Buch lesen: «Nietzsche aus Frankreich», Seite 2

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Georges Bataille
Nietzsche im Lichte des Marxismus

Zwischen Nietzsche und dem Kommunismus fällt von vornherein ein Mißverhältnis auf. Nietzsches Werk übt auf die meisten seiner Leser eine unvermeidliche Verführung aus, doch selten hat eine Anziehung weniger Konsequenzen gehabt. Es steht mit diesen blendenden Büchern wie mit dem Alkohol, der zwar erregt und erleuchtet, eine elementare Denkart aber unberührt läßt.

Auf eine gewisse Zahl meiner Freunde hatte der Kommunismus einen ausschlaggebenden Einfluß. Sie liebten Nietzsche nicht auf gleiche Weise, gaben mir jedoch zuweilen das Gefühl eines wirklichen Einverständnisses. Meistenteils wollte das nichts besagen. Ich konnte mich – sogar lebhaft – für ihre Ideen interessieren, an ihre politische Aktivität glauben. Doch behielt ich einen Vorbehalt, und natürlich glaubte ich, daß sie diesen Vorbehalt teilten, wenn nicht voll und ganz, so doch in gewissem Grade. Zumindest erwartete ich von ihrer Seite Verständnis für meine Haltung: waren sie nicht meinesgleichen? hatten sie nicht die gleiche Blendung erfahren? Ich mußte jedoch wahrnehmen, daß sie sich niemals über ein Spiel erhoben, das mir armselig erschien. Sie sahen nicht einmal mehr, daß sie mich schockierten und bewirkten, daß ich mir fremd vorkam in einer Welt, die ihre Plattheit beschränkte. Ich weiß jetzt, daß ich unrecht hatte (zumindest darin, mich zu wundern). Gemessen an der einer einsamen Tragödie, haben die Probleme des Kommunismus eine unvergleichliche Bedeutung – selbst wenn diese Tragödie das ins Spiel brächte, was mehr zählt als das Leben (von dem Augenblick an, wo dieses materiell gesichert ist)! Selbst und gerade dann, wenn sie die generelle Tragödie wäre, die des Menschen, der, nachdem endlich alle Verbote aufgehoben sind, den weitesten Horizont vor sich sieht, einen so ausgedehnten, daß er sich in der Horizontlosigkeit verliert!

Allein der Kommunismus hat das Grundproblem gestellt. Er reklamiert im Namen jedes Individuums ein Lebensrecht, um das das geltende juridische System es teilweise bringt. Seinerseits bestreitet er das Lebensrecht eines jeden, der als Nutznießer des Systems dazu beiträgt, seinesgleichen um dieses Recht zu bringen. So ist das Problem des Kommunismus sehr wohl das General-problem, das für jedes Einzelwesen die Frage von Leben oder Tod stellt. Die Kommunisten verfügen zu diesem Zweck über ein Korpus von Doktrinen und bilden eine disziplinierte Organisation. Im Vertrauen auf die Bedeutung ihrer Aktivität verlangen sie voneinander einen Geist vorbehaltloser Konsequenz, eine blinde doktrinäre Gefolgschaft und das Opfer ihrer Freiheit und ihres Lebens. Ist die Sache einmal gegeben, kann darüber hinaus nichts weiteres mehr zählen, und dies gilt nicht nur für das Parteimitglied. In der Tat kann sich die Verpflichtung des Kommunisten nicht bloß aus dem förmlichen Engagement ergeben, das er eingegangen ist: persönlich, wie es ist, bedeutet das Engagement nichtsdestoweniger, daß der Aktivist das Bewußtsein einer Verpflichtung hat, die allen Menschen auferlegt ist; er kann diese Verpflichtung nicht schaffen. Von da an spielt die Gleichgültigkeit oder die Feindseligkeit keine Rolle mehr: effektiv zählt nichts sonst in der Welt – einerlei, ob für den Neutralen oder den Feind – als das kommunistische Unternehmen. Jedenfalls hat es nach der Überzeugung seiner Parteigänger einen exklusiven Wert: es hat das Schicksal der Menschheit total aufs Spiel setzen können, ohne daß eine Berufung möglich wäre.

Es bleibt mir unbenommen, zu glauben und zu sagen, daß das Denken Nietzsches in Wahrheit nicht weniger wichtig als der Kommunismus ist. Dann werde ich aber als das mindeste klar eingestehen müssen, daß dieses Denken null und nichtig bleibt, weil es nicht verstanden worden ist. Ich habe von der Inkonsequenz gesprochen, der es oftmals ausgesetzt ist. Der Mangel an Rigorosität bei meinen Freunden ist nämlich die allergewöhnlichste Haltung. Er findet sich sogar generell bei denen, die ihm lange Abhandlungen widmeten. Die von Nietzsche sprechen, betrachten sein Leben als eine Art Märchen, das natürlich tragisch ausgeht. Es scheint zuweilen, daß die sehr naive Sehnsucht nach einer Mythologie der modernen Zeit ihre Richtschnur gewesen ist; doch diese Mythologie steht der gegenwärtigen Welt nicht weniger fern, als die antiken Mythen ihr fremd geworden sind. Ich spreche nicht von denen, deren Ambitionen ein Denken, dessen Wesen darin besteht, niemals subordiniert zu sein, niemals zu dienen, in ein Instrument verwandeln wollten. Sie hätten die vorgängige Verweigerung Nietzsches in Betracht ziehen können. Aber es war ihnen ein leichtes, sich darüber hinwegzusetzen, aus dem guten Grunde, daß Nietzsche ohne Nachkommenschaft starb. Sein authentisches Denken verschwand ganz und gar mit ihm. Niemand nach ihm unterhielt das Feuer, das er entzündet hatte. Er fand Ausleger, doch die Auslegung behandelte ihn als einen Toten auf dem Seziertisch. Niemand forderte den Leichnam, und niemand konnte, niemand wollte ein Werk lebendig halten, das nicht auf abstrakte Art Philosophie sein kann, sondern allein Präsenz in der Welt.

Manchmal ergreift mich der Schrecken angesichts einer so vollständigen Bewußtlosigkeit. Wie soll man diese inkonsequenten Bewunderungen ertragen, die schlimmer als Beleidigungen sind, törichter als die Gleichgültigkeit?

Ich wende mich an die Menge derer, die Nietzsche lesen und bewundern. Hätten sie Rechte auf sein Denken? Woher nehmen sie die schwächliche Kühnheit, in ihnen selbst das zu verpfuschen, was das Mögliche – von ihrer Erniedrigung – befreien wollte? Es gibt im Menschen eine Seinsmüdigkeit, eine Seinsangst, die das Leben auf eine Verstellung reduziert: vor sich selber hat der Mensch Angst; das Mögliche, das er in sich trägt, macht ihn erzittern; das Mögliche, das, was er wäre, wenn er dazu die Kraft – oder das Herz – hätte, macht aus ihm diesen flüchtigen, müden, furchtsamen Schatten. Je näher er diesem Möglichen kommt, desto mehr höhlt ihn die Versuchung, ihm zu entgehen, aus. Demgegenüber will ich hier die anhaltende Strenge herausstellen, die unbefangene, furchtlose Redlichkeit – eine, die unermüdlich das eigene Falschspiel eingesteht –, die die Konzessionen auf das Notwendige beschränkt und niemals gestattet, nicht »souverän zu sein«. Das ist weder der feindselige Eigensinn der Askese noch die nüchterne Arbeit, aus der der Zusammenhang der Gedanken hervorgeht. Es ist nicht die äußerste Konsequenz und äußerste Energie des Verhaltens (das ist der Heiligkeit zu eigen). Es ist nicht die Beschränktheit der wissenschaftlichen Untersuchungen, die zum Verzicht führt. Ich werde vermeiden, von der Poesie zu sprechen, die dem Falschspiel um so näher kommt, als sie im umgekehrten Sinne unmittelbar zum Gipfel führt, wie es scheint… Noch nicht! … die authentische Verwirrung der Ohnmacht und die Anziehungskraft der Unvernunft trennen sie von ihm… Es handelt sich schließlich um Klarsicht und Vergessen, um Stille und stürmische Freude, um übermäßige Freiheit, um die Anmut der Gleichgültigkeit.

NIEMAND KANN NIETZSCHE AUTHENTISCH LESEN, OHNE NIETZSCHE ZU »SEIN«.

Ich verstehe darunter: ohne sich völlig und unwiderruflich in genau der Situation zu befinden, in der er sich befand. Anderenfalls geht es um sehr schlechte Gründe (vielfältige Kenntnisse oder Eklektizismus zur Schau stellen – auf die Fassade hin leben – eine aufgeblasene Persönlichkeit kultivieren – sich unfähig zur Freiheit wissen, aber melancholisch ihre Luft schnuppern…).

Das einzige Motiv, das die Nietzsche-Lektüre rechtfertigt und ihren Sinn begründet, ist, vor der Entscheidung zu stehen wie er, ohne eine Wahl zu haben. … Was Nietzsche an der Wende im geschichtlichen Lauf der Dinge, an der er sich befand, versagt war, war die Möglichkeit zu dienen; nichts erschien ihm wertvoll genug, um geliebt zu werden. Er litt darunter, machte auch löbliche Anstrengungen (im Hinblick auf Richard Wagner zum Beispiel). Sein Vaterland? man hat nicht gezögert, zu sagen, daß er es trotz des Hasses, den er bekundete, liebte; immerhin aber schien es ihm weit davon entfernt, wert zu sein, daß man ihm diene. Das politische Handeln, die Reform der Gesellschaft, die unvermeidliche Revolution? Allenfalls ist darüber zu sagen, daß sie ihn mit tiefer Sorge erfüllte, nicht ohne Feindseligkeit gegenüber ihrer Ethik, zumindest kämpfend, um seine Gleichgültigkeit zu rechtfertigen. Gott war der Gegenstand einer fundamentalen Enttäuschung…

Wenn nichts, weder das Vaterland noch das tätige Menschsein noch Gott, ihm seines Dienstes wert erschien, wenn er nicht geneigt war, einem erbärmlichen Ehrgeiz zu dienen (dem Reichtum oder persönlichen Erfolgen ohne Glorie), mußte er einer unruhigen Luizidität gegenüber souverän sein. Die Krankheit verschärfte die Situation (doch hätte sie sie nicht schaffen können). Es kam der Augenblick, da er nichts mehr auf später verschieben konnte, zum Beispiel auf die Suche nach diesem, das eines Tages zu jenem dienen würde. Es gab kein Jenes mehr, das gültig wäre, er hatte auf der Stelle zu leben, auf eine Weise, die ihm notfalls trotz seiner Niedergeschlagenheit wert erschiene, gelebt zu werden. Gewiß, man kann nicht von außen über ihn sprechen, wenn man sich nicht selbst in einer Situation befunden hat, die man nur kennen kann, wenn man sie selber erfahren hat. Im allgemeinen wird der Geist von dringenden Problemen belästigt, die nur insoweit Bedeutung haben, als nichts dringlich ist. Wir sind immer (fast immer) bestrebt, nützlich zu handeln; das dispensiert uns davon, zu existieren.

Die Entscheidung, von der ich spreche, hat kaum eine Chance, uns persönlich zu betreffen. Es ist stets möglich, Gott oder dem Staat zu dienen. Wer keins von beiden liebt, dem bleibt noch die Revolution. Überhaupt genügt eine beliebige Tätigkeit, vor allem eine von schmutzigem Interesse, oft aber auch eine gemeinnützige, um die meisten zufriedenzustellen. Das soll nicht heißen, daß die Menschen gewöhnlich niemals souveräne Augenblicke haben, sondern daß das auf hinterhältige Weise geschieht. Sie sind scheinbar unterwürfig und erkennen Wert nur dem Ernst der Sache selbst zu, für die sie leben (die der private Gewinn wie das öffentliche Interesse sein kann). Ihre souveränen Verhaltensweisen, die immer unvernünftig und oftmals uneingestehbar sind – so sehr, daß umgekehrt, aber komplementär dazu das Uneingestehbare in den Augen des luziden Menschen das Zeichen der Souveränität ist –, halten sie für geringfügig und unbedeutend. Der gesunde Menschenverstand erachtet einen unnützen oder ruinösen Akt für einen Scherz, wenn nicht für einen Fehltritt, den man besser nicht wiederholen wird. Oder es ist eine Entspannung, und am nächsten Morgen bekommt der Ernst wieder seinen Wert. Die Bewußtlosigkeit ist übrigens gar nicht selten. Und auch nicht die Komödie! Der Erstbeste trägt die Ungeniertheit zur Schau, hat jedoch nur die Kraft, sie zu heucheln; der angeblich Tolle ist scharfsinnig, wenn er allein ist; er fängt sich dann wieder, oder wenn er fortfährt, schwitzt er Ängste; die souveräne Haltung ist gezwungen, und sie bekennt am Ende das Falschspiel oder die Verzagtheit ein.

In diesem Zusammenhang will ich noch dem Zweifel entgegenkommen. Wenn man nämlich sagt, daß Nietzsche nicht der einzige ist und daß auch andere sich in der Situation befanden, von der ich gesprochen habe, so bringt man Wahrscheinliches vor. Es muß jedoch gesagt werden, daß allein ein Rückgriff auf die Formulierungen der Sprache erlaubt, das Problem zu stellen, sonst ist es die unbestimmte Ergebung in einen Stand der Dinge, der möglicherweise nicht erkannt ist, jedoch auch nicht Ziel einer Bemühung ist, ihn zu ändern. (Von den Schweigsamen ganz abgesehen: die Dichter selber haben nichts formuliert; und wenn man auch zugeben muß, daß André Breton sich manchmal klar ausgesprochen hat, so hat er darum doch nicht weniger dienen wollen; für ihn stellte sich das Problem also nicht in absoluter Form.) Hegel hat die Bemühung um die Autonomie des Philosophen am weitesten vorangetrieben, doch hat er sie selber als Autonomie eines Projekts behauptet, also einer Dienstbarkeit gegenüber einem künftigen Moment.1

Das ist nicht der einzige Einwand, der möglich ist. Karl Jaspers, unbestreitbar der tiefste unter den Nietzsche-Auslegern, hat sich auf eine Weise geäußert, die der meinen diametral entgegengesetzt ist. Nach Jaspers kann man Nietzsche auf keinen Fall definieren, man kann ihn nicht situieren. Er sagt nicht nur, »daß ihm niemand auf seinem Wege folgen kann«, sondern er fügt hinzu: »Es ist der Beginn aller Unwahrheit, endgültig aussagbare Entscheidung dort fällen und hören zu wollen, wo es sich um das Sein selbst handelt. Nur in der Welt – im Erkennen bestimmter Gegenstände, im Arbeiten für bestimmte Zwecke, im Handeln auf bestimmte Ziele hin – ist aussagbare Entscheidung möglich und zugleich die notwendige Bedingung sinnvollen Tuns. Solches Tun selbst aber muß umgriffen sein vom Seinsbewußtsein der Existenz, die erst allen aussagbaren Sinn trägt.«2 Wenn aber Nietzsche dieses Bewußtsein gewesen wäre, das die Bestimmungen der Arbeit umgreift, indem es sich von ihnen abhebt, wenn er sich selbst als solches Bewußtsein definiert hätte, wäre er dann nicht gerade durch die Tatsache bestimmt, daß er nicht zu bestimmen ist? Ich will darauf hinweisen, daß die meisten Menschen sich in die Bestimmungen der Arbeit flüchten, oder eines Dienstes, der die Form der Arbeit hat. Für Jaspers ist Nietzsche in der Tat die Ausnahme… Könnte er aber nicht Ausnahme in einem Sinn sein, den der Ausleger nicht vorgesehen hat? Jaspers hat sich von Nietzsche abgekehrt, denn er selbst ist kein Ausnahme. Er bekundet so, daß er der unmöglichen Situation Nietzsches fremd gegenübersteht: er hatte den Menschen nicht aus sich selbst zu rechtfertigen, unabhängig von einer Sache größerer Dimension. Daher konnte er Nietzsche weder folgen noch ihn definieren. Wobei selbstverständlich ist, daß niemand ihn definieren kann, ohne ihm zu folgen (ohne situiert zu sein, wie er es war).

Nach dem Gesagten – nachdem die Stellung Nietzsches definiert ist – ist meine Intention klar ersichtlich. Ich glaube, daß in der heutigen Welt keine Einstellung außer der des Kommunismus und der Nietzsches annehmbar ist. Andere Einstellungen bleiben möglich…: die geschichtlichen Bedingungen, unter denen sie einen Sinn hatten, sind nicht mehr voll gegeben. Die Kommunisten haben recht, wenn sie von gewissen Denkweisen sagen, daß sie eine gleitende soziale Organisation widerspiegeln, die zum Verschwinden bestimmt ist. Diese Organisation ist dazu verurteilt, entweder langsam der Wirkung ihrer Eigenbewegung nachzugehen (ihrer Entwicklung hin zu einer Gleichstellung der Menschen), oder den Gewalttätigkeiten von außen zu erliegen. Demnach würde eine Wahrheit – die nicht unbedingt einen militärischen Triumph nötig hat, die sich ebensogut in der Niederlage behaupten könnte, ja sogar in den Grenzen eines hinterhältigen Friedens (wie dem Frieden der Konfessionen nach den Religionskriegen) –, würde die Wahrheit des Kommunismus allein übrigbleiben, über einem Friedhof von toten Glaubensinhalten. Doch diese Wahrheit ist unvollständig: und zwar insoweit, als sie gewisse, angeblich nachrevolutionäre Probleme für inaktuell und unzeitig erklärt. Es handelt sich vor allem um das Problem der Zwecke. Denn wenn man den Menschen auf seine rudimentären Bedürfnisse beschränkt, verliert man seinen Unterschied vom Tier aus dem Blick: der Mensch ist das Lebewesen, das mit der biologischen Existenz nicht zufrieden ist, das sich selber Zwecke setzt, die die biologische Befriedigung zur Tragweite eines Mittels herabsetzen. Wir verdanken der Vergangenheit Zwecke, die nicht nur dem animalischen Sein des Menschen fremd sind, sondern dem Menschen selber – soweit er Gemeinbewußtsein ist: der Kommunismus denunziert sie, indem er verlangt, daß der Mensch ausschließlich dem Menschen diene (er hält die außermenschlichen Zwecke für Mittel, ihn auszubeuten). Während er kämpft, um den Menschen zu befreien, reduziert er jedoch den Menschen, auf ein Mittel, sich zu befreien: niemals spricht er – es scheint ihm verfrüht (oder unverständlich), davon zu sprechen – vom souveränen Menschen, der im Augenblick seiner Souveränität keinerlei Nutzwert über diesen Augenblick selbst hinaus hat (der ist, um zu sein, und nicht, um nützlich zu sein, zu dienen, der mit einem Wort kein Werkzeug ist, kein Ding, sondern ein souveränes Wesen).

Der Kommunismus hat die Vernachlässigung des souveränen Teils des Menschen sogar bis zu einem solchen Punkt getrieben, daß seine fahrlässige Haltung eine klare Definition des Problems ermöglicht hat. Indem er es radikal verwirft, einer jeden nutzlosen Existenz zu dienen, einer menschlichen oder nicht-menschlichen, mit einem Wort, einer jeden souveränen oder heiligen Existenz, tendiert er provisorisch dazu, den Menschen zwar nicht auf den Zustand eines Tieres, aber auf den eines Mittels des Mittels zu reduzieren. So kommt es, daß der Mensch nach dem gegenwärtigen Kommunismus das Problem des Zwecks, der seinem Wesen nach nutzlos, souverän, heilig ist, in der nüchternen Form stellt, die die traditionellen Ausflüchte verbannt. Letztlich würde das provisorische Wesen, das Mittel eines Mittels, selber nutzlos werden, doch ohne sich dieser letztlichen Nutzlosigkeit bewußt zu werden, da es nicht einmal mehr weiß, was die Wörter nutzlos, souverän, heilig bedeuten; auf lebendige Weise ist dieses Wesen ohne Bewußtsein selber die Frage, auf die Nietzsche bewußt antworten mußte.

Anstelle des Mißverhältnisses tritt am Ende die Verbindung zwischen Nietzsche und dem Kommunismus hervor. Die Aktion des Kommunismus tendiert dahin, das Problem Nietzsches weniger rar, weniger verschlossen zu machen (zumindest wenn man nicht auf Nietzsches Erbrochenes zurückkommt). Auf der anderen Seite sehen wir, daß Nietzsche im voraus auf eine Frage antworten mußte, die der Kommunismus entwickelt, indem er sich einer Antwort verweigert (denn er kann nicht antworten, ohne die Triebfedern der Aktion zu zerbrechen). In summa, es scheint vergebens, die Bedeutung Nietzsches außerhalb der Perspektiven des Kommunismus zu suchen, vergebens, die Bewegung zu verfolgen, aus der diese Perspektiven hervorgehen, ohne an ihrem Ausgang Nietzsches Erschrecken auszumachen.

Anmerkungen

1 Hegel entgeht dieser Dienstbarkeit, indem er sich mit der objektiven Totalität identifiziert, ist jedoch trotz der Kreisförmigkeit seiner Denkbewegung, die den Sinn einer Verschiebung auf später gewissermaßen aufhebt, in der Formulierung dieser Tonalität gefangen geblieben. Ich komme andernorts auf diese schwierige Frage zurück.

2 K. Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin 1935, Kap. »Wie Nietzsche von uns verstanden wird«, S.448, 449.

Pierre Klossowski
Nietzsche, Polytheismus und Parodie

Die Parodie und der Polytheismus bei Nietzsche? Man wird die Beziehung zwischen diesen beiden Begriffen auf Anhieb schwerlich erkennen und kaum sehen, welcher Vorliebe die Tatsache, daß man davon redet, wohl entsprechen mag, und das Interesse verwunderlich finden, das eine derartige Frage aufwirft. Wenn für die allermeisten der Name Nietzsche untrennbar ist von dem Spruch: Gott ist tot, so wird es, wo die Rede von Nietzsche ist, erstaunlich scheinen, wenn man von der Religion mehrerer Götter zu sprechen beginnt, während heute die Köpfe ohne Zahl sind, für die der Name Nietzsche nicht bloß nichts anderes mehr bedeutet als eben jenen Spruch, sondern für die Nietzsche nicht einmal nötig war, um zu wissen, daß alle Götter tot sind. Und vielleicht werde ich den Eindruck erwecken, mich Nietzsches zu bedienen, um das Gegenteil, die Existenz mehrerer Götter, zu beweisen, und bei der Gelegenheit, schlecht genug, den Polytheismus zu legitimieren; und, da ich mit Wörtern spiele, dürfte ich kaum dem Vorwurf entgehen, unter dem Vorwand, den Sinn der Parodie bei Nietzsche darzustellen, selbst eine Parodie auf Nietzsche zu schreiben.

Wenn ich Anlaß zu derartiger Konfusion bieten muß, so habe ich immerhin dies bemerklich gemacht: daß nämlich, sofern man sich anschickt, das Denken eines Autors, den man zu verstehen und verständlich zu machen sucht, vor den Augen des Publikums zu interpretieren, keiner in dem Maße wie Nietzsche seinen Interpreten verleitet, ihn zu parodieren. Und nicht allein die in sein Denken verliebten Interpreten, sondern auch diejenigen, die angestrengt bemüht sind, ihn als einen gefährlichen Geist zu widerlegen; Nietzsche selber ermahnte einen seiner ersten Kommentatoren – niemand hatte bislang von ihm gesprochen –, von allem Pathos abzulassen, keinesfalls Partei für ihn zu ergreifen und bei seiner Charakterisierung eine Art von ironischem Widerstand aufzubieten.

Es läßt sich hier also weder vermeiden, zum Opfer einer Art List zu werden, noch, in die ins Denken und in die Erfahrung Nietzsches eingelassene Falle zu gehen; und sobald man versucht, seine Rede zu erläutern – zumindest, wenn man nicht einfach die Arbeit des Historikers tut wie Andler –, läßt man ihn mehr und läßt ihn zugleich weniger sagen als er sagt; und das nicht in der Weise, wie es allgemein und für jedes Denken unvermeidlich ist, durch eine simple optische Täuschung, oder auch weil man einen bestimmten Ausgangspunkt verfehlt hatte, sondern man läßt ihn mehr sagen als er selbst sagt, indem man ihn sich selbst gleichmacht, oder weniger als er sagt, indem man ihn verwirft oder verändert, aus dem einfachen Grund, daß es, genau genommen, kaum einen Ausgangspunkt gibt und keinen wohlbestimmten Zielpunkt. Die Zeitgenossen und Freunde Nietzsches konnten eine gewisse Entwicklung von der Geburt der Tragödie zum Wanderer und sein Schatten verfolgen, und von der Fröhlichen Wissenschaft und dem Zarathustra bis zur Götzen-Dämmerung. Doch wir anderen, die über die Jugendschriften und den ganzen Nachlaß mit dem Ecce homo verfügen, konnten nicht nur die Verzweigungen seiner Nachwirkung verfolgen und erleben, daß die jüngsten historischen Wirren auf Nietzsches Konto geschrieben wurden; wir können auch noch dies feststellen – und ich denke, daß gerade dies nicht unwichtig ist –: Nietzsche, der trotz allem Philologie-Professor in Basel war und also ein Universitätslehrer mit ganz bestimmten pädagogischen Ambitionen, Nietzsche hat nicht eine Philosophie entwickelt, sondern, außerhalb des Rahmens der Universität, Variationen über ein persönliches Thema, hat das Leben eines kränkelnden Sonderlings oder eines Rekonvaleszenten geführt, eines Sommerfrischlers auf Klimastationen, in der größten intellektuellen Isolation, aufs günstigste sich selbst als seinem einzigen Hörer überlassen.

Dieser Hochschullehrer, ausgebildet in wissenschaftlichen Disziplinen, um andere auszubilden und zu belehren, sieht sich gezwungen, das Unlehrbare zu lehren: dies Unlehrbare sind die Augenblicke, wo die Existenz den Einschränkungen durch die Begriffe von Geschichte und Moral, aus denen sich gewöhnlich ein praktisches Verhalten ergibt, entflieht und sich als auf sich selbst bezogen erweist, ohne anderes Ziel, als eben zu sich selbst zurückzukehren: so daß alle Dinge neu und zugleich uralt erscheinen; alles ist möglich und alles gleicherweise unmöglich; und für das Bewußtsein gibt es nur zwei Wege, entweder zu schweigen oder es auszusprechen; entweder nichts zu tun oder so zu handeln, daß der alltäglichen Atmosphäre der Charakter der zu sich selbst zurückgekehrten Existenz aufgeprägt wird; entweder in der Existenz sich zu verirren oder aber sie zu reproduzieren.

Dies Unlehrbare hat er sogleich in seiner Einsamkeit, in der Form seiner Idiosynkrasien erreicht – das heißt, indem er sich selbst beschrieb als einen Genesenden, der am ungelösten Nihilismus seiner Epoche litt, und als er diesen Nihilismus – bis zur Affirmation des Begriffs fatum – aufgelöst hatte, konnte er den Grund der als zufällig gelebten Existenz selbst ergreifen, das heißt als Existenz, die, in seinem Falle, zufällig Nietzsche hieß; und also auch die Wendigkeit, diese zufällige Situation (fortuite) als sein eigenes glückliches Geschick (fortune) – wie der Sinn dieses Wortes selber es will – anzuerkennen; was auf eine Entscheidung zugunsten der Existenz des Universums hinausläuft, das kein andres Ziel hat als dies, zu sein was es ist.

Diese Annahme der Existenz, die nichts andres ist als die Annahme der Ewigkeit, erkennt Nietzsche in den Gleichnisbildern der Kunst und der Religion wieder, und er sieht auch, daß diese selbe Weise ihrer Annahme von der wissenschaftlichen Tätigkeit unablässig negiert wird, die die Existenz in ihren greifbaren Formen erkundet, um eine praktische und erträgliche Welt zu konstruieren. Nietzsche fühlt sich mit beiden Haltungen gegenüber der Existenz solidarisch, der des Gleichnisbildes und der der Wissenschaft, die erklärt fiat veritas pereat vita.

Und so kommt er dazu, in die Wissenschaft das Gleichnisbild und ins Gleichnis die Wissenschaft zu setzen: so daß der Gelehrte sich sagen könnte: »Qualis artifex pereo!«

Nietzsche ist einer unerklärlichen Enthüllung der Existenz verfallen, die sich nicht anders als durch den Gesang und das Bild ausdrücken läßt. In ihm entspinnt sich ein Kampf zwischen Dichter und Wissenschaftler, zwischen Seher und Moralist, in dem der eine den andren, indem er seine Rolle übernimmt, zu disqualifizieren sucht. Entfacht wird dieser Kampf durch das Gefühl moralischer Verantwortung gegenüber den Zeitgenossen; die verschiedenen Tendenzen, die verschiedenen Haltungen, die sich Nietzsches Bewußtsein streitig machen, dauern an, bis sich ein kapitales Ereignis einstellt: Nietzsche entäußert sich in einer Figur, einer wahrhaften dramatis persona: Zarathustra, eine Figur, die nicht bloßes Produkt einer fiktiven Verdopplung ist, sondern gewissermaßen eine Herausforderung des Sehers Nietzsche an den Professor und Gelehrten Nietzsche. Die Funktion dieser Figur ist komplex: einerseits ist sie Christus, wie Nietzsche ihn insgeheim und eifersüchtig versteht, aber andrerseits, als Ankläger des traditionellen Christus, bereitet sie den Weg für die Ankunft des Dionysos philosophos.

Die Jahre der Entstehung des Zarathustra, doch vor allem die, die seiner Geburt folgten, waren für Nietzsche ein Notstand ohnegleichen. Man büßt es teuer, unsterblich zu sein: man stirbt dafür mehrere Male bei Lebzeiten. – Es gibt etwas, das ich die rancune des Großen nenne: alles Große, ein Werk, eine Tat, wendet sich, einmal vollbracht, unverzüglich gegen den, der sie tat. Eben damit, daß er sie tat, ist er nunmehr schwach – er hält seine Tat nicht mehr aus, er sieht ihr nicht mehr ins Gesicht. Etwas hinter sich zu haben, das man nie wollen durfte, etwas worin der Knoten im Schicksal der Menschheit eingeknüpft ist – und es nunmehr auf sich haben! … Es zerdrückt beinahe…

Zarathustra war, wohlgemerkt, in den früheren Werken bereits angelegt; doch es ist nicht nur die Schöpfung, die Präsenz der unaussprechlichen Gesänge der Dichtung, was für Nietzsches Leben wichtig ist; was fortan eine determinierende Kraft bekommt, ist die mehr oder weniger große Identifikation Nietzsches mit dieser Physiognomie, die für ihn eine Art Versprechen, eine Auferstehung, eine Himmelfahrt darstellt: Zarathustra ist gleichsam der Stern, zu dem Nietzsche bloß der Satellit ist; besser noch: Nietzsche bleibt, nachdem er den Triumphweg für Zarathustra gebahnt hat, hinter seiner auf dem Weg eines siegreichen Rückzugs aufgegebenen Position zurück. Wie er selbst sagt, er muß seine Schöpfung teuer büßen: Zarathustra stellt Nietzsches Unsterblichkeit dar, diese Unsterblichkeit, für die man mehrere Male bei Lebzeiten stirbt. Sobald Nietzsche von sich selbst Zarathustra zu unterscheiden vermag und ihm derart als einer höheren, aber noch unerreichbaren Realität begegnen kann, verschwindet am Ausgang der göttlichen Fabel mit der wahren Welt auch die scheinbare Welt, die in sechs Tagen geschaffen wurde: denn in sechs Tagen ist die wahre Welt wieder zur Fabel geworden. Nietzsche wirft einen Blick zurück auf die Refabularisierung der wahren Welt, wie sie in sechs Tagen oder Zeitabschnitten, die die Umkehr der sechs Schöpfungstage darstellen, verschwindet. Es ist dies Verschwinden, das er in der Götzen-Dämmerung nachzeichnet, in einem Aphorismus mit dem Titel: Wie die »wahre Welt« endlich zur Fabel wurde.

Hier der Text, dessen Untertitel »Geschichte eines Irrtums« lautet:

»1. Die wahre Welt, erreichbar für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften, – er lebt in ihr, er ist sie.

(Älteste Form der Idee, relativ klug, simpel, überzeugend. Umschreibung des Satzes ›Ich, Plato, bin die Wahrheit‹.)

2. Die wahre Welt, unerreichbar für jetzt, aber versprochen für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften (›für den Sünder, der Buße tut‹).

(Fortschritt der Idee: sie wird feiner, verfänglicher, unfaßlicher – sie wird Weib, sie wird christlich…)

3. Die wahre Welt, unerreichbar, unbeweisbar, unversprechbar, aber schon als gedacht ein Trost, eine Verpflichtung, ein Imperativ.

(Die alte Sonne im Grunde, aber durch Nebel und Skepsis hindurch; die Idee sublim geworden, bleich, nordisch, königsbergisch).

4. Die wahre Welt – unerreichbar? Jedenfalls unerreicht. Und als unerreicht auch unbekannt. Folglich auch nicht tröstend, erlösend, verpflichtend: wozu könnte uns etwas Unbekanntes verpflichten?…

(Grauer Morgen. Erstes Gähnen der Vernunft. Hahnenschrei des Positivismus.)

5. Die ›wahre Welt‹ – eine Idee, die zu nichts mehr nütz ist, nicht einmal verpflichtend – eine unnütz, eine überflüssig gewordene Idee, folglich eine widerlegte Idee: schaffen wir sie ab!

(Heller Tag; Frühstück; Rückkehr des bon sens und der Heiterkeit; Schamröte Platos; Teufelslärm aller freien Geister.)