Andershimmel

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5

Die rot-weißen Turnschuhe hatte die Frau neben der Eingangstür ausgezogen. Sie standen auf einem schwarzen Schuhabstreifer. New Balance – rot und weiß und sportlich. Sie waren kleiner, als er es bei ihrem Körper erwartet hatte. Er blickte wieder zu ihr und verglich ihre Turnschuhe mit ihren Füßen. Alles war schwarz an ihr – bis auf die Hände. Auch die Socken waren schwarz. Die Füße waren tatsächlich klein. Sie beugte sich vor, richtete sich auf, beugte sich vor. Neben ihr lagen auf zwei Stühlen eine Lederhandtasche und ein Plastikkoffer. Beide schwarz. Sollte er seine Schuhe auch ausziehen? Gehörte sich das hier so? War es ein Zeichen des Respekts, wenn er seine Schuhe auszog? Schaden konnte es nicht. Schmerzen tat es auch nicht. Also beugte er sich vor, löste die Schnürsenkel, zog die braunen Halbschuhe von den Füßen und stellte sie auf die andere Seite des Schuhabstreifers. Vielleicht gab es bei Schuhen eine Männer- und eine Frauenseite. Er wollte Respekt zeigen. Er wollte nicht stören. Während er sie anblickte, bemerkte er, dass er nichts an ihr erkennen konnte, was ihm mehr über sie verraten hätte. Er war ein Analphabet in den Zeichen ihrer Kultur. Woher kam sie? Irak und Iran waren Möglichkeiten. Saudi-Arabien und Syrien konnte er sich vorstellen. Aber ebenso gut konnte sie aus Ankara oder Berlin oder Paris oder Zürich kommen. Oder aus Malaysia. Nicht einmal, ob sie Schiitin oder Sunnitin war, konnte er erkennen. Er wusste, entweder Schiiten oder Sunniten beteten so, dass ihre Stirn auf einen Stein aus Mekka traf, den sie sich auf den Gebetsteppich gelegt hatten. Aber waren es Schiiten? Waren es Sunniten? Er wusste nicht, auf welche Details er achten musste, um eine Schiitin von einer Sunnitin zu unterscheiden.

Religious Reflection Room. Wie hieß so ein Raum auf Deutsch? Andachtsraum? Religiöser Reflexionsraum? Gab es auf deutschen Flughäfen solche Religious Reflection Rooms? Oder gab es solch einen Raum nur im Flughafen dieser amerikanischen Stadt, wo Irak und Iran schon seit den Flüchtlingswellen vor vierzig Jahren zusammenkamen?

Ein leichter Schweißgeruch lag im Raum. Kam der von ihm? Kam der von ihr? Kam der von jenen, die vor ihnen hier gebetet hatten? Seinen Arm heben und riechen, ob dieser Geruch von ihm ausging, wollte er nicht. Die Bewegung hätte ein Geräusch verursacht, das sie gehört hätte. Es hätte sie gestört. Er blieb reglos stehen. Entfernt roch er Rosengeruch. In Istanbul hatte er diese Mischung aus Schweiß- und Rosengeruch zum ersten Mal wahrgenommen, überall, im Teppichboden des Hotels, in den Leintüchern des Bettes, im Nachtischgebäck, in der Kleidung des Hotelpersonals, in den Bussen nach Asien und auf den Fähren über den Bosporus. Kam sie aus Istanbul?

Er betrachtete die Stühle, die entlang der Wände standen. Die Bücher, die auf manchen lagen, karminrot, gebunden und dünn, waren Gebetsanleitungen. Es waren keine Bibeln. Prayer Book, stand auf den Buchrücken. Gehörten diese Prayer Books zu einer bestimmten Religion? Gab es in allen Religionen Gebete? Bei Christen und bei Muslimen gab es Gebete. Aber wie war es bei Hindus und Buddhisten? Nannten sie es beten, wenn sie in Meditation saßen? Nannten sie es Andacht? Es war ihm peinlich, wie wenig er wusste. Wenigstens etwas hätte er wissen müssen. Wie war es möglich, dass er bei all seinen Studien der medizinischen Anthropologie nicht mehr von den verschiedenen Religionen wahrgenommen hatte?

Aber jetzt war er hier: im Religious Reflection Room des Flughafengebäudes. Room Number 99. Islamisch, katholisch, jüdisch, protestantisch, baptistisch, buddhistisch, hinduistisch, methodistisch, amisch, hutterisch, Zeugen Jehovas, Mennoniten, Mormonen – alles war möglich in diesem Religious Reflection Room. Alles war erlaubt. Auch dass er mit dieser Unbekannten in diesem Raum war, dass er hinter ihr stehen und sie einatmen und dass sie ihm den Rücken zuwenden, dass sie vor ihm knien und so tun konnte, als sei er nicht da. All das war erlaubt.

Sie reinigte sich. Im Gebet. Im Knien. In der Andacht. In der Demut. Das wusste er. Die Säuberung des Denkens und das Hinwenden auf Ihn, auf Allah, waren Teil des Gebets. Das Gebet war ein Waschen – ein innerliches Waschen.

Frauen beteten in Moscheen hinter Männern. Das wusste er von Istanbul und von Bursa, jenem Ort am Ende der Seidenstraße, der ehemaligen Hauptstadt des osmanischen Reiches, wo er drei Tage zugebracht und Vorträge über die Medizin im osmanischen Reich gehört hatte. Eine Frau von hinten zu betrachten, während sie kniete und ihren Oberkörper immer wieder nach vorn beugte, wäre für Männer, die sich innerlich reinigen wollten, eine zu große Herausforderung gewesen. Also mussten die Frauen nach hinten. Frauen konnten offensichtlich, während sie den Männern von hinten bei deren Verbeugungen zusahen, ihre innerliche Reinigung durchführen.

6

An den fensterlosen Wänden standen in Großbuchstaben die Himmelsrichtungen: E, N, W, S. East, North, West, South. Die Frau betete nach Osten hin. Er stand im Westen. Er atmete im Westen und war ruhig. Auf den Stühlen an der Wand gen Osten hin lagen drei weitere Gebetsteppiche. Einer war blau und gelb, einer war braun und gelb, einer war grün und gelb. War gelb eine besondere Farbe? In grüne und gelbe Tücher waren in Bursa die Särge der osmanischen Herrscher eingewickelt. Immer wieder das Gelb. Hatte es eine besondere Bedeutung? Oder war es eine Farbe, die einfach herzustellen war?

Religious Reflection. Was waren religiöse Reflexionen? Bedeuteten sie, dass man hier beten musste? Durfte man auch die Bibel lesen? Durfte man Psalter laut vor sich hinsagen? »Lobe den HErrn, meine Seele, und was in mir ist, SEinen heiligen Namen.« Galt Nachdenken auch als Reflexion? Und tiefes Atmen? Galten Yogaübungen als religiöse Reflexionen?

Der Raum bot viel freie Fläche. Das würde gehen. Sie könnten hier beide ihre Reflexionen machen. Sie gen Osten auf den Knien. Er gen Westen auf den Füßen. Er zog das Jackett aus und knüpfte die Krawatte auf. Er musste die Krawatte ausziehen, wenn er Yogaübungen machen wollte.

Steif wie er war, hatte er in den letzten Jahren zunächst zögerlich, dann mit schwindendem Widerstand angefangen, in Yogastunden zu gehen. Mehr schlecht als recht bewegte er sich. Er hielt die Positionen ungenau. Es knirschte und zwickte in jedem Gelenk, und die Knochen wollten sich nicht bewegen. Er unterdrückte das Stöhnen, so gut es ging. Er atmete. Die Damen in der Yogastunde erreichten mühelos ihre Zehenspitzen, sogar mit den Handflächen. Er schaffte dieses Kunststück selbst nach drei Jahren nicht. Doch mit der Zeit begann er, sich im Atmen und Dehnen, im Zerren und Zurren mehr zuhause zu fühlen. Er wurde ruhiger.

Bevor er sich in die Hundeposition bückte, schaute er sich noch einmal um. Die Frau kniete immer noch an ihrer Stelle. Sie blickte weg von ihm. Das war ihm recht. Sie würde ihm nicht zusehen. Das beruhigte ihn. Es wäre ihm unangenehm gewesen, wenn sie ihm zugesehen hätte.

Vor der Hundeposition musste er sich strecken und dehnen. Er bückte sich mit Schwung und erreichte tatsächlich kurz mit den Fingerspitzen die Fußspitzen. Dann schnellte er wieder nach oben. Er war steif. Er würde für den Rest seines Lebens steif bleiben. Aber es war schon besser geworden mit ihm. Das spürte er, auch wenn er noch weit davon entfernt war, beweglich zu sein. Es war sinnlos, sagte er sich, sich in den Yogastunden immer wieder mit denen zu vergleichen, die sich wie Gummi bewegen konnten. Aber er konnte nicht anders. Er bewunderte diese flexiblen Körper. Er beneidete sie. Bei ihm tat alles weh. Er bückte sich. Er richtete sich auf. Er fluchte leise. Er atmete. Er atmete tief ein, atmete tief aus. Darin war er Meister. Atmen konnte er. Und leise fluchen konnte er während der Yogaübungen. »Shoot.« Das ließ er zu. Das durfte sein. Das entspannte. »Damn.«

Er setzte sich auf den industriellen Teppichboden. Es gab keinen Ort in diesem Flughafen, der ruhiger gewesen wäre. Zwei Stockwerke unter ihnen waren Hugo Boss, Starbucks, Ralph Loren, Salvatore Ferragamo, Estée Lauder, Cartier, Louis Vuitton. Da lebten die Musik und die Gerüche und die Beleuchtungen, die Kunden anlockten. Dort lebten Leder, Parfum und Kreditkartenterminals. Er spürte, wie sehr er dieses Atmen mit geschlossenen Augen brauchte. Alles war so schnell gegangen. So schnell war er noch nie transatlantisch abgereist. Innerhalb von zwölf Stunden.

Er saß mit verschränkten Beinen auf dem Boden. Schneidersitz, hatte das früher bei Miriam und ihm geheißen. Nun hieß es Lotussitz. Es war dasselbe. Doch jetzt war dieses Sitzen für ihn, wie wenn sich zwei Krummsäbel miteinander verschnüren sollten. Er zog am einen Knie, dann am anderen. Unterdrückte ein Stöhnen. »Fuck.« Schließlich saß er da, steif und aufrecht. Im Rücken und in den Hüften zerrte es. Er hielt die Augen geschlossen. Er legte die Hände ineinander. Das dritte Auge an der Stirn. Er atmete. Jetzt, wo er die Augen geschlossen hielt, sah er die Lampen an den Wänden genauer. Hinter braunen Blenden gaben sie ihr Licht zur Decke hin frei. Indirekt. Die Blenden hatten eine Marmormaserung. Aber sie waren aus Plastik. Er sah, während er mit geschlossen Augen dasaß, dass es in diesem Raum kein Kreuz gab. Es gab keine Bibel. Es gab keinen Halbmond. Und er hörte den Körper der Frau, der sich bewegte. Er spürte die Frau. Noch ein paarmal atmete er ein und aus und ließ sich durchfluten von dem, was er einatmete. Rosenduft, Himmelsrichtungen, Lampenblenden, gedämpftes Licht, Schweiß. Er betete nicht. Er atmete. Mit geschlossenen Augen. East, North, West, South. Er spürte den Atem in sich. Er legte sich auf den Rücken und streckte die Beine lang aus. Geben und Nehmen. Langsam. Ein und aus. Er gab ein Stück von sich an die Welt ab und nahm ein Stück Welt in sich auf. Was dachte die Frau? Was ging in ihr vor, wenn sie betete? Sah sie Bilder vor sich? Sah sie Wasser? Sah sie Licht? Sah sie einen goldenen Kreis? Sah sie ein bärtiges Gesicht? Sah sie Männer? Sah sie Kinder?

 

Er atmete. Tief. Ein. Und aus. Was bedeutete Andacht im Islam? Gab es das Wort? Wie praktizierte man Andacht in einer Synagoge? Was sagten Native Americans? Er war ruhig. Er atmete. Tief. Ein und aus. Er schlief ein. Er spürte es. Und er ließ es geschehen. Nur schnarchen, dachte er, durfte er nicht. Das hätte gestört. Schnarchen gehörte zu keiner Andacht.

7

Wie war es möglich, dass er sie nie gefragt hatte, wie alles für sie war? Weshalb hatte er sie nie gefragt, wie es für sie war, wenn ein Junge sie ansprach? Wie es für sie war, wenn sie sich in einen Jungen verliebte? Was ging in ihr vor? Was dachte sie? Was, meinte sie, war möglich und was nicht? Konnte sie den Jungen anblicken? Ihn ansprechen? Atmete sie schneller? Schaute sie nach innen und nicht mehr nach außen? Hatte sie Angst? Senkte sie den Blick? Stellte sie sich an einen Platz, wo sie hoffte, von ihm wahrgenommen, von ihm angesprochen zu werden? Oder genau das Gegenteil? Versteckte sie sich?

Und welche Worte benutzte sie? Welche Worte dachte sie? Ausgehen? Einander sehen? Miteinander etwas unternehmen? Einander nahekommen? Glück haben? Oder gab es andere Worte bei ihr, in ihrer Welt? Umeinander werben? Um sie anhalten? Sie wollen? Sie nehmen wollen? Er konnte es sich nicht vorstellen. Eines Tages war bei ihm ein Brief eingetroffen: »Matthias und ich werden heiraten. Ich weiß, wie schwer es Dir fallen würde. Du brauchst nicht zu kommen, wenn Du nicht willst. Aber wir würden uns freuen.«

Er hatte ihnen ein Teeservice von der Töpferin im Dorf geschenkt – und war nicht gekommen. »Ich wünsche Euch alles nur erdenkliche Gute. Möget Ihr glücklich miteinander werden.«

Platituden. Je platter er in der Sprache bleiben konnte, desto weniger musste er von sich preisgeben. Desto weniger musste er über sich und sie, über seine Welt und ihre Welt, über seinen Körper und ihren Körper nachdenken. Also blieb er bei den Poesiealbumsätzen: Viel Glück und viel Segen auf all Deinen Wegen! Poesiealbumsätze konnte man von sich geben, ohne dass sie einen berührten. Man wurde nicht anders durch sie. Man musste sich keine Gedanken machen. Und so hatte er es gemacht: die Sätze hingeschrieben, in den Umschlag gesteckt und abgeschickt. Zwei Minuten später hatte er alles wieder vergessen.

Er hatte gemeint, er hätte es vergessen. Jetzt bemerkte er, wie wenig er es vergessen hatte: die Worte, hinter denen er sich vor ihr und ihrer Welt versteckt hatte. Jahrzehntelang.

Worte. Bei ihm war es sein Spitz, sein Rolle, sein Gießkännchen, sein Dingsda. Was war es bei ihr? Da hatte es kein Wort gegeben. Es war, als sei es ein langes, schmales Nichts gewesen. Unaussprechlich. Scheide hieß es in der sechsten Klasse. Das war ein schlimmes Wort. Scheide. Scheidung. Und wie noch? Er konnte sich kein anderes Wort denken. Es hatte kein anderes Wort gegeben. Es war ein Bereich, den Worte mieden. In der Familie hatte es keine entspannten, witzigen Worte dafür gegeben. »Jetzt lass dein Gießkännchen auch mal wieder in Ruhe.« Das hatte ihm gegolten. Darüber hatte man lachen können. Wann hatte sie ihren Kitzler entdeckt? Wer hatte ihn zuerst berührt? Sie? Oder jemand anders? Hatte sie gedacht, ein erwachsener Penis sei zwanzig Zentimeter lang und werde, wenn er sich versteifte, noch länger? Hatte sie Angst vor dem, was auf sie zukam? Welche Beziehung hatte sie zu ihrem Körper »da unten«? War alles für sie »ganz normal« oder wollte sie besonders sauber sein? Was war natürlich? Dachte sie: »Ich mag meine Furche.«? Oder dachte sie: »Mich ekelt’s immer ein bisschen vor mir. Ich weiß, es sollte nicht so sein. Aber so ist’s halt nun ’mal.«?

Was hatte sie sich vom ersten Mal erwartet? Er war sicher, dass es mit Matthias gewesen war. Miriam war einundzwanzig. Er war der Richtige. Sie hatte auf ihn gewartet. Wahrscheinlich hatten sie nicht bis zur Hochzeit gewartet. Die Liebe war die Bestätigung, dass er der Richtige war. Das Gefühl hatte sie geführt. Und dann? Was hatte sie gespürt? War sie glücklich geworden? Wie hatte sie die Liebe getroffen? Hatte sie sich nur um Matthias gekümmert? Hatte sie auch süße Aufmerksamkeit erhalten? Matthias war sensibel. Zuvorkommend. Aufmerksam. Taktvoll. Respektvoll. Geduldig. Feinfühlig. Aufgeschlossen. Zu Worten hatte Matthias ein distanziertes Verhältnis. Aber Miriam hatte sich in einen guten Mann verliebt. Miriam hatte einen guten Mann geheiratet.

Was erwartete eine Frau, die in diesem Dorf aufgewachsen war, vom ersten Mal? Eine Zusammenkunft in JEsus? Eine Vereinigung in IHm? Einen Segen und ein Gesegnetsein in SEiner Güte und Barmherzigkeit? Eine Andacht und einen Segensdienst in IHm? Und wenn es zur großen Vereinigung kam, so war es ein Gesegnetwerden der Seelen durch IHn? Die Lösung der Spannung – die Erlösung in IHm? Im Schoße der heiligen Ehe? War die Jungfernschaft ein Geschenk, das sie IHm zum Opfer brachte und das zu einem Segen wurde? Ein Geschenk, das Miriam IHm und ihm machte? Hatte sie Erwartungen? Dachte sie, sie würde in diesem Moment zu einer Frau? War es ein Hineinerleben in das Geschenk eines möglichen Kindes? »Ich will ein Kind von dir.« In IHm. Mit IHm. Das Wunder der Schöpfung. In SEinem Heiligen Namen.

Da war eine ganze Welt, in der alles, was ihr passieren konnte, passierte. In IHm. Weil alles in IHm und durch IHn geschah – wenn man es zuließ und wenn man in einem Zustand der Gnade war. War etwas nicht erfüllend, dann lag das nicht an IHm oder an ihm, sondern am eigenen Zustand, in dem man IHn nicht richtig empfing und aufnahm. Es galt dann, sich im Gebet zu läutern, sich zu öffnen, damit man bereit war für ihn, in IHm. In SEinem Segen. Bereit für den Segen. War es so gewesen für sie?

8

Der Vater kitzelte die Schwester durch. So nannten der Vater und Johannes das: »Jetzt wird sie durchgekitzelt.« Manchmal half Johannes dem Vater. Dann kitzelten sie ihr den Bauch, bis Miriam vor Lachen Tränen weinte. Das war lustig. Miriam gefiel es, durchgekitzelt zu werden. Sie sagte: »Ich kann gar nicht mehr vor lauter Lachen.« Sie keuchte, sie schluckte, sie wischte sich Tränen aus den Augen und holte immer wieder Luft. Laut. Keuchend. Atmen musste sie. Sich wiederfinden nach all dem Lachen musste sie. Ihre Augen leuchteten, und sie schaute den Vater und sie schaute Johannes an. Das war Nähe. Was sich liebte, das neckte sich. Nicht, dass er, Johannes, so hätte geneckt werden wollen. Er wollte von nichts und von niemand gekitzelt werden. Er hätte sich gewehrt, wenn das jemand bei ihm versucht hätte. Er hätte sich stark gemacht. Er hätte um sich geschlagen, wenn es nötig gewesen wäre. Aber er war er, und Miriam war Miriam.

Das Necken zerriss Grenzen. Schuf ein neues Wir. Im Kitzeln. Im Lachen. Und dass da auch ein bisschen Muskelkraft mit im Spiel sein durfte, machte alles noch schöner. Es gab eine andere Macht, die auch zur Macht der Liebe gehörte. Gewalt. Lachen. Nachdem sie durchgekitzelt worden war, waren alle zufrieden. Das Lachen war ein Glück der Kindheit.

Alle Mädchen im Dorf wurden durchgekitzelt. Die Kindergesichter lachten gern. Es war eine Freude, die ER, DEr alles geschaffen hatte, seinen Kindern schenkte. Auch dieses Lachen lag in SEinem unergründlichen Ratschluss.

Wenn sie Miriam durchkitzelten, verzog sich ihr Gesicht, verzog sich ihr Mund. Da ging ihr ihr Gesicht verloren. Und der Körper zitterte. Sie wurde immer wieder neu. Es war ein Geschenk, vom Vater und vom Bruder, an sie. Sie hatten sie gern. Das zeigten sie ihr. Indem sie sie lachen ließen. »Jetzt bist du dran, du kleine Kröte.« Und dann war sie dran. Sie tat, als wolle sie weglaufen. Aber das half ihr nicht. Sie wurde gefangen. Sie wurde festgehalten. Die Fingerspitzen von Vater und Bruder wurden lebendig auf ihrem Bauch, auf ihrem Rücken, an ihren Nieren. Und sie wand sich. Sie wollte sich befreien. Aber sie durfte sich nicht befreien. Sie durfte lachen. Immer weiter durfte sie lachen. Nichts als lachen. Und weiter.

Sie nannten einander »Bubbu« und »Bibbi«, »Uhu« und »Uhi«, »Auflauf« und »Nudel«. Bruder und Schwester, Mann und Frau. Eine seltsame Helle war in Miriam. Das spürte er. Sie war stärker als die Welt. Sie lebte in einer eigenen Welt. Nur durchs Kitzeln konnten sie ihr in ihrer Welt näherkommen.

Miriam blieb in einer anderen Welt, in einer anderen Liebe. Sie blieb in der Welt der Seelenliebe, der Wortliebe, der Rätselliebe, der körperlosen Liebe. Sie und er. Das Wir von morgen. Gekitzelt. Gespiegelt. Gespielt. Ineinander und durcheinander. Die Welten. Ihre und seine.

9

Ein Mädchen durfte, wenn es in der Zeit war, keinen Rosenstrauch berühren, sonst ging der Rosenstrauch ein. Ein Mädchen durfte, wenn es in der Zeit war, keine Früchte einmachen, sonst verdarben die Früchte. Ein Mädchen durfte, wenn es in der Zeit war, keinen Myrtenstrauch pflanzen. »Wer Myrten baut, wird keine Braut.« Ein Mädchen durfte, wenn es das erste Mal in der Zeit war, das Hemd nur mit kaltem Wasser waschen und dieses Wasser nur an einen Rosenstrauch gießen, damit es sein Leben lang ein rotes Gesicht behielt.

All das wusste er. Er wusste auch, dass sie fror, wenn sie in der Zeit war. Sie war dann noch mehr allein.

»Woher wollt ihr wissen, wer ich bin?«, brüllte sie.

»Wenn du so etwas sagst, liegt kein Segen darauf«, sagte der Vater, der von allem nichts wusste.

Miriam rannte hinaus. »So ein Arschloch.«

Sie rannte in ihr Zimmer und zog sich um. »Lass mich in Ruh«, rief sie, als Johannes an die Tür klopfte. Sie wollte allein sein. Aber er wusste, dass sie nicht allein gelassen werden wollte. Er klopfte wieder. So, wie er klopfte, wusste sie, dass er es war. Zweimal weich klopfen, dann eine kurze Pause, wieder zweimal weich klopfen, wieder eine Pause, und ein drittes Mal. Mit jedem Doppelklopfen ließ er den Ton weicher und fragender werden. Als sie nicht antwortete, öffnete er langsam die Tür. Als sie nicht aufblickte, ging er hinein. Er setzte sich aufs Bett; er setzte sich neben sie.

Einmal hatten sie gemeint, der Herr JEsus blicke durch das Dachfenster in ihr Zimmer herunter und schaue, ob sie die Schnörkel im Schönschreibheft richtig gemalt, ob sie die Schuhe ordentlich vors Bett gestellt, ob sie der Mutter geholfen und nicht gelogen hatten.

Johannes sagte: »Weißt du noch, als ich die zwei Zehnpfennigstücke aus dem Muttergeldbeutel genommen und in der Bäckerei zwei Gummicolaflaschen gekauft habe?«

Miriam sagte nichts.

Haribo. Cola. Es war der Geschmack der Welt. Sie und er. In der Welt war die Versuchung. Die versuchten sie. Je schwärzer sie war, desto besser schmeckte sie. Sie saugten das Schwarz aus den Colaflaschen. Er war schneller als sie. Er war stärker als sie.

Sie sagte: »Es ist einfach nicht fair.«

Er musste ihr recht geben.

Sie blickten durchs Dachfenster in den Nachthimmel. »Irgendwo gibt es auch noch den Heiligen Geist«, sagte sie. »Aber alle, die da oben wohnen, haben nie ihre Tage.«

Er sagte: »Der Heilige Geist kommt als Taube.«

»Aber nur auf die Häupter der Auserwählten. Ein Mädchen ist noch nie auserwählt worden.«

Sie hatte recht. Er würde einst zu den Auserwählten zählen, sie, Miriam, nicht. Der Heilige Geist war noch nie aufs Haupt einer Frau gekommen.

Er sagte: »Doch, aufs Haupt der Maria und der Elisabeth.«

»Aber nur, weil sie Jungen in sich trugen.«

Er sagte: »Du und ich, wir gehören zusammen.«

Sie sagte: »Ja, jeder für sich. Das ist nun einmal so.«

Sie waren ein großes Atmen, ein großer Rhythmus, der eigene und der des anderen. In ihr und in ihm.

Johannes sagte: »Lass ihn doch. Der Vater kann nichts dafür. So ist er eben.«

Er spürte die Wirkung seiner Worte. Er spürte ihre Augen. Gehen Alche. Er sagte »Arlorn.«

Sie sagte: »Immerhin scheint die Sonne.«

Er sagte: »Du bist die schönste unter den Menschenkindern, voller Huld sind deine Lippen, wahrlich, GOtt hat dich gesegnet.«

Sie sagte: »Ich spüre die Sonne. Warm und kalt zugleich.«