Liebe schmeckt wie Schokolade

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»Oh. Ja. Das war ...«

»Du kennst diesen Mann, Cal?«

Calvin sah kurz zu seinem Vater auf, nickte. »Ja, wir haben uns vor Kurzem kennengelernt.« Schon sah er wieder in braune Augen.

Es dauerte fünf Sekunden, bis sein Vater lachte. »Und wirst du uns noch vorstellen oder ...?«

»Oh! Ja! Ja, natürlich.« Calvin räusperte sich und deutete auf Leo. »Leo Larkin. Leo, mein Vater Roger Brewster. Und es tut mir jetzt schon leid.«

Leo schüttelte die Hand des Mannes, sah dann jedoch fragend zu Calvin. »Was tut Ihnen leid?«

»Was auch immer hier vorgegangen ist, bevor ich gekommen bin und alles, was noch geschehen wird«, erklärte Calvin ernst.

»Wie immer tust du mir Unrecht. Ich habe Leo lediglich mit der Silikon-Acryl-Frage geholfen.«

Calvin verzog das Gesicht. »Nicht doch! Diesen Vortrag kann ich inzwischen auswendig.« Sein Blick fiel auf Leos Einkaufswagen. »Sie renovieren?«

»Ja. Und Ihr Vater war mir eine große Hilfe. Mitarbeiter sucht man ja hier vergebens.«

»Ja, das ist hier so«, sagte Roger, während Calvin seinen Kopf nach unten sacken ließ und gottergeben seufzte.

»Und es geht los«, murmelte er.

»Ich war mal an einem Samstag hier, das können Sie gleich völlig vergessen! Wenn Sie glauben, heute ist es schon leer, dann würden Sie sich an einem Samstag aber umgucken.«

Calvins Blick fiel auf den Riss in seiner Hose und mit einem Schlag wurde ihm bewusst, wie er eigentlich aussah. Schnell fuhr er sich durchs Haar, in der Hoffnung, es ordnen zu können. Holzstaub fiel vor ihm zu Boden.

»Moment mal«, stutzte sein Vater in diesem Moment. »Larkin, das sagt mir doch etwas.« Roger sah fragend zu seinem Sohn, der aussah, als würde er im Boden versinken wollen.

»Leo arbeitet in dem Laden, wo ich die Pralinen für Mum her hatte. Zum Valentinstag. Ich hab dir von dem Laden erzählt, Larkin Candys and Sweets

Leo lächelte. »Schuldig im Sinne der Anklage.«

»So so! Daher kenne ich den Namen. Mein Sohn hat ja in den höchsten Tönen von Ihnen geschwärmt.«

»Dad!«

»Oh, Verzeihung, von der Schokolade natürlich. Nicht von Ihnen.«

Calvin seufzte erneut und sah entschuldigend von unten in Leos Augen. Er war einen knappen halben Kopf kleiner als Leo.

»Oh. Nun, stören würde mich beides nicht«, sagte er lächelnd und sah durch dunkle Wimpern in das helle Grün mit den silbernen Funken darin. Diese Augen brachten ihn um den Verstand und schienen sein Gehirn lahmzulegen. Er hörte sich an wie ein degenerierter Vollidiot.

Calvin musste schmunzeln und senkte den Blick, legte die Packungen, die er noch immer in den Händen hielt wie eine Rettungsboje, in den Einkaufswagen.

»Also, Leo. Hier meine Empfehlung. Mittelpreissegment, etwa auf Augenhöhe. Nicht das, das Sie in der Hand haben, sondern das von der Firma SilTop«, sprach Roger unbeirrt weiter.

»Okay, Dad. Hast du es jetzt? Wir müssen nämlich zum Zuschnitt, unser Zeug ist fertig.«

»Ach, die können warten. Freunden hilft man doch!« Roger sah auf und lächelte Leo an, erstickte Calvins Widerworte damit im Keim. »Übrigens habe ich keine Schokolade bekommen.«

Leo lächelte und stellte das offensichtlich falsche Silikon zurück ins Regal, um nach dem richtigen zu greifen. Vier Kartuschen landeten im Wagen. »Dann werden Sie mich wohl bald wieder besuchen müssen, Calvin.« Er lächelte Mr. Brewster an, sah dann wieder zu Calvin.

»Sieht so aus«, sagte der leise und zögerte einen Moment, bevor er weitersprach. »Vielleicht sind Sie dann weniger im Stress als vor dem Valentinstag.«

Roger runzelte die Stirn ob dieses Gesprächs und vor allem ob der Blicke, die sich die beiden Männer zuwarfen. Er sah sehr wohl, was hier vor sich ging.

»Ich denke schon.« Wie ein Idiot stand Leo einen Moment da. Sein Gehirn immer noch im Sparflammenmodus. Und dann sagte er etwas, mit dem er nie gerechnet hatte, weil er es im Grunde gar nicht wollte. Oder zumindest geglaubt hatte, es nicht zu wollen. Nicht jetzt. Noch nicht. »Entschuldigen Sie, aber kann ich Sie vielleicht irgendwann einmal auf einen Kaffee einladen? Oder Tee? Oder was auch immer Sie gerne trinken?«

Langsam hoben sich Rogers Augenbrauen und genauso erstaunt wie er über die Frage war, schien auch sein Sohn es zu sein, der mit großen Augen zu Leo aufsah - und nicht abgeneigt wirkte, die Einladung anzunehmen. Entschlossen trat Roger auf den Einkaufswagen zu.

»Komm, Cal. Wir müssen los.«

»Dad!« Noch immer war Calvins Blick auf den Mann vor ihm gerichtet.

»Wie du schon sagtest, der Zuschnitt wartet.«

»Ja, aber ...«

»Hat mich gefreut, Leo, aber wir müssen jetzt los.« Mit ausladenden Schritten schob Roger den Wagen vor sich her in die Richtung, aus der Calvin zu ihm gekommen war.

Calvin löste seinen Blick von Leo und sah ihm nach. »Dad, warte doch!«

»Komm schon! Du hast selbst gesagt, Paul kommt heute früher nach Hause, also müssen wir uns beeilen!«

Seine Worte wirkten wie ein Eimer mit eiskaltem Wasser, der über Calvins Kopf ausgekippt wurde. Wie das Aussetzen der Warmwasserversorgung bei seinen Großeltern, wenn jemand im Zweitbad die Toilettenspülung bediente. Paul. Calvin folgte seinem Vater, nicht ohne noch einmal über seine Schulter zu sehen. Auch er bog um die Ecke.

Leo blieb irritiert und verwirrt zurück. Der hastige Abgang kam absolut unerwartet. »Also«, sagte er leise in den leeren Gang hinein. Er hatte Probleme zu begreifen, was gerade geschehen war.

»Hey, Leo?« Calvin war noch einmal am Ende des Ganges aufgetaucht und lächelte ihn jetzt an, als er überrascht den Blick in seine Augen hob. Zu überrascht, um etwas zu antworten. »Tee klingt gut«, sagte Calvin also, gerade laut genug, dass Leo es hören musste. Noch einen Augenblick lang hielt er den Blickkontakt, dann folgte er seinem Vater endgültig. Er musste sich beeilen, um seinen alten Herrn einzuholen, ein leises Lächeln auf den Lippen.

»Er hat mit dir geflirtet.« Keine Spur mehr von der freundlichen Stimme seines Vaters. Stattdessen hörte Calvin einen stummen Vorwurf heraus.

»Ach Unsinn! Er ist einfach nur nett gewesen, Dad«, widersprach er sofort.

»Er hat mit dir geflirtet, Calvin und wenn du mich fragst, hast du zu wenig dafür getan, ihn davon abzuhalten.« Ein Hinweisschild leitete sie durch die Gänge. »Was soll denn Paul dazu sagen?«

»Gar nichts, weil wir nicht geflirtet haben. Du siehst Gespenster, Dad.«

»Glaub mir, ich weiß genau, was ich gesehen habe. Ich bin vielleicht alt, aber nicht dumm.«

Sie gelangten an den Tresen für den Zuschnitt und Calvin wandte sich an seinen Vater, einen ebenso ernsten Ausdruck auf dem Gesicht.

»Okay, Dad. Ich sage das jetzt nur noch dieses eine Mal. Wir haben nicht geflirtet. Leo ist nicht einmal ein Freund, als den du ihn aber bezeichnet hast. Du siehst definitiv Gespenster und ich möchte nicht, dass du Dinge in etwas hineininterpretierst, das nicht der Wahrheit entspricht. Selbst wenn ich mit Leo Larkin einen Tee trinken gehe, ist noch lange nichts dabei. Ich springe nicht sofort jeden Mann an, mit dem ich etwas unternehme. Mit Twin bin ich auch nur befreundet und außerdem«, sein Vater verschränkte die Arme vor der Brust, »außerdem muss ich mich überhaupt nicht rechtfertigen, also was tue ich hier?«

»Du rechtfertigst dich«, stellte sein Vater fest. »Weil du genau weißt, dass du sehr wohl geflirtet hast. Ich werde das für mich behalten, aber ich sage dir, es wäre ein großer Fehler, mit diesem Mann auszugehen. Bezeichne es als was du willst, er hat dich ganz altmodisch um ein Rendezvous gebeten.«

Die Schlange rückte ein Stück vor und Calvin haderte einen Moment mit einer Antwort, doch es war nicht nötig, etwas zu sagen, denn sein Vater war noch nicht am Ende.

»Liebst du Paul?«

»Ja!« Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. Vielleicht etwas zu schnell. »Natürlich«, setzte Cal nach und seufzte dann. »Dad, bitte, vertrau mir doch. Ich betrüge Paul nicht.«

»Gut. Dann belass es auch dabei.« Damit war für Roger das Gespräch beendet.

Er konnte nicht glauben, dass er gerade Zeuge geworden war, wie sein Sohn mit einem anderen Mann geflirtet hatte. Zu so einem Mann hatte er seinen Sohn nicht erzogen und er war wütend, wie leicht es Calvin gefallen war, einfach einer Einladung zuzustimmen, die nichts Gutes heißen konnte. Calvin hatte mehr als einmal beteuert, wie wichtig ihm Treue in einer Beziehung war. Sie hatten oft darüber gesprochen, vor allem während Roger sich von seiner Ex-Frau getrennt hatte. Eine Trennung im Guten, bevor Schlimmeres passiert war.

Und nun sollte Calvin diese Werte mit Füßen treten? Von wegen nur ein unschuldiges Treffen! Er hatte mit eigenen Augen gesehen, wie Calvin diesen Mann angesehen hatte und wie Leo Larkin seinen Sohn angesehen hatte! Nein, daran war bei Weitem nichts Unschuldiges gewesen.

Schweigend fuhren sie schließlich nach Hause, im Kofferraum alles, was sie für den Ausbau von Donatellos Balkongehege benötigten. Sie sprachen während der Arbeit nicht viel miteinander, gaben sich nur kurze Anweisungen, antworteten knapp und arbeiteten dennoch Hand in Hand. Das jahrelange Leben unter einem Hausdach hatte sie dahingehend trainiert.

Als Paul schließlich nach Hause kam, verabschiedete sich Roger. Sie hatten es gerade geschafft, das Gehege fertig zu stellen. Die griechische Landschildkröte, an der sein Sohn einen Narren gefressen hatte, würde sich hier sicher wohlfühlen.

***

Allumfassendes, tiefes Schwarz breitete sich hinter Calvins geschlossenen Lidern aus. Er saß auf der Couch, die Beine auf der Sitzfläche ausgestreckt, den Kopf an die Lehne zurückgelegt, In-Ear-Kopfhörer in den Ohren. Dann begannen die ersten Töne des neuen Liedes, gespielt auf einer Akustik-Gitarre, wie sie sein Grandpa besessen hatte. Ein orangeroter Faden Melodie zog Schleifen und Kreise in die Schwärze. Ein Bass setzte eine gelbe Linie darunter. Dann setzte ein Schlagzeug ein, spielte dunkelgrüne Lichtpunkte zwischen die Melodiefäden. Und dann die dunkle Frauenstimme, samtig, warm und weich. Dunkelbraune Kreise, die das Bild des Songs vollendeten. So tiefdunkel wie ...

 

Harsch wurde er aus seinen Betrachtungen gerissen. Grobe Finger packten ihn am Oberarm. Selbst durch den Pullover fühlten sie sich ungemein derb an. Calvin riss den Kopf von der Couch und die Augen auf. Pauls Gesicht war zu einer grimmigen Fratze verzerrt, seine Stimme schrie etwas Unverständliches. Verständnislos starrte Calvin zu ihm auf, gefangen im Schock über die plötzliche Unterbrechung. Er konnte Paul schnauben sehen, dann wurden ihm rüde die Kopfhörer aus den Ohren gerissen.

»Hörst du mir überhaupt zu?!«, brüllte Paul aufgebracht.

»Ich ...«

»Was macht deine scheiß Schildkröte da im Flur? Ich wäre fast auf das Vieh drauf getreten!«, wetterte der Mann über Calvin, den der wieder einmal kaum wiedererkannte. Der Dämon hatte erneut von Paul Besitz ergriffen.

»Im Flur?«, fragte Calvin verdutzt. Die friedliche Stimmung war mit einem Schlag dahin. Fester gruben sich Pauls Finger in seinen Oberarm.

»Ja, im Flur! Er sitzt da und ich komm rein und trete fast auf ihn drauf! Vermutlich hätte ich mir noch Vorwürfe anhören dürfen!« Paul warf Calvins Kopfhörer auf die Couch.

»Ich«, stammelte Cal. »Sitzt er wirklich im Flur? Er muss über die Türschwelle gekommen sein. Die Stufe hat er noch nie geschafft, ich ...«

»Du glaubst mir nicht?!« Calvin wurde vom Sofa und auf die Füße gerissen. Beinahe verlor Calvin das Gleichgewicht, doch Pauls Griff hinderte ihn daran. Es fühlte sich an, als würde seine Schulter jeden Moment auskugeln, so ruppig zerrte Paul an seinem Arm. »Ich zeige es dir!«

»Au, Paul! Du tust mir weh!« Calvin versuchte, die Kontrolle über seinen Arm zurückzugewinnen, doch das war ein aussichtsloses Unterfangen.

»Da!« Paul deutete in den Flur. »Sieh ihn dir an! Bist du jetzt stolz, weil er die Stufe geschafft hat?!«

Tatsächlich saß Donatello im Flur und richtete jetzt seinen halb in den Panzer zurückgezogenen Kopf auf die beiden Männer. Schwarze Knopfaugen blinzelten Calvin müde entgegen. »Ich weiß nicht, wie er das geschafft hat.«

»Ist doch scheißegal! Er sitzt im Flur! Der Flur war tabu, Calvin, das haben wir so ausgemacht!«

»Ja, ich ... Ich weiß, aber ... Ich kann nicht denken, wenn du so an meinem Arm zerrst«, gab er zu bedenken, doch das hinderte Paul keinesfalls daran, noch fester zuzupacken.

»Bring dem Vieh Manieren bei oder ich trete das nächste Mal drauf und dann hat es sich mit dem Ninja Turtle«, grollte Paul gefährlich. Er schubste Calvin in den Flur, stapfte in die Küche und schlug die Tür zu, die sie vom Flur trennte.

Lange sah Calvin ihm nach, wusste noch immer nicht genau, was da genau passiert war. Langsam hob er seine rechte Hand und schloss sie vorsichtig um seinen pochenden Oberarm. Er musste nicht nachsehen, um zu wissen, dass er von Pauls Behandlung blaue Flecken bekommen würde. Donatello blinzelte noch immer zu ihm auf, als er seinen Blick auf ihn senkte.

»Hey, Kumpel«, sagte er leise und hockte sich neben die Schildkröte. »Wie bist du hierhergekommen, hm?« Donatello blinzelte. »Hast du die Stufe geschafft, ja? Ich habe gar nicht bemerkt, wie du das Wohnzimmer durchquert hast.« Wieder ein Blinzeln.

»Sprich nicht mit dem Tier, als könnte es dich verstehen!«, rief Paul aus der Küche.

Calvin schnaubte, hob seine Schildkröte vom Boden auf und trug sie zurück ins Wohnzimmer, schloss die Tür. »Also schön. Ich muss mir etwas einfallen lassen, was dich in Zaum hält. Wie wäre es mit etwas Vogelmiere? Die wächst immerhin schon.« Calvin trat auf den Balkon und zupfte einige Stängel des frischen, hellen Krauts aus dem Kräuterbalkonkasten, den er für Donatello pflegte.

Inzwischen blieb es abends länger hell. Der Frühling hatte endgültig Einzug gehalten und einen Moment lang blieb Calvin stehen, ließ seinen Blick über Three Points schweifen. Dann straffte er die Schultern und trat zurück ins Wohnzimmer, um Donatello die Vogelmiere hinzuhalten. Ein langer Hals kam zum Vorschein. Langsam. Dann öffneten sich die Mahlkiefer und fingen die Vogelmiere ein. Liebevoll lächelte Calvin auf die Schildkröte hinab. Dann legte er die restlichen Stängel auf den Boden vor das Panzertier und setzte sich wieder auf die Couch.

Lange saß er einfach nur da, ohne Musik in den Ohren, ohne sich mit Donatello zu unterhalten. Er betrachtete die Schildkröte, deren Bauchpanzer leise über den Parkettboden schabte. Dann fasste er einen Entschluss.

Doch es sollte ihm schwerer fallen als gedacht, diesen Entschluss auch in die Tat umzusetzen. Er brauchte vier Anläufe, die Nummer am nächsten Tag nicht nur aus dem Internet in sein Handy zu tippen, sondern sie auch zu wählen und dann brauchte es drei weitere Anläufe, bis Calvin es durchhielt, abzuwarten und nicht voreilig wieder aufzulegen.

Am anderen Ende meldete sich eine weibliche Stimme, die Calvin noch nie gehört hatte. » Larkin Candys and Sweets , Sie sprechen mit Kelly. Wie kann ich Ihnen den Tag versüßen?«

Er stutzte. »Kelly. Hi. Ähm, Entschuldigung. Hier spricht Calvin Brewster. Ist es vielleicht möglich, mit Evelyn, Charles oder Leo zu sprechen?«

»Na klar, einen Moment.« Das Telefon wurde mit einer Hand abgedeckt, doch den Ruf hörte Calvin trotzdem. »Evelyn, Telefon für dich!« Kurz darauf raschelte es erneut.

»Hier spricht Evelyn Larkin. Wer verlangt nach mir?« Man hörte das Lächeln in ihrer Stimme deutlich heraus.

»Hi, Evelyn. Hier spricht Calvin Brewster. Erinnern Sie sich an mich? Ich bin ein neuer Stammkunde.« Calvins Finger waren feuchtkalt. Er legte seine freie Hand um das Teeglas vor sich auf dem Tisch.

»Natürlich! Was kann ich denn für Sie tun?«

Nur einen Moment hielt Calvin die Luft an. »Sie ... Sie machen doch gleich den Laden zu, oder?«

»Ja.«

»Gut.« Calvin beschloss, alles, was an diesem Tag noch passieren sollte, nun in Evelyns Hände zu geben. Oder in die des Schicksals? Daran glaubte er eigentlich nicht. »Würden Sie Leo bitte von mir ausrichten, dass ich heute noch bis 22 Uhr in der Fuzzy Lounge bin und Tee trinke?«

Es raschelte am anderen Ende der Leitung, als Evelyn nach Stift und Papier kramte. »Fuzzy Lounge, 22 Uhr. Habe ich. Sonst noch etwas?«

Calvin dachte kurz nach. Er kannte keine zweite Location in der Stadt mit diesem Namen, also ... »Nein, das wäre alles. Danke. Ich wünsche Ihnen einen erholsamen Feierabend, Evelyn.«

»Ich richte es Leo aus. Bis dann, Calvin.« Sie hängte auf und sah dann auf den Zettel. Runzelte die Stirn. »Kelly, ich bin kurz unten!«, rief sie dann in den Verkaufsraum.

»Okay!«, kam es zurück und schon war Evelyn auf dem Weg in den Keller. Als sie die Tür öffnete, kam ihr das vertraute Geräusch entgegen, das die Hohlformen machten, wenn man sie auf einen Edelstahltisch klopfte, um die Luft aus der Schokolade und die braune Masse in jede Vertiefung zu bekommen.

»Leo?« Ihr Sohn zuckte zusammen, saß mit dem Rücken zu ihr und sah sie nun grummelnd an.

»Mum, wirklich. Du bringst mich noch mal ins Grab.« Sie winkte nur ab und hielt ihm den Zettel hin. Er nahm seine Arbeit an der Hasenform wieder auf. »Was ist das?«

»Eine Nachricht von Calvin.«

»Eine Nach... Was?« Mit einem Mal war die entspannte Haltung verflogen. Aufrecht saß Leo vor ihr. Er klopfte den Hasen noch zweimal auf den Tisch, drehte sich dann um und verfrachtete die Figur in den Kühlschrank, bevor er sich vom Stuhl erhob und nach dem Zettel griff, nachdem er die Handschuhe ausgezogen hatte.

»Wer ist Calvin?«, fragte Charles, der an dem anderen Tisch genau die gleiche Arbeit vollführte wie sein Sohn. Nur hatte er keinen Hasen vor sich, sondern ein Osterlamm.

»Das ist der nette junge Mann, der dich auf dein Wohlstandsbäuchlein hingewiesen hat, mein Lieber«, flötete Evelyn amüsiert.

Charles sah seine Frau an. »Hm«, machte er dann nur. Charles war nur selten ein Mann vieler Worte.

»Ich wusste gar nicht, dass ihr euch trefft«, sagte Evelyn jetzt zu ihrem Sohn, der auf den Zettel starrte.

»Was genau hat er denn gesagt?«, fragte Leo.

Evelyn hob eine Schulter. »Er sagte, er wäre bis 22 Uhr dort und würde Tee trinken. Wirst du da schlau draus?«

Leo hob den Blick und sah seine Mutter an. »Ja. Absolut.« Während er sprach begann er, sich die Schürze abzunehmen. »Würdest du für mich aufräumen?«, fragte er aufgeregt und Evelyn blinzelte.

»Ja. Natürlich. Aber du bist doch noch gar nicht ...«

»Ich mache morgen weiter. Danke Mum.« Er küsste sie auf die Wange und war im nächsten Moment die Treppe hoch, nicht ohne vorher sein Basecap an den dafür vorgesehen Haken zu hängen. Kopfschüttelnd sah sie ihm nach.

»Was war das denn jetzt?«, fragte Charles, während Evelyn den Platz einnahm, den eben noch Leo belegt hatte. Aus einer Spenderbox griff sie sich ein paar Handschuhe und zog sie über, griff nach einer Form.

»Ich kann mich täuschen, Schatz. Aber ich würde sagen, unser Sohn hat sich Hals über Kopf verliebt.«

Charles sah sie lange an. »Ach«, sagte er dann und sie nickte lächelnd.

»Ganz genau.«

Leo stürzte die Treppe hinauf und aus dem Haus. Calvin wollte sich mit ihm treffen. Eine Chance, die er auf keinen Fall verstreichen lassen wollte. Zuhause zog er sich ein frisches Shirt über, griff nach seiner Jacke und suchte aus dem Handy die Adresse der Lounge heraus. Das Navi leitete ihn sicher durch die Straßen und um kurz nach halb sechs betrat er das Etablissement. Gedämpftes Licht, Sitznischen mit hohen Lehnen, eine lange Bar und leise Jazzmusik. Ein moderner und hipper Laden, wie man so schön sagte. Suchend sah Leo sich um. Hier irgendwo musste er sein. Der junge Mann mit den verboten schönen Augen.

Calvin sah auf, als erneut die Tür aufging und jemand die Bar betrat. Nur wurde er diesmal nicht enttäuscht. Mit einem Mal wurde ihm noch übler. Mehrmals schluckte er, bevor er sich halb von der Sitzbank erhob. Er hatte extra einen Tisch nah an der Tür gewählt, aber nicht zu nah.

»Leo!«, rief er und dann richtete sich der vollmilchfarbene, warme Blick auf ihn.

Sein Herz setzte einen Schlag lang aus. Eine innere Stille, in der Calvin nur ›Verdammt!‹ denken konnte.

Langsam trat Leo auf den Tisch zu, zog sich im Gehen die Jacke aus und legte sie neben sich, nachdem er sich Calvin gegenüber gesetzt hatte. »Ich hätte nicht gedacht, dass du tatsächlich hier bist«, gestand er leise. Calvins Augen wirkten dunkler hier drinnen, das Grün war prominenter im Halbdunkel.

Konnten sich Knie auch im Sitzen weich anfühlen? Calvin kam es so vor. Er hatte den zweiten Tee vor sich, das Glas war bereits halb leer, aber noch warm. Er hielt sich daran fest, während Leo ihn wie selbstverständlich duzte.

»Wenn ich ehrlich bin, wusste ich auch nicht, ob ich durchhalte.« Ihre Blicke begegneten sich über den Tisch hinweg.

Leo öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch ein Kellner trat an ihren Tisch, fragte nach Leos Bestellung. Der wählte einen grünen Tee.

Lächelnd senkte Calvin den Blick auf seine Teetasse. Dann schloss er für einen langen Moment die Augen. »Du magst grünen Tee?«, fragte er schließlich leise.

»Grünen Tee. Schwarzen. Früchtetees. Kaffee. Heiße Schokolade.« Leo lächelte. »Ich mag eine Menge Dinge.« Vor allem in diese Augen zu blicken, schoss es ihm durch den Kopf. Im nächsten Moment hätte er sich selbst in den Arsch treten können. Es passierte schon wieder. Sein Gehirn schaltete in irgendeine Art Sparmodus.

Calvin hob langsam den Blick. »Aber du hast grünen Tee bestellt.« Ohne hinzusehen schob Cal seine Teetasse samt Untertasse über den Tisch und drehte das Geschirr dabei leicht, sodass Leo den benutzten Teebeutel auf der Untertasse sehen konnte.

Perplex sah dieser darauf. »Ein Zufall?«

Calvin zog die Teetasse wieder zu sich. »Was sonst?«

»Was meinst du?«

»Was sollte es deiner Meinung nach sonst sein?« Calvin schob seine Hände um das schmale Glas.

»Nichts. Einfach nur ein Zufall.«

Cal nickte. Der Kellner brachte Leos Tee, den er dankend entgegennahm. Calvin beobachtete ihn dabei. Nahm all die Kleinigkeiten in Leos Gesicht wahr, die er sich mit jedem geposteten Foto, mit jeder Begegnung eingeprägt hatte. Der Leberfleck über der linken Augenbraue, der Schwung der Augenbrauen. Im Baumarkt hatte ein Bartschatten auf Leos Gesicht gelegen, der heute verschwunden war. Die Ohren mit den kleinen Ohrläppchen, das runde Kinn, die hohe Stirn, das störrische, kurze Haar, dessen Farbe irgendwo zwischen Stroh und trockenem Laub lag. Und die braunen Augen, die hier im schummrigen Licht noch dunkler wirkten. Immer wieder diese Augen, die Calvin mit einem so intensiven Blick bedachten, dass dieser einfach nicht den Blick abwenden konnte. Auch jetzt nicht.

 

Leo drückte den Teebeutel aus und legte ihn dann zur Seite. »Ich habe ehrlich gesagt nicht damit gerechnet, noch einmal von dir zu hören.«

»Hm. Entschuldige das Verhalten meines Vaters. Er hat etwas überreagiert.«

»Dafür musst du dich nicht entschuldigen«, sagte Leo lächelnd. Leicht legte er die Unterarme auf den Tisch. »Also gut. Was machst du beruflich?«

»Ich arbeite in einem Penmarket. An der Grand Street.« Leos Lächeln zog an Calvins Herzen wie das seiner Mutter. Er wusste nichts von diesem Mann und doch berührte er ihn auf eine Weise, wie es nur wenige Menschen in seinem Umfeld schafften. Insgeheim wusste Calvin, dass sein Vater Recht gehabt hatte. Leo hatte mit ihm geflirtet. Doch in einem hatte er auch Unrecht gehabt: Calvin mochte nichts gegen diese Flirtversuche unternommen haben, mochte sich geschmeichelt gefühlt haben, aber sich darauf einzulassen fiel ihm aus verschiedenen Gründen schwer. Sein Vater glaubte, er könnte so unbeschwert sein, so offen und so frei, doch das konnte Cal nicht.

Und dennoch saß er hier.

»Ich bin meistens in der Elektronik- oder in der TroSo-Abteilung. Das steht für Trockensortiment. Alles, was nicht gekühlt wird und nicht zur Drogerie gehört. Tee, Kaffee, Backwaren, Nährmittel und so weiter. Manchmal arbeite ich auch in der Outdoor-Abteilung. Das ist unterschiedlich. Je nachdem, wo ich gebraucht werde.«

»Klingt nach einem interessanten Arbeitsfeld mit viel Abwechslung.«

»Eigentlich nicht. Ich packe Waren aus und helfe verwirrten Kunden, egal, wo ich bin.«

Leo lachte. »Und ich sitze die meiste Zeit in einem Keller und rühre in Schokolade herum. Also, wer hat wohl mehr Abwechslung?«

»Na gut, so gesehen wohl ich.« Lächelnd hob Cal den Blick. »Wie alt bist du?«

»39. Und du?« Leo führte die Tasse an die Lippen und nippte an dem Tee.

»34. Obwohl ich mich manchmal wie 60 fühle und manchmal wie vier.«

Leo verschluckte sich an dem Tee. »Moment, du bist 34?«

»Ja. Wieso?«

»Ich hätte dich auf maximal Ende 20 geschätzt.«

»Oh! Ähm«, Calvin runzelte die Stirn, unsicher, ob er sich geschmeichelt fühlen sollte oder beleidigt. »Nein, 34.«

»Hm. Hast du Geschwister?«

»Nein, keine. Aber deine Mum hat von weiteren Kindern erzählt. Du hast noch einen Bruder und eine Schwester?«

»So ist es. Beide sind jünger als ich.«

»Wie ist das so, Geschwister zu haben? Ich habe mir oft einen Bruder zum Spielen gewünscht.«

»Es gibt Höhen und Tiefen«, lächelte Leo. »Wenn man klein ist, ist es ganz okay. In der Pubertät ist es absolut ätzend. Aber jetzt, wo wir alle erwachsen sind, ist es so ziemlich das Beste, was man sich vorstellen kann.«

Calvin hatte langsam seinen Tee ausgetrunken, während Leo gesprochen hatte. Jetzt lächelte er. »Ich beneide jeden, der Geschwister hat. Meine Eltern haben sich getrennt, als ich 19 war. Da war es dann endgültig vorbei mit dem Traum vom Geschwisterchen.«

»Das tut mir leid«, sagte Leo leise.

»Dafür gibt es keinen Grund. Sie waren unglücklich und haben es geschafft, sich einvernehmlich zu trennen. Und statt einer Schwester habe ich eine Freundin, die mehr und mehr zu so etwas wie einer kleinen Schwester wird und ich habe einen Kumpel, der mehr und mehr ein Bruder wird.« Calvin lächelte bei dem Gedanken an Lucy und Twin.

»Das finde ich bewundernswert. Sich zu trennen und trotzdem noch genug Respekt und Zuneigung für den anderen zu haben. Haben deine Eltern noch Kontakt?«

»Schon, ja. Sie haben sich immer getroffen, wenn es etwas zu besprechen gab, was mich anging und telefonieren auch heute noch hin und wieder, gratulieren sich zum Geburtstag, so etwas. Ich weiß nicht, vielleicht hätten sie das hinbekommen können, wenn sie es versucht hätten, aber ... Die beiden sagen, es war besser so, also ...«, Calvin hob die Schultern.

»Ja. Manchmal ist es besser so«, sagte Leo und sah in seine Tasse. Ein Schatten huschte über sein Gesicht.

Calvin bemerkte ihn durchaus, aber er nahm sich vor, nicht danach zu fragen. Stattdessen suchte er nach einem neuen Thema. »Und du hast ein Haus in der Vorstadt, das du umbaust?«

Schon war das warme Lächeln zurück. »Ja. Ich hatte eine Tante, die mir eine Kleinigkeit vererbt hat und es war der passende Zeitpunkt. Das Haus stand leer und war bezahlbar. Also hab ich zugeschlagen.«

»Wow. Klingt, als hättest du dir damit einen Traum erfüllt.«

»Ja. Habe ich. Ein Haus mit Garten. Alles nach meinen Vorstellungen herrichten. Das ist schon ein Traum, ja. Auch wenn es im Moment noch wie eine Baustelle aussieht.«

»Solange du weißt, wie es später aussehen soll, ist der Traum lebendig. Hast du Haustiere?« Calvin runzelte die Stirn. »Oder Kinder? Entschuldige, die hätten vermutlich vor den Haustieren kommen sollen.«

Leo lachte auf. »Nein. Weder noch. Was ist mit dir?«

»Keine Kinder, aber ein Haustier. Eine griechische Landschildkröte.«

»Eine Schildkröte?«

Calvin nickte. »Ungewöhnlich, ich weiß. Meine Mum hat sie mir zum 18. Geburtstag geschenkt. Ich habe mir immer eine gewünscht, seit ich sechs war und meine Liebe zu Dinosauriern entdeckt habe.«

»Und da wolltest du eine Schildkröte? Keinen T-Rex?« Leo lächelte. »Werden Schildkröten nicht unheimlich alt?«

»Ich fand die Pflanzenfresser immer interessanter. Und na ja, wenn sich Donatello gut macht, haben meine Enkel noch was von ihm. So um die 100 Jahre kann er werden.« Der Kellner trat an ihren Tisch und erkundigte sich nach einem weiteren Wunsch. Cal bestellte seinen dritten Tee, bevor er sich wieder an Leo wandte.

»100 Jahre. Wow. Das ist eine andere Größenordnung als ein Hund.«

»Oh ja. Aber er gehört genauso zur Familie, frisst weniger und man muss nicht dreimal am Tag mit ihm Gassi.« Calvin lächelte. »Du bist der Hundetyp?«

»Nein. Überhaupt nicht. Also, vermutlich schon. Aber ich habe keine Zeit für ein Haustier. Die meiste Zeit verbringe ich im Laden. Es ist zwar sehr schön, in einem Familienbetrieb zu arbeiten, aber so was wie feste Arbeitszeiten gibt es bei uns nicht.«

»Hm. Jeden Tag die Hände in Schokolade ... Wenn du mich fragst, klingt das trotzdem nach einem Traumjob.« Calvin dankte dem Kellner für seinen neuen Tee. »Magst du Schokolade überhaupt noch?« Er griff nach dem Teebeutelfaden und wickelte ihn sich zweimal um den Zeigefinger, begann dann, den Beutel langsam in das Wasser zu tunken.

»Natürlich. Auch wenn ich sie kaum noch esse. Ich kann das Zeug nicht mal mehr riechen.«

»Gott, dieser Schokoladenduft bei euch da unten!« Cal hielt einen Moment in seinen Bewegungen inne, schloss die Augen und atmete tief ein, als ob er die Schokolade in diesem Moment riechen konnte. Tatsächlich stieg ihm ein Hauch davon in die Nase. Leise lachend öffnete er die Augen wieder.

Es war ein warmes Lächeln, mit dem Leo Calvin bedachte. »Du musst mal vorbeikommen, wenn wir zu Weihnachten unsere Bonbons machen. Orange, Zimt, Minze, Zitrone, Erdbeere und Himbeere. Das rieche sogar ich noch.«

»Bis Weihnachten ist es noch lange hin. Hey, bist du direkt von der Arbeit hierher gefahren?« Cal rettete den Teebeutel aus dem Wasser und legte ihn auf die Untertasse.

»Ja. Ich habe alles stehen und liegen lassen.«

Überrascht sah Calvin auf. Er hatte die Frage zwar gestellt und auch mit solch einer Antwort gerechnet, aber sie so offen von Leo zu hören, überrumpelte ihn dann doch. »Das ... Das hättest du nicht tun müssen.«

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