alles lag in SEiner Hand. So hoch der Himmel über der Erde, so hoch sind MEine Gedanken über euren Gedanken. Alles lag in SEiner Hand, in der man sich geborgen fühlen durfte. Geboren und geborgen. Ich steh in meines HErren Hand und will drin stehen bleiben.

 

Miriam legte Brahms in den Kassettenrekorder. Phantasien. Die Haare fielen ihr über die Schultern. Johannes schaute den Bewegungen ihres Halses zu. Der atmete. Es waren Mächte in ihm. Die Macht des Schluckens. Die Macht des Atmens. Die Macht des Sprechens. Die Macht des Singens. Miriams Atmen kam Mächtigem nahe. Er liebte sie. Er liebte ihren Hals. Er liebte ihr Atmen. Er liebte ihren Kampf gegen den Schmerz ihres Körpers. Er war bei ihr. Weit weg von allem.

Sie war stark, wenn es ihr kalt war.

Sie sagte: »Unser Alter hat doch keine Ahnung. Der lebt in einer Welt von vor zweihundert Jahren.«

Die Haare schwebten wie ein dünner Vorhang um ihren Hals. Der heilige Mund und die Töne, die ihr gehörten. Im Bett waren sie weit weg von allem und allen.

Sie waren Fremde – im Dorf und in der Welt. Sie waren Fremde voreinander und miteinander. Sie hießen Schneewittchen. Sie hießen Reh. Sie hießen Kuss. Sie hießen Kussi. Sie hießen Sternenhimmel. Sie richteten sich ein in ihrem Fremdsein. Gemeinsam. Miteinander.

Miriam roch nach Baby-Crème. Es war ein Geruch der Unschuld. Sie will zu mir, dachte er. Sein Herz zitterte. Das Dorf lag hinter ihnen. Es lag vor ihnen. Es lag neben ihnen.

»Alles in Ordnung?«, fragte Johannes.

»Klar. Bei mir ist immer alles in Ordnung«, sagte Miriam und lachte.

Das Leben lag vor ihnen. Sie waren ruhig. Alles Atmen ging auf in ihnen. Sie lachten miteinander. Sie drehten den Kopf zur Seite und blickten einander in die Augen.

14

Sprach der Vater mit GOtt, dann sprach er in der Sprache eines Mannes, der einen Mann liebte. GOtt war seine erste Liebe. Die Sprache der Liebe kam, wenn er mit seinem GEliebten redete, von tief in ihm. Sie berührte erst spät die Kehle. Es war seine Seelenstimme. Der Vater liebte IHn über alles. Seine erste Liebe war ein Gehorchen. Wer Vater oder Mutter mehr liebt als MIch, der ist MEiner nicht wert; und wer Sohn und Tochter mehr liebt als MIch, der ist MEiner nicht wert. Das war das erste Gesetz der Liebe. Ihr Vater wäre fähig gewesen, sie, wenn der HErr es von ihm verlangt hätte, auf einen Altar zu binden und ihnen mit einem Schwert den Kopf abzuschlagen. GOtt konnte so etwas verlangen. Und bei ihnen im Dorf gab es nirgends einen Widder, der plötzlich durchs Gesträuch gebrochen wäre und sie im letzten Augenblick gerettet hätte.

GOtt lebte in der Liebe. ER lebte in jedem Menschen. ER lebte in ihnen. GOtt war Mensch. Und Menschen, auch sie, Johannes und Miriam, waren ein Teil GOttes, ein Teil der lebendigen Liebe GOttes. ER war in ihnen. ER war sie. ER sagte: »Komm mit.« Sie schauten den Wolken zu, die übers Moor hereinzogen. GOtt sprach zu ihnen durch Menschenmund. Gefiel IHm etwas nicht, sprach ER zu ihnen durch Menschenmund. Dann redeten die Menschenmünder vom ALlmächtigen, vom EWigen, vom ZEbaoth und vom VAter. Dabei wurden die Münder spitz, die Worte kamen aus der Seele, die Stimmen wurden heilig. Dann sagten die Ältestenmünder durch ihre grauen Bärte, Bruder Lauer, Bruder Dorner, Bruder Maiwald, Bruder Nagel, was IHm nicht gefiel. Frösche quälen, einer Fliege die Flügel ausreißen, am Sonntag Fußball spielen. »Betet, dass ihr es nicht mehr tut. Bittet IHn innständig um SEine Vergebung.«

Johannes schaute den Spitzmäulern zu. Miriam schloss die Augen und hörte.

»Ihr Knechte, seid untertan mit aller Furcht den Herren, nicht allein den gütigen und gelinden, sondern auch den wunderlichen«, sagte das Spitzmaul Maiwald. Bruder Maiwald mochte es nicht, wenn man ihm, wenn er redete, aufs Maul schaute. Man sollte die Augen gesenkt halten, wenn das Spitzmaul Maiwald mit einem sprach. Eine Colaflasche aus der Bäckerei gestohlen. Die alte Bäckerin hatte es gesehen. Miriam konnte die Augen schließen und den Kopf senken. Sie hatte vor der Bäckerei gewartet.

Wenn sie die Colaflasche wenigstens hätten trinken können.

Haribo macht Kinder froh. Und Erwachsene ebenso.

»Bereut ihr aufrichtig?«

Sie nickten.

Die Seele war Teil vom IHm. Sie war hell und durchsichtig. Sie war ein weißer Nebel, der brennen konnte, ohne sich zu verzehren, der brennen konnte, ohne heiß zu werden. An Pfingsten tanzten die Seelen als Flammen auf den Häuptern der Jünger; die Jünger sprachen in Zungen, die alle Völker verstanden, weil sie in allen Sprachen der Welt sprachen. Der HEilige GEist war über sie gekommen. Der HEilige GEist war in tanzenden Seelenfeuern auf den Häuptern. Der HEilige GEist war eine tanzende Sprache.

Und weil die Seele ein Teil von IHm in einem selbst war und weil man zu IHm, dem HErrn, betete, war der Odem, mit dem man IHn anbetete, ein besonderer Odem. Es war ein Seelenatem. Er gehörte IHm. Er war eine unvorstellbare Nähe zwischen IHm und den Worten des Betenden.

In der Küche sang die Mutter, wenn es ein schwieriger Tag war, weil die Kinder vor den Ältestenrat berufen wurden: »SEine Güt und Wahrheit wäh-he-ret e-wig-lich.« Sie sang die Worte. Sie gab den Worten Atem. Wäh-he-ret. Und mit dem lang gedehnten E-wig-lich, das sie mehr hauchte als sang, ließ sich der Tag leichter ertragen. In IHm.

Weshalb blieben ihm die Schläge, die Miriam empfing, so klar in Erinnerung, während sich die Schläge, die er empfing, in einem Erinnerungsnebel auflösten. Die Schläge, die er empfing, waren Teil einer anderen Seele, die nicht IHm gehörte. Sie waren Teil der Trotzseele. Der Ichbinichseele. Der Ichwillwegseele. Der Amerikaseele. Die Schläge, die Miriam empfing, waren Hilferufe. Sie verletzten. Sie trafen. Sie blieben im Dorf. Sie blieben in Miriam. Sie blieben in Johannes. »Verdient«, sagte der Vater mit den großen Zähnen. »Verdient hast du es dreimal.«

Das sagte er in Liebe. In SEiner Liebe.

Gab es in der Bibel eine Stelle, wo ein Mann seine Frau oder seine Tochter schlug? Johannes erinnerte sich nicht. Miriam wurde geschlagen, wie er geschlagen wurde. Existierte das Schlagen von Frauen und Kindern in der Bibelzeit? Wurde es nicht erwähnt, weil es unwichtig war? Bileam schlug seine Eselin, er schlug sie noch mehr, und er schlug seine Eselin mit dem Stock. Da sprach die Eselin zu Bileam: »Was habe ich dir getan, dass du mich nun dreimal geschlagen hast?«

So wurde erwähnt, dass ein Tier, ein weibliches Tier, geschlagen wurde – und das Tier antwortete mit Menschenworten. Denn das Tier war ein Instrument GOttes.

Die Mutter sagte: »Eigentlich sollte ich dir den Hintern versohlen.« Miriam sagte: »Darfst ruhig ein bisschen sohlen, wenn du willst.« »Darfst ruhig ein bisschen sohlen.« Immer wieder sagte die Mutter den Satz. Im ganzen Dorf herum. Und lachte.

15

Das Universum war das Weltall. Das Weltall hatte Sonnen, Planeten, Horizonte. Auf einem dieser Planeten lebten Männer, Frauen, Kinder und Greise, Hunde und Katzen, Affen und Igel. Alles war da. Alles war einfach.

Bis es ans Segnen ging. Beim Segnen begann es, kompliziert zu werden. Alle wollten gesegnet werden. Aber es gab nicht genug Segen für alle. »Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn«, erster Mose zweiunddreißig siebenundzwanzig. Es war das dreiundzwanzigste Mal, dass Segnen in der Bibel erwähnt wurde. Der UNbekannte rang mit Jakob, bis die Morgenröte anbrach. Und als ER sah, dass ER ihn nicht übermochte, schlug ER ihn auf das Gelenk seiner Hüfte, und das Gelenk der Hüfte Jakobs wurde über dem Ringen mit IHm verrenkt. Und ER sprach: »Lass mich gehen, denn die Morgenröte bricht an.« Aber Jakob antwortete: »Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.« ER sprach: »Wie heißest du?« Er antwortete: »Jakob.« ER sprach: »Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit GOtt und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen.« Und Jakob fragte ihn: »Sage doch, wie heißest du?« ER aber sprach: »Warum fragst du, wie ICh heiße?« Und ER segnete ihn daselbst.

Ein Segen konnte erschwindelt werden. Denn ein Segen, der einmal ausgesprochen war, galt. Er konnte nicht mehr zurückgenommen werden. Auch wenn er erschwindelt wurde. »Bist du mein Sohn Esau?« Jakob sagte: »Ja, ich bin’s.« Da sprach der Vater: »So bringe mir her, mein Sohn, zu essen von deinem Wildbrett, dass dich meine Seele segne.«

Und als der echte Esau später kam, war der Segen schon vergeben: »Dein Bruder ist gekommen mit List und hat deinen Segen weggenommen.« Esau sprach: »Hast du denn nur einen Segen, mein Vater?« Da antwortete Isaak, der Vater: »Siehe, du wirst wohnen ohne Fettigkeit der Erde und ohne Tau des Himmels von oben her. Von deinem Schwert wirst du dich nähren, und deinem Bruder sollst du dienen.« Und das, weil er zu spät gekommen und das Opfer eines Segensbetrugs geworden war. Esau, das Opfer, musste leiden.

All diese Worte lebten in einem Weltenraum, in den Mütter und Schwestern nicht hineindurften. Der Segen blieb im Männerraum des Universums. Mütter konnten helfen, ihren Mann zu betrügen.

Oder vielleicht war es kein Betrug. Vielleicht war Jakob der Liebling des Vaters, und der Vater brauchte ein Alibi, um das zu tun, was er tun wollte: seinen Segen dem geben, dem er ihn geben wollte. Kannte Rebekka ihren Isaak? War es ein abgekartetes Spiel?

Rebekka sagte: »Der Fluch sei auf mir, mein Sohn; gehorche nur meinen Worten.« Da ging Jakob und holte Felle von Schafsböcken, mit denen Rebekka Jakobs Hände und den Hals, wo Jakob, der Muttersohn, glatt war, umwickelte. Blind war der Vater. Doch der Segen, war er einmal ausgesprochen, galt.

Glaubten alle Völker an eine Form des Segnens, an eine Form des Glücks des Gesegneten und eine Form des Unglücks des Verfluchten? »Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.«

16

Er ging an der Hoffnung vorbei, vorbei am Licht und am Schatten. Alle drei standen offen. Alle drei hatten einen eigenen Geruch. Die Hoffnung roch nach Speichel und Lysol, denn sie musste oft desinfiziert werden, das Licht roch nach alten Steinfliesen, denn das Gebäude diente als Speicher, und der Schatten roch nach Fotokopiermaschinen und Parfum, denn in ihm war die Verwaltung untergebracht. Und ein Stück weiter an der Straße kam die Töpferin. Deren Geruch kannte er in- und auswendig. Den roch er in sich, bevor er die Schrift »Töpferin – Um die Ecke« auf dem handgemalten Schild sah. Bei ihr roch es nass und erdig. Es surrte und brauste. Sie saß auf einem Schemel und hatte immer wieder gelbes Blut zwischen den Fingern, das sie formte und in die Höhe steigen ließ. Mit dem Handrücken wischte sie sich Haarsträhnen aus dem Gesicht und versuchte, sie sich hinters Ohr zu streichen, was ihr aber nur selten gelang, weil ihre Haare wild waren.

Maria hieß sie. Und Morgenröte. Sie ließ ihn zuschauen. Er durfte neben ihr stehen und Nässe und Erde riechen, wie sie lebendig zwischen ihren Fingern größer und kleiner, höher und runder wurden. Auf ihrer Scheibe zwischen den Beinen ließ sie die Ränder von Tassen und Kannen schnell in die Höhe fließen. Die dünnen Wände flossen tatsächlich nach oben. Und dann waren plötzlich, wenn das Messer kam, die Ränder auf halber Höhe weg. Die gelben Finger kneteten, was das Messer abgeschnitten hatte, zu einem gelben Blutklumpen und warfen ihn zurück zum anderen Blut in der Schüssel. Es war eine Form des Schlachtens, die hier mit dem Kreischen der Sandsteinscheibe und dem Messer stattfand. Nur war hier alles gelb, und niemand wurde an den Ohren hereingezogen und mit einem Schuss in die Stirn auf den Boden geworfen. Manchmal sagte die Morgenröte: »So, kommst du mich wieder einmal besuchen?« Und sie sagte: »Willst du mir eine Weile zuschauen?« Sie sah ihn gern. Bei sich. Neben sich. Meistens sagte sie nichts. Sie wusste, sie brauchte nichts zu sagen. Er durfte da sein – in der Nässe und in der Erde und im Drehen der Platte zwischen ihren Beinen. Und er schaute ihren Fingern, ihren Fingernägeln, ihren Handflächen und Daumenspitzen zu. Und er wollte ihre Haare riechen. Er wollte wissen, wie sie wirklich rochen. Aber da waren die Gerüche der Nässe und der Erde, der Geruch des gelben Blutes. Sich ganz nah neben sie stellen und ihre Haare riechen durfte er nicht. Eine Armlänge – das war die geltende Distanz im Dorf. Und über diese Entfernung konnte er ihre Haare in der Werkstatt mit all den anderen Gerüchen nicht riechen. Vielleicht war das überhaupt der Grund, weshalb man diesen Abstand im Dorf einhalten musste. Haareriechen war gefährlich. Im Geruch der Haare begann die Hölle. Im Geruch der Haare wurde es heiß und sündig. Das spürte er. Deshalb war er hier. Deshalb stand er in der Werkstatt beim Formwerden des gelben Blutes.

 

Am Ende durfte er einen Teller machen, aber nicht auf ihrer Scheibe. Er gab sich Mühe mit seinem Teller. Sie sollte sich beim nächsten Mal wieder über seinen Besuch freuen. Sie sollte ihn segnen. Sie sollte den Teller segnen. Sie sollte sagen: »Ich glasiere ihn dir. Soll’s wieder blau sein?«

Der kleine Junge und das Dorf. Dass die Morgenröte mit ihm verwandt war, war selbstverständlich, denn in diesem Dorf waren alle mit allen verwandt. Miriams Haare – er hatte nie an ihnen gerochen. Er konnte es sich nicht erklären. Er hatte nie an ihnen riechen wollen. Das bereute er. Aber es nachholen wollte er nicht. Es war zu spät. Die Augenblicke waren vorbei. Im Atmen. Im Schlafen. Ein und aus. Immer wieder. Ineinander. Miteinander. Durcheinander. Sie und er. Im Dorf. In diesem Dorf, das eine Sekte war.