Buch lesen: «Nietzsche aus Frankreich», Seite 3

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6. Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? Die scheinbare vielleicht?… Aber nein! mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft!

(Mittag; Augenblick des kürzesten Schattens; Ende des längsten Irrtums; Höhepunkt der Menschheit; INCIPIT ZARATHUSTRA.)«

Mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft; wo die wahre Welt (die platonische, christliche, spiritualistische, idealistische, transzendente), die als Bezugspunkt der scheinbaren diente, verschwunden ist, verschwindet auch die scheinbare; es ist nicht so, daß die Welt aus der erscheinenden, die sie war, zur realen Welt des wissenschaftlichen Positivismus werden könnte; die Welt wird zur Fabel; die Welt, wie sie ist, ist nichts als Fabel: Fabel bedeutet etwas, das erzählt wird und das allein in der Erzählung existiert; die Welt ist etwas, das erzählt wird, ein erzähltes Ereignis und folglich eine Interpretation: die Religion, die Kunst, die Wissenschaft, die Geschichte – ebenso viele verschiedene Interpretationen der Welt, oder besser: ebenso viele Varianten der Fabel.

Soll das heißen, daß wir es hier mit einem universellen Illusionismus zu tun haben? Keinesfalls. Die Fabel, so hab’ ich gesagt, ist ein erzähltes Ereignis, es geschieht oder es muß etwas geschehen sein: und in der Tat, eine Handlung rollt ab und erzählt sich von selbst, doch wenn man sich nicht beschiede zu hören und zu folgen und wenn man sie noch einmal durchzugehen suchte, um zu erkennen, ob hinter der Erzählung nicht dies oder jenes Moment sei, das vom Erzählten abweicht, so wäre schon alles vorbei und von Neuem wäre eine wahre und eine erscheinende Welt. Wir haben gesehen, wie die wahre Welt und die erscheinende Welt zur Fabel geworden sind; nun, es ist nicht zum ersten Mal, daß sie es wurden. Es ist dies, was von der Bemerkung: Mittag, Augenblick des kürzesten Schattens, angezeigt wird. Vom Mittag an beginnt alles noch einmal und also auch die antike Welt, die vergangenen Interpretationen. In der Antike war der Mittag zugleich die Feierund die Schreckensstunde, die Stunde nicht nur des Aussetzens aller Arbeit unter dem blendenden Strahl der Sonne, sondern auch die Stunde der vom Delirium gefolgten verbotenen Visionen. Vom Mittag an neigt sich der Tag zur Dunkelheit; aber durch die Dunkelheit wird uns bis zur tiefen Mitternacht der Lehrer der Fabel, Zarathustra, leiten.

Fabel, fabula, stammt vom lateinischen Verb fari, was zugleich vorhersagen und faseln bedeutet, das Schicksal vorhersagen und faseln, denn fatum, das Schicksal, ist auch Partizip Perfekt von fari.

Wenn man also sagt, daß die Welt zur Fabel geworden ist, so sagt man auch, daß sie das fatum ist, man faselt, aber faselnd sagt man wahr, man sagt das Schicksal voraus; lauter Dinge, die wir hier wegen der bedeutenden Rolle des Schicksals bei Nietzsche hervorheben. Refabularisierung der Welt heißt auch, daß die Welt die historische Zeit verläßt, um in die Zeit des Mythos und das heißt der Ewigkeit zurückzukehren: derart, daß der Blick auf die Welt nun zur Anschauung der Ewigkeit wird. Die geistige Bedingung eines solchen »Verlassens« hat Nietzsche in einem »Vergessen« (der historischen Situation) gesehen, das dem Akt der Schöpfung vorausgeht: im Vergessen kann die Vergangenheit vom Menschen als seine Zukunft, die die Gestalt der Vergangenheit angenommen hat, in der Form erinnert werden, daß sie ihm unterkommt (sousvient). Die Vergangenheit kommt auf ihn zu aus dem, was er schöpft: denn was er zu schöpfen vermeint, kommt nicht aus der Gegenwart, sondern ist nur das Aussprechen eines möglichen Vorher im augenblicklichen Vergessen der (geschichtlich determinierten) Gegenwart.

Es gehört zu Zarathustras Sendung, den Menschen einen neuen Sinn und einen neuen Willen in der Welt zu geben, die er dazu notwendigerweise neu zu schaffen hat. Denn da jede geschaffene Welt immer wieder ihren Sinn zu verlieren droht, um wieder fabelhaft und göttlich zu werden, und da sie, alles in allem, gut auch ohne Sinn auskommt, die Menschen aber, nun eher bereit, nichts zu wollen, als etwas zu wollen, sie ohne einen Sinn nicht ertragen, enthüllt ihnen Zarathustra den wahren Weg: der kein grader Weg, sondern ein gewundener Pfad ist:

Das ist mein Dichten und Trachten, daß ich in eins dichte und zusammentrage, was Bruchstück ist, Rätsel und grauser Zufall. Mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare Welt abgeschafft – bei der Beschäftigung mit der Wahrheit haben wir die Erklärung der Erscheinungen aufgelöst. (»Erklärung« nennen wir’s: aber Beschreibung ist es, was uns vor älteren Stufen der Erkenntnis und Wissenschaft auszeichnet. Wir beschreiben besser – wir erklären ebensowenig wie alle Früheren.)

All das ist von Konsequenzen schwer, denn wenn der Gedanke, mit der wahren Welt auch die scheinbare abgeschafft zu haben, nicht einer bloßen Laune entspringt, so legt er Rechenschaft von dem ab, was sich in Nietzsche selbst getan hat: er hat der Welt, in der er gleichwohl den Namen Nietzsche trägt, den Abschied gegeben und wenn er fortfährt, unter diesem Namen zu schreiben, so um den Schein zu wahren: alles ist anders und nichts hat sich geändert; der Glaube, daß sie etwas ändern, ist denen zu überlassen, die handeln: sagt nicht Nietzsche, daß nicht die Menschen der Tat, sondern die der Kontemplation den Dingen ihren Wert verleihen, und daß die Menschen der Tat allein vermöge dieser Wertung durch die Denker handeln können?

Aber diese Abschaffung der scheinbaren Welt mit ihrem Bezug zur wahren Welt vollzieht sich im Lauf eines langen Prozesses, dem man bei Nietzsche kaum zu folgen vermag, wenn man nicht dem Zusammenwirken von Wissenschaftler und Moralisten, und mehr noch dem von Psychologen und Seher in ihm Rechnung trägt; aus dieser Doppelung ergeben sich zwei verschiedene Terminologien, deren dauernde Interferenz einen Faden spinnt, der sich nicht auflösen läßt: die Luzidität des Psychologen, der die Bilder zerstört, hat am Ende nur für den Dichter (und also für die Fabel) gearbeitet, wenn er, die Erfahrung des Dichters, dieses Schlafwandlers am hellichten Tage, durchforschend, die Regionen entdeckt, in denen er selbst, der Psychologe, mit erhobener Stimme träumte.

Diese Analyse des Psychologen, bevor er vom Traum und seinen Visionen überwältigt wird, gegen die er sich zu schützen sucht, erlaubt uns zu verstehen, wie Nietzsche im Namen der rationalen Prinzipien des Positivismus zur Destruktion zugleich des rationalistischen Konzepts von Wahrheit und des bewußten Denkens und seiner Verstandesoperationen kommen kann; wie er, andrerseits, von dieser Entwertung des bewußten Denkens zur Infragestellung der Sprache als eines Kommunikationsinstruments geführt wird; und man sieht jetzt vielleicht deutlicher, wie diese Analyse, die das rationale Denken auf Triebkräfte zurückführt und diesen Triebkräften authentische Existenz zuspricht –, wie diese Analyse in der Abschaffung der Grenzen zwischen Außen und Innen gipfelt; einer Abschaffung der Grenzen zwischen der hic et nunc vereinzelten Existenz und der in der Person des Philosophen selbst zu sich selbst zurückgekehrten Existenz. Was leitet – denn augenscheinlich muß etwas Bestand haben –, was diese Desintegration der Begriffe anleitet, ist jeweils die Kraft des bis zum äußersten Grad der Schlaflosigkeit exaltierten Geistes; eine durchgehaltene Wachsamkeit, welche die Forderung nach einer Redlichkeit zur Verzweiflung bringt, die bis zur Preisgabe der Denkfunktionen selber als einer letzten Knechtschaft, einer letzten Verbindung mit dem geht, was Nietzsche den Geist der Schwere genannt hat.

Die Analyse des Bewußtseins, die sich in den Aphorismen der Fröhlichen Wissenschaft verstreut findet, läßt sich zu folgenden Beobachtungen zusammenfassen:

1. Das Bewußtsein ist die späteste Funktion in der Entwicklung des organischen Lebens, das Unkräftigste auch und folglich das Gefährlichste: wäre die Menschheit, wie sie selber glaubt, mit einem Schlage zum Bewußtsein gelangt, so wäre sie schon seit langem ausgestorben; zum Beweis können die zahlreichen Fehlschlüsse dienen, die das Bewußtsein verursacht hat und die es zu verursachen im individuellen Leben solange nicht aufhört, als es ein Ungleichgewicht der Antriebe erzeugt.

2. Diese Funktion, gar nicht wünschenswert, weil sie einem unberechenbaren Streben, dem Streben nach Wahrheit entspricht, wird einer ersten Bearbeitung durch die anderen Antriebskräfte unterzogen; das Bewußtsein tut sich eine Zeitlang mit dem Selbsterhaltungstrieb zusammen; in der Folge bildet sich der trügerische Begriff eines dauernden, ewigen, unveränderlichen und folglich freien und verantwortlichen Bewußtseins. Dank dieser Überschätzung des Bewußtseins hat man seine allzu rasche Weiterentwicklung vermeiden können. Daher übrigens auch der Begriff der Substanz.

3. Die geistigen Operationen, die dies in seiner Entwicklung rückständige Bewußtsein erfindet, diese Operationen, die zur logischen Vernunft und zur wissenschaftlichen Erkenntnis führen, sind bloß Produkte des Kompromisses zwischen dem Triebleben und dem Bewußtsein. Woraus ist die Logik entstanden? Gewiß aus der Unvernunft, deren Reich zu Anfang unermeßlich war. Von diesem Stadium an wird die Logik, nach Nietzsches positivistischer Beschreibung, zur Waffe der stärksten Triebe und also derjenigen Lebewesen, bei denen sich Aggressivität in Affirmation oder Negation übersetzt, während die Schwächeren im Stadium der Unvernunft bleiben. So in geeigneter Weise gegenüber seiner eigenen Entwicklung im Rückstand, entwickelt sich aus dem falschen Bewußtsein das Denken und sein Bedürfnis, sich durch die Sprache verständlich zu machen; aus ihr entwickeln sich die feineren Operationen, die die logische Vernunft und die rationale Erkenntnis ausmachen.

»An und für sich ist schon jeder hohe Grad von Vorsicht im Schließen, jeder skeptische Hang eine große Gefahr für das Leben. Es würden keine lebenden Wesen erhalten sein, wenn nicht der entgegengesetzte Hang, lieber zu bejahen als das Urteil auszusetzen, lieber zu irren und zu dichten als abzuwarten, lieber zuzustimmen als zu verneinen, lieber zu urteilen als gerecht zu sein – außerordentlich stark angezüchtet worden wäre.«

4. Das Bewußtsein, durch seine antivitale Tendenz bedrohlich, befindet sich also unmittelbar auf dem Rückzug. Und in ihrer Beziehung auf die Erkenntnis zeigt sich diese gefährliche Funktion in ihrem wahren Licht. Die logische Vernunft, aus den Trieben in ihrem Kampf mit den antivitalen Tendenzen des Bewußtseins hervorgegangen, erzeugt Denkgewohnheiten, welche die noch nicht angepaßte Tendenz des Bewußtseins als Irrtümer zu enthüllen bestrebt ist. Diese Irrtümer sind das, was das Leben ermöglicht, und später wird Nietzsche in ihnen Formen des Begreifens der Existenz anerkennen –, diese Irrtümer folgen immer derselben Spielregel: der, daß es Dinge gibt, die dauern, daß es Gegenstände gibt, Stoffe, Körper; daß eine Sache das ist, was sie scheint; daß unser Wille frei; daß was gut für mich auch gut überhaupt ist; – alterslose Überzeugungen, zu Normen geworden, an denen die logische Vernunft ihre Unterscheidung von wahr und nicht-wahr orientiert. Erst »sehr spät«, sagt Nietzsche, »trat die Wahrheit auf, als die unkräftigste Form der Erkenntnis. Es schien, daß man mit ihr nicht zu leben vermöge, unser Organismus war auf ihren Gegensatz eingerichtet; […]«. Also, bemerkt Nietzsche, liegt die Stärke der Erkenntnisse nicht in dem Grad der Wahrheit, den sie beanspruchen, sondern in ihrem Alter, im Maße ihrer Einverleibung, in ihrem Charakter als Lebensbedingung. Und Nietzsche zitiert das Beispiel der Eleaten, die die sinnlichen Wahrnehmungen in Zweifel ziehen wollten. Die Eleaten, so sagt er, glaubten an die Möglichkeit, die Antinomien der natürlichen Irrtümer zu leben. Doch um die Widersprüche zu bejahen und zu leben, bedurfte es zugleich des unpersönlichen und leidenschaftslosen Wesens des Weisen, den sie erfunden, und folglich verfielen sie der Illusion (ich zitiere immer noch Nietzsche); die Eleaten mußten, da sie von ihrer menschlichen Verfassung nicht absehen konnten, die Natur des Erkenntnissubjekts verkennen, die Gewalt der Triebe in der Erkenntnis leugnen und die Vernunft als vollkommen freies Handeln zu begreifen vermeinen. Wenn Redlichkeit und Skeptizismus – diese gefährlichen Formen des Bewußtseins – sich zu feineren Formen entwickeln konnten, so erst, als zwei widersprüchliche Behauptungen auf das Leben anwendbar schienen, weil alle beide, da wo es möglich war, über den mehr oder weniger großen Nutzen für das Leben zu streiten, zu den grundlegenden Irrtümern paßten. Und auch da konnten sie entstehen, wo neue Behauptungen, die fürs Leben nicht nützlich, aber als Ausdruck eines Gedankenspiels auch nicht schädlich waren, sondern bloß den unschuldigen und glücklichen Charakter jeden Spiels bezeugten. Von hier aus sind Erkenntnisakt und Streben nach Wahrheit insofern eines, als sie beide Bedürfnisse unter anderen Bedürfnissen sind. Nicht allein der Glaube, die Überzeugung, auch die Untersuchung, die Verneinung, das Mißtrauen, der Widerspruch stellen eine Macht dar, so daß sogar die schädlichen Instinkte der Erkenntnis in ihren Dienst gestellt wurden, um das Prestige dessen zu gewinnen, was statthaft, verehrt, nützlich und schließlich das Gesicht und die Unschuld des Guten ist. Und Nietzsche kommt so zu diesem ersten Schluß für die Situation des Philosophen:

Der Denker: das ist jetzt das Wesen, in dem der Trieb zur Wahrheit und jene lebenerhaltenden Irrtümer ihren ersten Kampf kämpfen, nachdem auch der Trieb zur Wahrheit sich als eine lebenerhaltende Macht bewiesen hat.

Der Trieb zur Wahrheit – trotz allem eine lebenerhaltende Macht? Aber das ist bloß eine Hypothese, eine momentane Konzession und Nietzsche schließt mit der Frage: Inwieweit verträgt die Wahrheit die Einverleibung? – das ist die Frage, das ist das Experiment, das zu machen bleibt.

Und Nietzsche selbst macht es bis zum Letzten durch: wenn er das Beispiel der Eleaten als einen Versuch zitiert, die natürlichen Widersprüche auszutragen, diesen Versuch, der zu seinem Gelingen die unpersönliche Kälte des Philosophen erfordert, so war es seine eigene Erfahrung, die er in die Vergangenheit projizierte. Die Eleaten, sagt Nietzsche, erfanden die Gestalt des unpersönlichen und leidenschaftslosen Weisen als einen, der zugleich ein Einzelner und das Ganze war; darum erlagen sie der Illusion, denn, so erklärt Nietzsche, sie leugneten die Gewalt der Triebe im Erkenntnissubjekt. Doch wenn Nietzsche sein Urteil über die Eleaten als das Bewußtwerden ihrer illusorischen Erfahrung ausgibt, so ist es er selbst, der insgeheim Eins und das Ganze zu sein bestrebt ist, als würde er fortan das Geheimnis in einer Umkehrung des Bewußtseins ins Unbewußte und des Unbewußten ins Bewußtsein sehen; und zwar in dem Maße, daß es am Anfang wie am Ende scheinen müßte, als existierte die wahre Welt nirgend anders als im Weisen.

Hier nun wird es nötig, zwischen gewollter und erlittener Erfahrung, zwischen Wollen und Erleiden zu trennen.

In der Tat – wir wüßten gern, ob die von Nietzsche gemachte Erfahrung, die Ekstase der ewigen Wiederkehr, in der das Ich sich plötzlich als Eins und das Ganze, als das Eine und das Vielfältige findet, ob eine derartige Erfahrung Gegenstand eines Beweises und Ausgangspunkt für eine moralische Lehre sein könnte.

Aber wir müssen uns hier auf die zuvor gestellte Frage beschränken: Kann der Philosoph einen Zustand erreichen, in dem er Eines und das Ganze, das Eine und das Vielfältige dadurch würde, daß er seinem Pathos zunehmend mehr Bewußtsein verleiht?

Mit andren Worten: Wie kann er sein Pathos bewußt machen, wenn Pathos das Begreifen der zu sich selbst zurückkehrenden Existenz ist?

Nietzsches Kommentar zu einer Formulierung Spinozas wird uns ins Zentrum dieses Problems führen; diesen Kommentar formuliert der Aphorismus 333 der Fröhlichen Wissenschaft:

»Was heißt erkennen? – Non ridere, non lugere, neque detestari, sed intellegere! sagt Spinoza, so schlicht und erhaben, wie es seine Art ist. Indessen: was ist dies intellegere im letzten Grunde anderes als die Form, in der uns eben jene drei auf einmal fühlbar werden? Ein Resultat aus den verschiedenen und sich widerstrebenden Trieben des Verlachen-, Beklagen-, Verwünschenwollens? Bevor ein Erkennen möglich ist, muß jeder dieser Triebe erst eine einseitige Ansicht über das Ding oder Vorkommnis vorgebracht haben; hinterher entstand der Kampf dieser Einseitigkeiten und aus ihm bisweilen eine Mitte, eine Beruhigung, ein Rechtgeben nach allen drei Seiten, eine Art Gerechtigkeit und Vertrag: denn vermöge der Gerechtigkeit und des Vertrags können alle diese Triebe sich im Dasein behaupten und miteinander recht behalten. Wir, denen nur die letzten Versöhnungsszenen und Schluß-Abrechnungen dieses langen Prozesses zum Bewußtsein kommen, meinen demnach, intellegere sei etwas Versöhnliches, Gerechtes, Gutes, etwas wesentlich den Trieben Entgegengesetztes; während es nur ein gewisses Verhalten der Triebe zueinander ist. Die längsten Zeiten hindurch hat man bewußtes Denken als das Denken überhaupt betrachtet: jetzt erst dämmert uns die Wahrheit auf, daß der allergrößte Teil unseres geistigen Wirkens uns unbewußt, ungefühlt verläuft: ich meine aber, diese Triebe, die hier miteinander kämpfen, werden recht wohl verstehen, sich einander dabei fühlbar zu machen und wehe zu tun –: jene gewaltige plötzliche Erschöpfung, von der alle Denker heimgesucht werden, mag da ihren Ursprung haben (es ist die Erschöpfung auf dem Schlachtfelde). Ja vielleicht gibt es in unserm kämpfenden Innern manches verborgene Heroentum, aber gewiß nichts Göttliches, Ewig-in-sich-Ruhendes, wie Spinoza meinte. Das bewußte Denken, und namentlich das des Philosophen, ist die unkräftigste und deshalb auch die verhältnismäßig mildeste und ruhigste Art des Denkens: und so kann gerade der Philosoph am leichtesten über die Natur des Erkennens irre geführt werden

Ich habe den Verdacht, daß Nietzsche in dieser schönen Passage seine eigene Art, zu verstehen und zu erkennen, gleichsam im Negativ dargestellt hat; ridere, lugere, detestari – verlachen, beklagen, verwünschen –, drei Weisen, die Existenz zu begreifen. Aber was ist eine Wissenschaft, die lacht, klagt und verwünscht? Eine pathetische Erkenntnis? Unser Pathos erkennt, aber wir können an seiner Erkenntnisform nie teilhaben. Für Nietzsche entspricht jeder geistige Akt nur einer Änderung der Stimmungslage; dem Pathos aber einen absoluten Wert zuzusprechen, würde die Unparteilichkeit des Erkennens zerstören, während man doch vom erreichten Grad der Unparteilichkeit aus die Unparteilichkeit selber in Frage gestellt hat. Welche Undankbarkeit gegenüber dem Erkennen liegt nicht darin, es zu verleugnen, sobald es uns zu verstehen gegeben hat, daß wir nicht erkennen können. Undankbarkeit, aus der eine neue Unparteilichkeit entsteht; aber eine, die in der absoluten Parteilichkeit liegt. Denn wenn die logischen Schlüsse nichts anderes sind als der Kampf der Triebe gegeneinander, der nur im Unrecht endet, so müßte ein Streben nach mehr als Parteilichkeit sich auf die höchste Gerechtigkeit berufen können.

Wenn der Denker, wie Nietzsche schreibt, derjenige ist, in dem das Streben nach Wahrheit und die lebenerhaltenden Irrtümer beieinanderwohnen und sich bekämpfen, und wenn sich die Frage stellt, ob die Wahrheit ihre Einverleibung verträgt, wenn dies das Experiment ist, das uns fortan aufgegeben ist, so müssen wir nun zu sehen versuchen, in welcher Weise das Pathos als Begreifen der Existenz einer solchen Einverleibung fähig ist; und da der geistige Akt als einer, der sich allein dank der tiefsten Erschöpfung vollzieht, fortan entwertet ist –, warum nicht in der Heiterkeit ebenso wie im Ernst, in der Wut wie in der Ruhe ein Organ des Wissens anerkennen? Da der Ernst ein ebenso zweifelhafter Zustand ist wie der Haß oder die Liebe, warum sollte die Heiterkeit nicht eine ebenso entschiedene Fähigkeit zum Begreifen der Existenz haben wie der Ernst?

Der Akt des Erkennens, des Urteilens, des Schließens soll nur aus dem Verhalten der Triebe zueinander resultieren. Da darüber hinaus das bewußte Denken und besonders das des Philosophen zumeist nur einen Sturz, eine Depression darstellt, wie sie vom furchtbaren Kampf zwischen zwei oder drei widerstreitenden Trieben hervorgerufen wird, einem Kampf, dessen Ende etwas in sich Ungerechtes ist, – so heißt das, daß der Philosoph oder der Weise im Sinne Nietzsches sich selbst zum Kampfplatz gleicherweise widerstreitender Triebe hergeben muß und folglich seine Erklärungen nie als etwas andres denn als Ausdruck von zwei oder drei Trieben gleichzeitig aussprechen kann, die von der unter der Perspektive dieser zwei oder drei Triebe begriffenen Existenz Rechenschaft geben.

Wenn der Akt des Verstehens insofern fragwürdig ist, als er sich nur auf Grund der Tilgung des einen oder andren von drei Trieben aussprechen kann, die in unterschiedlichem Maße an seiner Formierung teilhaben; wenn Verstehen nur ein unsicherer Waffenstillstand von Kräften ist, die in jeder Gegenwart dunkel bleiben, so kann es der Sorge um Reinheit, die Nietzsches Untersuchungen anleitet, um unseren Triebkräften zu immer größerer Bewußtheit zu verhelfen, nur darum gehen, eine dauernde Komplizität mit unseren Neigungen, ob gut oder böse, zu unterhalten. Und scheint es nicht so, als gäbe es eine schlimmere Illusion als diejenige, die Nietzsche Spinoza zum Vorwurf macht, wenn Spinoza das Verstehen dem Lachen, dem Weinen, dem Hassen entgegensetzt? Denn wie kann eine dunkle Kraft als dunkle zum Bewußtsein gelangen, wenn sie nicht schon dem hellichten Tag des Bewußtseins angehört? Wie der Apostel sagt: Alles, was verdammt ist, wird vom Lichte offenbart werden, denn alles, was offenbart ist, ist Licht. Wie aber offenbaren, ohne zu verdammen; wie sich als dunkle Kraft offenbaren, ohne sich dazu zu verdammen, Licht zu sein? Kann es ein Licht geben, das nicht die Verdammung der Finsternis ist? Unzweifelhaft, daß das Pathos erkennt, aber wir können an seiner Erkenntnisform nur durch diese Verdammung teilhaben: Nehmt nicht teil an den unfruchtbaren Werken der Finsternis, sagt der Apostel. Es steht indessen geschrieben, daß das Licht leuchtet in der Finsternis, aber die Finsternis hat es nicht erkannt. Das Licht hat also von der Finsternis erkannt werden wollen; es gibt also einen Augenblick, in dem das Licht Verdammung ist, und es gibt einen Augenblick, in dem das Licht die Finsternis aufsucht, um von ihr erkannt zu werden.

Alles, was ans Licht des Bewußtseins steigt, steigt nie anders als mit dem Kopf nach unten auf; die Bilder der Nacht verkehren sich im Spiegel des bewußten Denkens; es gibt darin eine tief in das Gesetz des Seins eingeschriebene Notwendigkeit, die im universellen Rad, dem Bild der Ewigkeit deutlich wird – daß schließlich die Verkehrung der Nacht in Tag und des Schlafens in Wachen aus diesem Gesetz resultiert, werden wir später sehen. Es bleibt zu bemerken, daß das bewußte Denken sich nie anders denn in und durch die Unkenntnis dieses Gesetzes der Wiederkehr bildet; alles bewußte Denken sieht vorwärts, identifiziert sich an einem Ziel, das es vor sich als seine Definition aufstellt. Doch wenn das bewußte Denken die Bilder der Nacht in hellen Tag umzukehren strebt, so weil es das ihm Äußerliche zum Ausgangspunkt nimmt und einen Urtext zu sprechen vermeint, den es nicht kennt, während es ihn gegen seinen Sinn übersetzt. »Mein Gedanke ist, wie man sieht: daß das Bewußtsein nicht eigentlich zur Individual-Existenz des Menschen gehört, vielmehr zu dem, was an ihm Gemeinschafts- und Herden-Natur ist…; das bewußt werdende Denken ist nur der kleinste Teil davon, sagen wir: der oberflächlichste, der schlechteste Teil – denn allein dieses bewußte Denken geschieht in Worten, das heißt in Mitteilungszeichen und das Bewußtwerden unsrer Sinneseindrücke bei uns selbst, die Kraft, sie fixieren zu können und gleichsam außer uns zu stellen, ist nur in bezug auf Gemeinschafts- und Herden-Nützlichkeit fein entwickelt worden; und daß folglich jeder von uns, beim besten Willen, sich selbst so individuell wie möglich zu verstehen, ›sich selbst zu kennen‹, doch immer nur grade das Nicht-Individuelle an sich zum Bewußtsein bringen wird, sein ›Durchschnittliches‹ – … Unsre Handlungen sind im Grunde allesamt auf eine unvergleichliche Weise persönlich, einzig, unbegrenzt-individuell, es ist kein Zweifel; aber sobald wir sie ins Bewußtsein übersetzen, scheinen sie es nicht mehr…« Und, um zu schließen: »daß mit allem Bewußtwerden eine große gründliche Verderbnis, Fälschung, Veroberflächlichung und Generalisation verbunden ist.«

»… Es ist, wie man errät, nicht der Gegensatz von Subjekt und Objekt, der mich hier angeht: diese Unterscheidung überlasse ich den Erkenntnistheoretikern, welche in den Schlingen der Grammatik (der Volks-Metaphysik) hängengeblieben sind. Es ist erst recht nicht der Gegensatz von ›Ding an sich‹ und Erscheinung: denn wir erkennen bei weitem nicht genug, um auch nur so scheiden zu dürfen. Wir haben eben gar kein Organ für das Erkennen, für die ›Wahrheit‹: wir ›wissen‹ (oder glauben oder bilden uns ein) gerade so viel, als es im Interesse der Menschen-Herde, der Gattung, nützlich sein mag: und selbst, was hier ›Nützlichkeit‹ genannt wird, ist zuletzt auch nur ein Glaube, eine Einbildung und vielleicht gerade jene verhängnisvollste Dummheit, an der wir einst zugrunde gehn.«

Nach dieser Definition stellt das bewußte Denken nie mehr als den nützlichsten, weil den allein mitteilbaren Teil unserer selbst dar, und was wir an Wesentlichstem haben, bleibt folglich das nicht-mitteilbare, nutzlose Pathos.

Unter individuell, wesentlich und dem Wesentlichstem versteht Nietzsche keinesfalls das, was unter diesen Namen allgemein geläufig ist; man wird noch sehen, in welcher Weise das Individuelle und das Nicht-Individuelle sich in einer ununterscheidbaren Einheit zusammenfinden, die von der Sorge um Authentizität geboten wird; in diesem Zusammenhang werden wir bei Nietzsche auf eine Reihe von Schwierigkeiten stoßen.

Wenn das bewußte Denken unfehlbar an dem Verrat übt, was wir als unser Wesentlichstes besitzen, wie kann sich dann dies Wesentliche auch nur uns selbst mitteilen? Wie kann es sich vom Herdenhaften unterscheiden, das immer schon unter dem pejorativen Begriff der Nützlichkeit steht; wie kann unser Wesentliches unserem eigenen Nützlichkeitsdenken entrinnen? Ist das Authentische an uns etwas in seiner Reinheit ganz und gar Nutzloses und so erst in Nietzsches Sinn eigentlich Wertvolles, ein Begreifen der Existenz, das sich selber genügt, die Möglichkeit, eins und alles zugleich zu sein?

Für das bewußte Denken – das Herden-Denken, das nichts für uns Wesentliches offenbart, für dies von Nietzsche für wertlos erklärte Denken ist das größte Elend dies, ohne Ziel zu sein. Zum Beispiel das Fehlen einer Wahrheit, die das bewußte Denken als höchstes Ziel zu erreichen suchen könnte. Das Bewußtsein muß sich seiner Natur nach auf etwas vor ihm Liegendes zubewegen, immer auf der Suche nach einem Ziel, das seine eigene Definition ist.

Umgekehrt ist der größte Genuß für das Pathos, im unbewußten Leben der Triebe, in diesem für uns Wesentlichen ohne Ziel zu sein. Und wenn andrerseits der Glaube an ein Ziel das Bewußtsein glücklich und das Denken sicher macht, so wird die Ausrichtung an einem Ziel vom Pathos als größter Notstand erfahren und wenn Nietzsche Spinoza kritisiert, meint er nichts andres als dies. Denn auch wenn die Triebe als Bedürfnisse das, was das Bewußtsein sieht, nicht kennen, so stellten sie doch das vor, dessen Bedürfnisse sie sind. Und so müssen sie das Bild, das sie von sich selbst haben, augenblicklich verlieren, sobald das Bewußtsein ein Ziel aufrichtet. Bilder ihrer selbst, veräußern die Triebe ihr eigenes Bild zugunsten dessen, was ihnen von Natur her unbekannt ist, zugunsten des Ziels.

Unser Wesentliches, wenn es im unausdrückbaren und durch sich selbst nicht mitteilbaren Pathos liegt, stellt als Gesamtheit des Trieblebens eine Gruppe von Bedürfnissen dar; aber sucht es nicht in der Selbstvergeudung seine Befriedigung? Und wie kommt es zu dieser Vergeudung und wie bringt sie es zur Befriedigung? Unser tiefstes Bedürfnis spricht das Wesentliche unsrer selbst zum Beispiel im Lachen und im Weinen aus und vergeudet sich als Lachen und Weinen selber, die das Bild dieses Bedürfnisses sind – Lachen und Weinen, die unabhängig von jedem Motiv entstehen, welches das bewußte Denken in seiner Zweckmäßigkeit ihnen zu Recht oder Unrecht beilegen mag. Und so verschwendete sich unser tiefstes Bedürfnis und der Verlust jeden Ziels würde für einen Augenblick mit unserem tiefen Glück zusammenfallen.

Das Pathos versteht also sehr wohl uns, während wir an seiner Art, zu verstehen, nicht teilhaben können. Denn woher kommt uns plötzlich dies Fehlen eines vernünftigen Motivs und diese Befriedigung, die wir im Lachen oder Weinen vor dem offenbar grundlosesten Schauspiel finden, wie es uns die Ansicht einer plötzlich enthüllten Landschaft oder die Brandung am Meeresstrand bietet; etwas in uns lacht oder weint, das, um sich unsrer zu bedienen, uns verzückt und uns selbst uns entzieht; heißt das, daß dies Etwas nie anders als in den Tränen und im Lachen gegenwärtig ist? Denn wenn ich in dieser Weise lache und weine, verstehe ich nur, daß dies unbekannte Motiv, das in mir weder Gestalt noch Sinn gewonnen hat, sofort verschwindet, wenn es nicht das Bild dieses Waldes oder dieser eifersüchtigen Wellen über verschütteten Schätzen ist. In Beziehung auf dies unbekannte Motiv, das mir diese äußeren Bilder verbergen, bin ich nur Bruchstück, wie Nietzsche schreibt, mir selbst nur ein Rätsel und grauser Zufall. Und als Bruchstück, als Rätsel, als Zufall bleibe ich in Beziehung zu meinem Wesentlichsten, das sich, vielleicht, in diesem Lachen und diesem Weinen ohne vernünftigen Grund ausgesprochen hat; doch dies Wesentlichste, das sich in dieser Weise geäußert hätte, würde einem dem Licht des Bewußtseins verborgenen Bilde entsprechen, einem gegen mich selbst verkehrten Bilde, das ich, in der Perspektive des Ziels befangen und bei dem Versuch, diesem Lachen oder Weinen das größte Ausmaß an Bewußtsein zu schenken, zu begreifen versäumt habe; und es muß also eine Notwendigkeit geben, die mich lachen oder weinen machen will, als würde ich freiwillig lachen oder weinen; und ist diese Notwendigkeit nicht die selbe wie diejenige, die die Nacht in Tag verkehrt, den Schlaf in ein Wachen, darin das Bewußtsein seine Ziele aufrichtet? Sollte es nicht die selbe Notwendigkeit sein, die die Bilder des hellen Tages wieder in die der Nacht verkehrt? In der Perspektive auf ein Ziel leben und denken bedeutete also für mich, von meinem Wesentlichsten mich entfernen, von dieser Notwendigkeit, die sich in mir als mein tiefstes Bedürfnis ausspricht; mein Wesentlichstes wiederzuerlangen bedeutete folglich, gegen den Strich meines Bewußtseins zu leben, und in diese Notwendigkeit, die mich im Lachen und im Weinen überrascht hat, hätte ich all mein Wollen und mein Vertrauen zu setzen; denn dieselbe Bewegung, die das Bewußtsein aus der Nacht in die Morgenröte, wo sie ihr Ziel setzt, hinauswirft, entfernt mich von diesem Ziel, um mich zu dem zurückzuführen, was ich in der tiefen Mitternacht an Wesentlichem habe. Dieser Notwendigkeit unterworfen zu sein, ist eines; ein andres ist es, ihr wie einem Gesetz unterworfen zu sein; und wieder ein anderes, dieses Gesetz im Bild des Kreises zu formulieren.