Liebe schmeckt wie Schokolade

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Kapitel 3

Das Geräusch von Schokolade, die aus der Temperiermaschine floss, ließ sich nur schwer mit etwas vergleichen. Samtig. Leise. Irgendwie gesetzt. Mit geübten Bewegungen schob Leo den Verschluss wieder auf den Auslass. Das volle Aroma von Schokolade erfüllte den Raum. Das war eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen er diesen Geruch überhaupt noch wahrnahm. Nach so vielen Jahren war er geruchsblind geworden für Zucker und Schokolade und all die Süßigkeiten, die sie hier im Keller produzierten.

»Guck mal hoch!«, rief ihm Elena zu. Stirnrunzelnd sah er auf und im nächsten Moment erklang der Verschlusston ihrer Handykamera. »Perfekt! Was haben wir ein Glück, dass du so ein hübsches Gesicht hast, Bruderherz.«

»Als nächstes fängst du noch an, ihn auf dem Klo zu fotografieren«, kam die Stimme ihres Vaters aus dem Hinterzimmer, in dem er die alten Muldenplatten in Maisstärke presste. Der Mann mit dem weißen Haar zog die Tür hinter sich zu, als er den Raum verließ.

»Ach Pop, erzähl keinen Blödsinn. Auf dem Klo will ihn niemand sehen.« Elenas Finger flogen über das Display ihres Handys. »Vielleicht in der Dusche.« Fragend hob sie den Blick und Leo winkte sofort ab.

»Vergiss es, du Satansbraten. Keine Chance.«

Sie rümpfte die Nase. »Aber das würde uns sicherlich eine Menge neue Likes einbringen.«

»Nein«, beschloss Leo endgültig und das Familienoberhaupt lachte.

»Reib ihn mit Schokolade ein.«

»Du hast sie ja nicht mehr alle!«, rief Leo aus.

»Das ist eine großartige Idee, Pop!«

»Nein, Elena, ist es nicht. Und jetzt geh da weg.« Er schob sich an ihr vorbei. Es war eng hier unten im Keller. Ohne das strenge Ordnungssystem, welches sein Vater hier eingerichtet hatte, würde nichts funktionieren. »Können wir uns vielleicht auf die Arbeit konzentrieren anstatt darüber zu fachsimpeln, ob ich besser mit Zartbitter oder Vollmilch harmoniere?«

Elena lachte. »Zartbitter. Ganz ohne Frage. Oder Pop?«

Der kratzte sich unter der Mütze. »Da bin ich überfragt.«

»Ihr werdet mich nicht in Schokolade tunken!«

»Niemand redet von tunken, Leo. Einreiben!« Erschrocken fuhr Elena zusammen. »Um Himmels Willen, wir könnten einen Kalender herausbringen! Mit dir. Mit Patty. Die findet doch auch so hohen Anklang bei unseren Followern! Und Pop und Mum auch.«

Leo verzog das Gesicht. »Willst du uns alle in Schokolade tunken?«

»Einreiben! Hörst du mir eigentlich zu?«

Leo schüttelte den Kopf. »Wenn du solchen Mist erzählst, dann in der Regel nicht, nein.«

Sie schnaubte. »Ach ja? Ich erzähle Mist? Wie kommt es dann, dass auf dein Bild schon wieder 17 Likes sind? Die Leute mögen uns! Ist das nicht toll?«

Charles, der nun schon sein ganzes Leben hier arbeitete, konnte nur nicken. »Ja. Toll. Und es war auch eine gute Idee von euch. Sonst würden wir heute vielleicht nicht mehr hier stehen.«

Elena seufzte. »Das wäre eine Schande. Aber Marketing ist alles. Seht ihr ja selbst.«

»Hast du deine Mutter eigentlich gefragt, was wir noch machen müssen?«, fragte Charles seine Tochter, die sich jetzt auf einen Hocker schob und wieder auf das Handy eintippte.

»Sie sagt, sie macht eine Liste. Es kommen immer noch Vorbestellungen für den Valentinstag rein.«

Leo seufzte und griff nach einer Form für die herzförmige Pralinenschachtel ganz aus Schokolade, die er nun mit der wohl temperierten Schokolade auszufüllen begann. Er war froh über den Erfolg des Geschäftes, darüber, dass das Internet ihnen sprichwörtlich das Leben gerettet hatte. Und doch, die anfängliche Freude, die er noch vor ein paar Wochen empfunden hatte, wollte sich nicht wieder einstellen.

Die Trennung von Caleb hing nach wie vor wie ein dunkler Schatten über ihm. Und das, obwohl er das nicht wollte. Caleb hatte ihm das Schlimmste angetan, was man einem anderen Menschen wohl antun konnte. Doch noch schlimmer als der Betrug war für ihn selbst der Umstand, dass er nichts davon bemerkt hatte. War er so unaufmerksam gewesen? So gleichgültig Caleb gegenüber? Hätte er nicht etwas merken müssen? Er wurde diese Gedanken nicht los.

Dabei sollte er alles dafür tun, diesen Mann aus seinen Gedanken zu verbannen. Betrug war für Leo etwas, das unverzeihlich war. Vermutlich lag es an der so lange andauernden Beziehung seiner Eltern. Seine Mutter war 17 gewesen, sein Vater 19, als sie sich kennengelernt hatten. Liebe auf den ersten Blick. Wie oft hatte er diese Geschichte gehört? Und wie oft hatte er sie darum beneidet? Diesen einen Menschen zu sehen und zu wissen, dass es der Richtige ist. Für den Rest des Lebens. Ein Jahr später hatten sie geheiratet. Und kurz darauf war Leo auf die Welt gekommen. Keine Zweifel, und die beiden waren heute noch so glücklich wie am ersten Tag. Er bewunderte das zutiefst.

Früher hatte er selbst eine solche Beziehung angestrebt und mit Caleb hatte er gehofft, diesen einen Menschen gefunden zu haben. Stattdessen hatte er einen Menschen gefunden, der ihm das Herz herausriss, es auf den Boden warf, darauf herumtrampelte und sich dann noch beschwerte, wenn Blut an seinen Schuhen zurückblieb. Mit einer geübten Handbewegung kippte er die Form und ließ die überflüssige Schokolade herauslaufen.

Tief seufzte er. Und spürte kurz darauf die Hand seines Vaters auf seiner Schulter. Leo hob den Blick und sah hinauf in braune Augen. Es war ein aufmunterndes Lächeln, das ihm der ältere Mann zuwarf. Keine großen Worte. Nur dieser Blick, von dem Leo genau wusste, was er ausdrückte. Er mühte sich, dieses Lächeln zu erwidern und drehte sich dann zum Kühlschrank um, stellte die Form hinein. Leise fiel die Tür wieder zu.

***

Tief hingen die Wolken am Himmel, dick und schwer drängte sie der Wind über Three Points hinweg. Derselbe Wind fing sich die letzten braunen Blätter des vergangenen Jahres, um unter den spärlich leuchtenden Straßenlaternen mit ihnen zu spielen. Die Straßen glänzten silber und die Hochhäuser der Innenstadt spiegelten sich in den Regenwasserseen, als gäbe es darin Three Points noch einmal - eine Vorstellung, die Calvin lächeln ließ.

Vielleicht wäre dieses Three Points in den Pfützen ein schöneres, ein friedlicheres, eine Art immer lächelndes Abbild seiner Welt. Eine Stadt, in der Taxifahrer die Autofahrer vor ihnen grüßten statt sie anzuhupen. In der Radfahrer immer Licht an ihren Fahrrädern hatten. In der Banken nur das Beste für ihre Kunden wollten und kein Kind Hunger leiden musste. Es gäbe keine Gewalt, Polizeireviere wären überflüssig, Feuerwehrmänner würden Katzen von Bäumen retten und die Sonne würde immer scheinen.

Ein Wasserschwall, der gegen die Fensterscheibe gepeitscht wurde, ließ Calvin zusammenzucken und sein paralleles Three Points verschwand. Stattdessen sah er sich selbst gedankenverloren und wehmütig lächelnd entgegen. Der Bus mit all den Menschen darin, mit den Geräuschen der Hydraulik, dem Husten und Schniefen, dem Schnarchen und dem Geruch nach vielen Fahrgästen, Abgasen und der muffigen Inneneinrichtung wurde seine Realität.

Oft fand er es faszinierend, wie ein wenig Wasser das Denken und Fühlen beeinträchtigen konnte. Regen machte ihn immer melancholisch. Die Sehnsucht nach dem versöhnlichen Three Points seiner Vorstellungskraft wurde beinahe übermäßig groß, als er die letzten Stufen zur Wohnung emporstieg und den Schlüssel ins Schloss schob. Schon im Hausflur drang laute Musik an seine Ohren. Musik, die im Grunde nur eines bedeuten konnte. Calvin trat in die Wohnung und die Stimmen, das Gelächter und die Jacken an der Garderobe bestätigten nur, was er schon wusste. Innerlich seufzend setzte er ein Lächeln auf, das er während seiner Arbeit im Laden perfektioniert hatte, und trat ins Wohnzimmer.

»Hey«, sagte er über die laute Musik hinweg.

Fünf Augenpaare richteten sich auf ihn. Es roch nach Bier und Zigarren. »Oh, hey«, antwortete die Stimme, die ihm am bekanntesten war. Einer der anderen Männer schob Spielchips in die Tischmitte.

»Ihr spielt Poker?«, bemühte sich Calvin um einen freundlichen Ton in seiner Stimme, während er auf Paul zutrat und ihn kurz küsste.

»Klar, ich habe mir die Jungs mal wieder eingeladen.« So selbstsicher, wie Paul an ihrem Esstisch saß, begegneten Cal auch seine Worte. Er hatte die Finger locker um eine Bierflasche geschlossen, die zwei Karten lagen verdeckt vor ihm auf dem Tisch.

»Mal wieder«, rutschte es Calvin heraus. Pauls Haltung veränderte sich nur dadurch, dass seine Schultern ein Stück nach hinten drängten. Der graue Blick, der auf Cal lag, blieb unverändert fest.

»Paul, du bist dran«, unterbrach sie eine dunkle Stimme, die durch Lippen nuschelte, die eine Zigarre hielten. »Bist du noch dabei?«

Calvins Finger schlossen sich fester um die Stuhllehne. Er richtete seinen Blick auf Pauls besten Freund. »Wir unterhalten uns gerade, Rick.«

»Das sehe ich«, grinste der, »aber das hält Paul sonst auch nicht davon ab, weiterzuspielen.«

Calvin spürte, wie seine Nasenflügel bebten, als er tief einatmete und sich wieder an seinen Freund wandte. »Und gewinnst du wieder?«

Paul hob eine Augenbraue, rührte sich sonst aber nicht. »Habe ich jemals verloren?«

Calvin schüttelte leicht den Kopf, fragte sich, ob sie noch immer übers Pokern sprachen. Dann nahm er aus dem Augenwinkel etwas wahr, was ihn seine Aufmerksamkeit darauf richten ließ. Frische Asche fiel von einer Zigarre auf den Tischläufer, den er mit Lucy in einem Second-Hand-Laden gefunden hatte und dessen sanftes Muster auf dem cremefarbenen Untergrund so perfekt zu der Tapete passte.

»José!«, rief er wütend. »Du Idiot!« Er griff an den Läufer und zog ihn den Männern unter den Pokerchips und Karten weg. Sofort wurde Protest laut. Protest, den er nicht hörte, der sich um Karten und Chips drehte. »Ich habe euch doch schon tausendmal gesagt, dass ihr den Läufer wegnehmen sollt, wenn ihr pokert! Da, da ist auch ein Bierring, na toll!« Calvin hob seufzend den Blick von dem hellen Stoff und sein zorniger Blick traf Pauls. »Sag mir das nächste Mal Bescheid, dann kann ich alles wegräumen, was mir lieb und teuer ist, bevor deine dämlichen Freunde alles ruinieren!«

 

Die Esszimmertür knallte lautstark ins Schloss und es war Calvin in diesem Moment egal, welche Konsequenzen sein Verhalten später haben würde. Brennende Tränen stiegen ihm in die Augen, als er die Badezimmertür hinter sich schloss und sich daranmachte, den Tischläufer auszuwaschen.

Er hatte sich auf einen ruhigen Abend gefreut! Darauf, vielleicht etwas zu lesen, einen Film zu schauen. Wenn nicht mit Paul, dann eben allein. Die Füße hochzulegen, die ihm nach seiner 8-Stunden-Schicht im Laden heute besonders weh taten. Sich in eine Decke zu kuscheln, einen Tee zu trinken. Mit einer Pokerrunde hatte er jedenfalls nicht gerechnet - wie auch? Paul entschied so etwas gern viel zu spontan für seinen Geschmack und vor allem, ohne es mit ihm abzusprechen.

Die Männer lachten längst wieder, als Calvin in die Küche trat und die Kühlschranktür aufzog. Bier wohin das Auge reichte, dazwischen eine Flasche Wodka. Cal ahnte, wer die mitgebracht hatte. Angefressen schüttelte er den Kopf, griff nach einer Wasserflasche und schloss den Kühlschrank wieder. Es knackte, als sich Plastik von Plastik löste. Calvin trank in kleinen Schlucken, vor allem, um sich zu beruhigen. Wenn er morgen noch ein weiteres Brandmal auf dem Esstisch fand, würde er wahnsinnig werden!

Die Küchenuhr tickte leise und erinnerte ihn daran, dass er wieder einmal wertvolle Lebenszeit mit Grübeln verschwendete. Calvin löste sich von der Arbeitsplatte, an die er sich gelehnt hatte, und ging erst ins Bad und schließlich ins Schlafzimmer, um seinen ursprünglichen Feierabendplan zu verfolgen. Lesen in ihrem Bett ging auch gut ohne Paul.

Es dauerte nicht lange, bis ihm die Augen zufielen, doch aus seinem leichten Schlaf sollte er rüde wieder geweckt werden, als Paul ins Zimmer stolperte und sich keine Mühe machte, Rücksicht auf Cal zu nehmen. Mit klopfendem Herzen sah er auf, das Buch noch neben sich auf dem Laken. Im Halbdunkel der kleinen Leselampe begegnete ihm Pauls Blick. Sein Freund versuchte gerade, sich von seiner Kleidung zu befreien.

»Du bist betrunken«, konstatierte Cal und erntete dafür ein Schnauben.

»Na und? Kann dir doch egal sein, was ich mit meinen dämlichen Freunden mache.«

»Paul ...« Es raschelte leise, als sich Calvin aufsetzte und auf das Bettende zu robbte, vor dem Paul noch immer stand und an seinen Hemdknöpfen herumfummelte. »So habe ich das doch nicht gemeint. Ich war nur sauer und ...«

Der Schlag kam aus dem Nichts. Pauls Handrücken traf Calvin hart an der Wange, schleuderte seinen Kopf zur Seite. Mit geschlossenen Augen öffnete er den Mund. Seine Lippen formten ein stummes Au, denn ein brennender Schmerz breitete sich auf seiner Wange aus, trieb ihm Tränen in die Augen. Doch die Genugtuung wollte er Paul nicht zugestehen, also verdrängte Calvin die Feuchtigkeit in seinen Augen und wandte seinen Blick wieder seinem Freund zu.

Wortlos sahen sie sich in die Augen. Dann rutschte Cal zurück, löschte das Licht und zog sich die Decke bis zur Nase, nachdem er seinen Kopf auf dem Kissen gebettet hatte. Er drehte sich zum Fenster, zog die Knie an den Körper und sah durch die Fensterscheiben nach draußen. Die dunklen Wolken zogen träge am Himmel dahin. Er erkannte es an den helleren Wolkenlöchern, die sich wie Schatten am Firmament bewegten. Schwere Regentropfen landeten am Glas und rannen nach unten. Calvin schloss die Augen, ignorierte das Rascheln hinter sich, das ihm bedeutete, dass auch Paul sich schlafen gelegt hatte.

Als er das nächste Mal die Augen öffnete, drang das Licht eines neuen, bewölkten Frühlingsmorgens durch die Fenster zu ihm. Er hatte heute Spätschicht, könnte also noch liegen bleiben, doch ... Leise drehte er sich um und stellte fest, dass die Betthälfte neben ihm leer war. Er schob sich aus dem Bett und hörte leise Geräusche aus der Küche, denen er folgte. Paul sah von einer Pfanne auf, aus der es verführerisch nach Rührei duftete.

»Morgen«, begrüßte Calvin ihn und Paul lächelte.

»Ich habe dir Frühstück gemacht.« Er trat auf Calvin zu und küsste ihn sanft auf die Lippen. Seine schmeckten nach Schlaf und Restalkohol. Dann fiel Pauls Blick auf Calvins Wange. »Oh, gut. Es ist kaum zu sehen.« Leise seufzte er. »Tut mir leid, Calvin. Ich wollte das nicht.«

»Ist schon gut.« Cal glaubte seinen eigenen Worten nicht, doch es war das Einzige, was er sagen konnte. »Ich mache mich kurz fertig, dann können wir essen.«

»In Ordnung.«

Im Spiegel betrachtete sich Calvin schließlich seine Wange. Seinem langsamen Bartwuchs hatte er einen leichten und in seiner Situation oft hilfreichen Bartschatten zu verdanken, der aber nicht so ungepflegt aussah, dass er sich heute rasieren musste. Dafür konnte er dankbar sein. Und Paul hatte Recht, bis auf eine kleine Rötung und den Hauch eines blauen Flecks war von dem Schlag nichts zu sehen. Er wich von dem Spiegel zurück, sah sich selbst in die grau-grünen Augen. Dann öffnete er den Spiegelschrank, griff nach dem Make-Up und begann mit zusammengebissenen Zähnen, die Spuren des letzten Abends zu beseitigen. Als er sich an den Frühstückstisch setzte und Paul Gesellschaft leistete, war von dem Schlag nichts mehr zu sehen.

»Du hast heute frei, oder?«, fragte Paul nach einer Weile in die Stille.

»Nein, Spätschicht. Aber ich fahre vor der Arbeit zu meinem Dad und schau mal nach Donatello.«

»Denkst du, er ist schon wach?« Pauls Messer kratzte Butter auf den goldbraunen Toast. Ein Geräusch, das Calvin Gänsehaut bereitete.

»Ich weiß es nicht. Deswegen muss ich ja gucken fahren.« Calvin trank einen Schluck grünen Tee. Selbst den hatte ihm der reumütige Paul gekocht.

»Wäre schön, ihn wieder hier zu haben.«

»Ja.« Calvins Stimme klang sehnsüchtig. »Ich vermisse ihn. Was ist mit dir? Was hast du heute vor?« Paul war KFZ-Mechaniker und arbeitete in einer großen Werkstatt. An Samstagen musste er nie arbeiten.

»Ich räume erst einmal das Wohnzimmer auf und dann werde ich vielleicht zu Steve fahren.«

»Hm«, machte Calvin nur leise mit Rührei im Mund.

»Wir schrauben vielleicht etwas an dem alten Mercedes rum«, fuhr Paul fort und biss dann geräuschvoll von seinem Toast ab.

»Dabei wünsche ich euch viel Spaß.« Calvin erhob sich und nippte noch einmal am Tee, bevor er die Tasse abstellte. Ein überraschter Blick traf ihn, den er ignorierte. »Ich werde dann mal los.«

»Aber, bis auf zwei Bissen Rührei hast du noch gar nichts gegessen.«

»Ich habe keinen Hunger.« Es kostete Überwindung, sich zu Paul zu beugen und ihn auf die Wange zu küssen. »Danke trotzdem fürs Kochen. Bis heute Abend.«

»Hm.« Paul zog ihn an dem weichen Pullover, den er sich übergezogen hatte, zu sich, um ihn richtig zu küssen. »Bis heute Abend.«

Calvin nickte lächelnd. Ein Lächeln, von dem er nicht sicher war, ob es echt oder unecht war. Es fühlte sich an wie ein bisschen von beidem. Seine Schritte wogen schwer, als er die Küche und wenig später auch die Wohnung verließ, doch mit jedem Schritt, den er auf die Bushaltestelle zu machte, wurden sie leichter. Der Bus war überheizt und obwohl er nicht einmal voll besetzt war, war die Luft zum Schneiden dick. Als Calvin wieder ausstieg und die letzten Meter bis zu seinem Elternhaus lief, war von dem Gewicht, das auf ihm gelastet hatte, kaum noch etwas zu spüren. Der Vorgarten des kleinen Häuschens erwachte mehr und mehr zum Leben. Es war ein strenger Winter gewesen, der jetzt von wärmeren Temperaturen und hellerem Tageslicht verdrängt wurde. Es war gerade zwei Wochen her, dass er zuletzt hier in der Vorstadt gewesen war.

»Womit habe ich diesen frühen Besuch denn verdient?«, dröhnte die Stimme seines Vaters ihm entgegen.

Lachend trat Calvin auf die Haustür zu, in der sein Vater stand, ignorierte dabei den Schmerz, den das Lachen auslöste. »Hi Dad.«

Eine große Hand schlug ihm liebevoll auf die Schulter und wie so oft hielt Calvin einen Moment ängstlich die Luft an. Doch wie sonst auch wirkte seine Maskerade. »Hallo, Junge. Also?«

»Was denkst du nur von mir? Ich wollte dich besuchen«, beteuerte Calvin, während er in den Flur trat und seine Weste in den Garderobenschrank bugsierte. Den bohrenden, blauen Blick seines Vaters spürte er deutlich in seinem Nacken. »Na schön«, seufzte er also, »ich wollte nach Donatello sehen.«

»So ist das! Von wegen deinen alten Herrn besuchen!«

»Dad», lachte Calvin. »Du weißt, dass es immer beides ist.«

»Ja ja, schon gut. Deinem gepanzerten Freund geht es gut. Ich habe gestern erst nach ihm gesehen.«

Calvin war seinem Vater in die kleine Küche gefolgt, in der es angenehm warm war und nach Kaffee duftete. »Ist er schon wach?«

»Wach ist bei dem Tier ja relativ.«

»Kommt er aus seinem Panzer? Blinzelt er?«

»Ja.«

»Dann ist er wohl wach. Schön. Dann kann ich ihn mitnehmen.« Calvin ließ sich auf einen der drei Stühle nieder, die an einem kleinen Esstisch standen.

»Zuerst trinkst du mit mir einen Kaffee.«

»Ich hätte heute lieber einen Tee.«

»Nah, darin kommst du ganz nach deiner Mutter.« Calvins Vater deutete auf einen Hängeschrank. »Such dir einen aus.«

Nickend erhob sich Calvin. Die Teeauswahl seines Vaters beschränkte sich auf fünf Sorten: Kamille, Hagebutte, Pfefferminze, Gunpowder und Jasmintee. Die beiden Grünteesorten standen nur in seinem Schrank, weil Calvin sie gern trank. Lächelnd griff Calvin nach einer der Packungen, befüllte einen Teebeutel mit den typischen, gerollten Teeblättern des Gunpowder-Tees und hängte ihn schließlich in die Tasse mit den Blumen darauf, die ihm sein Vater hinhielt.

Wenig später saßen sie an dem kleinen Holztisch, der die Kratzer und Schrammen vieler Mahlzeiten trug. »Wie geht es Paul?«

»Oh, es geht ihm gut«, antwortete Calvin so schwammig wie immer.

»Das freut mich. Ihr wart lange nicht zusammen hier. Wir könnten mal wieder einen Film zusammen sehen, was hältst du davon?«

»Ich frage Paul mal. Vielleicht zu Ostern, wenn er nicht mehr so viel zu tun hat.«

»Hm. In Ordnung. Ich würde mich freuen. Erzähl mal, wie läuft es auf der Arbeit? Ist es jetzt ruhiger nach dem Weihnachtsansturm?«

Froh über den Themenwechsel erging sich Cal in kleinen Anekdoten über seine Arbeit. Er erzählte gern von seiner Arbeit, es störte ihn nicht, weil er in der Regel gern arbeitete. So anstrengend sein Job oft war, er mochte es, hilflosen Männern den Weg zum Backmohn zu weisen oder hilflosen Frauen zu Zeltheringen. Doch er mochte auch Donatello und so bat er seinen Vater bereits nach dem ersten Tee, ihn in die Garage zu begleiten. In der großen Kiste in der Ecke, die mit Erde und Laub gefüllt war, raschelte es leise. Gleich darauf war ein Schaben zu hören, als Donatellos Panzer an einer Seite an die Wand stieß.

»Hallo Kumpel«, sagte Cal leise. Lächelnd hockte er sich neben die Kiste und sah in schwarze kleine Knopfaugen, die ihm entgegenblinzelten. »Na, ausgeschlafen? Möchtest du wieder mit nach Hause kommen?«

»Du weißt schon, dass er dir nicht antworten wird, hm? Wieso sprichst du immer mit ihm?« Sein Vater hockte sich neben ihn, doch Calvin sah nicht auf. »Ich meine, wahrscheinlich versteht er eh nichts von dem, was wir sagen.« Donatello blinzelte erneut, zog den Kopf etwas weiter zurück unter das Nackenschild, was Calvin lächeln ließ.

»Na und? Er gehört zur Familie. Stell dir mal vor, ich würde nicht mehr mit dir sprechen oder mit Mum, das wäre doch schlimm.«

»Nun, da hast du Recht«, pflichtete ihm sein Vater bei, bevor er sich erhob. »Nimmst du dir ein Taxi zurück?«

»Nein, ich muss von hier aus zur Arbeit. Donatello nehme ich mit. Er kann im Mitarbeiterraum stehen, bis ich Feierabend habe. Aber ein Taxi klingt gut. Die Kiste ist immer so schwer.«

Calvins Handy gab ein leises Plop von sich und er zog es aus seiner Hosentasche. Sein Vater sah ihm über die Schulter, als er die Benachrichtigung aufrief. Nach seinem Besuch bei Larkin Candys and Sweets hatte er die Seite geliked und verfolgte seitdem jeden Beitrag. Es war wirklich faszinierend, wie all die Köstlichkeiten hergestellt wurden. Auf dem jetzigen Foto waren zwei Hände in Handschuhen zu sehen, die mit Hilfe einer Tortenspritze Schokoladenhalbmonde füllten, die später zu runden Schokoladenbällchen verwandelt werden würden. Mit einem wehmütigen Gefühl im Magen erinnerte sich Cal an die Karamell-Schokoschaum-Pralinen zurück, die keine Woche durchgehalten hatten. Gerade heute war ihm so sehr nach Schokolade. Schnell drückte er auf das kleine Herz, das unter dem Foto zu sehen war.

 

Er trank noch einen Tee mit seinem Vater, unterhielt sich mit ihm, bis das Taxi da war, das ihn und Donatello zurück in die Innenstadt brachte. Calvin ging an die Arbeit, doch die Lust auf Schokolade blieb. Das Verrückte daran war, dass er nicht auf irgendeine Schokolade Lust hatte, die er sich leicht im Laden hätte kaufen können.

Am Dienstag nutzte er seinen freien Tag, um Larkin Candys and Sweets einen weiteren Besuch abzustatten. Die Zuckerstangen vor dem Haus waren Herzen gewichen und es dauerte tatsächlich einen Moment, bis Calvin den Zusammenhang herstellen konnte. Nicht mal mehr ein Monat bis zum Valentinstag. Er trat die knarrenden Stufen nach oben, durch die Tür und wieder kündigte die kleine Glocke sein Eintreten an. Lächelnd sah er sich um. Viel hatte sich nicht geändert, abgesehen davon, dass statt Weihnachten und Silvester nun der Valentinstag im Mittelpunkt stand.

Es kam eine Stimme aus dem Hinterzimmer des Geschäfts. »Ich komme sofort!«

»Ganz in Ruhe!«, rief Calvin in die Richtung, aus der die weibliche Stimme gekommen war. Lächelnd trat er vor eines der Regale, hob eine Pralinenschachtel in die Höhe und betrachtete sich die herzförmigen Vollmilch- und Zartbitterschokoladenstücke, die mit Schokoladenstreifen, -herzen und -streuseln verziert waren.

»So. Tut mir leid, aber das musste ich kurz fertig machen. Oh! Sie sind das!«

Lächelnd wandte sich Calvin der Frau zu, die ihn auch das letzte Mal bedient hatte. »Sie erinnern sich an mich?«

»Ich vergesse selten ein Gesicht. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Ich muss sagen, dass drei Karamell-Schokoschaum-Pralinen absolut nicht lange halten.«

Die Frau mit den Locken unter der Mütze lachte auf. »Das tut mir sehr leid. Aber das verhält sich mit vielen unserer Süßigkeiten so.«

»Ich werde nicht widersprechen.« Calvin schob die Pralinenpackung zurück ins Regal. »Mein Geschenk ist übrigens super angekommen. Und weil ich ein netter Freund bin, werde ich Lucy heute wieder ihre Nuss-Karamell-Brocken mitnehmen.«

»Oh, da kann sich ihre Freundin aber glücklich schätzen. Wie lange sind sie denn schon zusammen?«

»Zusammen?« Calvin blinzelte verwirrt, dann lachte er auf. »Oh! Nein, nicht so eine Freundin. Nur eine Freundin«, schmunzelte er.

»Oh.« Die Frau blinzelte. Dann lächelte sie. »Entschuldigen Sie. Ich wollte nicht neugierig sein. Also unsere Nussberge. Die große oder die kleine Packung?«

»Die kleine genügt. Und diesmal probiere ich die Karamell-Hütchen. Bitte.« Er folgte der Frau zur Theke. »Wer macht bei Ihnen eigentlich die Öffentlichkeitsarbeit? Die Postings und die Fotos?«

»Meine Tochter und mein Sohn. Manchmal ich. Nur mein Mann hält sich da raus. Wie viele sollen es sein?« Sie deutete auf die in bunte Folie eingeschlagenen Schokoteilchen.

Calvin folgte ihrem Blick und trat von einem auf den anderen Fuß. »Das Schlimme ist, dass mir gerade sehr nach Schokolade ist. Diese Stimmung, in der man am liebsten Unmengen davon essen würde. Wissen Sie, was ich meine?« Cal sah auf.

Sie lachte. »Schätzchen, ich führe ein Süßigkeitengeschäft. Nichts kenne ich besser. Aber für solche Fälle empfehle ich etwas mit Zartbitter. Da lässt der Heißhunger schneller nach dank des hohen Anteils an Schokolade.«

»Oh. Ich hätte jetzt einfach nur weniger gekauft, aber das ist natürlich auch eine Idee.« Sein Blick glitt über die angebotenen Pralinen. »Hm. Oh, Pistazie!«

»Soll ich Ihnen eine Probierschachtel zusammenstellen?«

»Das klingt perfekt.« Die Frau nickte lächelnd und machte sich an die Arbeit. »Bestellen Sie Ihrer Tochter und Ihrem Sohn einen lieben Gruß. Ihre Postings bringen mich regelmäßig dazu, in den unpassendsten Situationen zu sabbern.«

Amüsiert sah sie auf. »Wenn Sie möchten, können Sie das gerne selbst tun.«

»Oh, ich habe schon öfter ein Foto kommentiert.«

Sie gluckste. »Nein. Ich meine hier. Ich kann Ihnen gerne zeigen, wo die Magie passiert. Leo und mein Mann sind unten am Arbeiten.«

»Ach so! Das würde ich wirklich gern sehen. Die Fotos zeigen immer nur einen so kleinen Ausschnitt der Arbeit.« Skeptisch sah Calvin in die graubraunen Augen. »Sie würden mich wirklich dahin lassen?«

»Natürlich. Wir führen regelmäßig Besucher nach unten. Wir haben nichts zu verbergen.« Sie schloss die Pralinenschachtel. »Kommen Sie. Ich zeige es Ihnen. Aber erschrecken Sie nicht. Es ist überraschend unspektakulär.«

»Das kann ich nicht glauben«, widersprach Calvin und folgte der kleinen Frau, die auch heute wieder die Schokoladenschürze und das Basecap trug. »Es sieht auf den Fotos alles immer aus wie ... Kennen Sie Charlie und die Schokoladenfabrik?«

Sie nickte. »Wir haben keine Umpa-Lumpas. Tut mir leid.« Sie führte Calvin durch das Hinterzimmer durch eine Tür auf eine verglaste Veranda. Von hier führte eine Treppe hinauf in das obere Geschoss. Und eine Tür offenbarte eine weitere Treppe, die hinabführte in den Keller. Eine geballte Ladung Schokoladenduft schlug Calvin entgegen.

Tief atmete er ein. Genau das, was er jetzt brauchte! »Schade, die mochte ich immer besonders gern«, antwortete er und folgte der kleinen Frau dann in den Keller. Er konnte kaum glauben, dass er gleich sehen würde, wo die Köstlichkeiten hergestellt wurden, die er schon nach dem ersten Bissen geliebt hatte. Lucy hatte ihn nur äußerst widerstrebend kosten lassen, aber der kleine Bissen, den er ihr abgerungen hatte, hatte ihn auch von den Pekannuss-Karamell-Brocken überzeugt - trotz der Nüsse. Er war sich sicher, dass er sich über kurz oder lang durch das Sortiment kosten würde. Wenn das mit Probierpackungen möglich war, umso besser.

Die Frau führte ihn die alte Steintreppe hinab. »Passen Sie auf Ihren Kopf auf«, sagte sie und sah über ihre Schulter. Die Decke über der Treppe hing tatsächlich überraschend tief. Doch das gab sich, als sie in den Raum traten, der sich jetzt offenbarte. Alte, gebrannte Fliesen lagen auf dem Boden, an einigen Stellen blank und ausgetreten von jahrzehntelanger Benutzung.

Gleich zu ihrer Rechten befand sich ein großer Gasbrenner, auf dem ein alter Kupferkessel stand. An der Wand hingen Rührkellen aus Holz, auch hier waren die Griffe blank von der Benutzung über Jahre hinweg. Und dann öffnete sich der Raum weiter. An der linken Seite fand sich ein langer Edelstahltisch, auf dem ein altersschwacher Ventilator stand. In einer Ecke des Raumes hing ein Fernseher, auf dem gerade ein Basketballspiel übertragen wurde. Der Ton war leise gestellt. Es gab eine große Spüle, eindeutig neueren Datums und nachträglich eingebaut.

Das Herzstück des Raumes aber war wohl der große Marmortisch. Die Platte dick und glänzend. Es waren kleine Kerben auszumachen, ebenfalls Zeichen von jahrzehntelanger Arbeit und Benutzung. An diese Platte grenzten zwei Arbeitstische, daran zwei Stühle. Und es gab ein großes Regal sowie Schränke, in denen sich alle möglichen Utensilien befanden, und alte Aktenschränke mit Schubladen. Was sich darin befand, war nicht zu sehen.

Und vor einem dieser Regale standen zwei Männer. Ein älterer mit schneeweißem Haar, das unter einem Basecap hervorlugte. Sie trug das Weinrot und den gelben Schriftzug der Pointy Ravens. Eine der zwei großen Basketballmannschaften von Three Points. Er rieb sich mit einer Hand über das Kinn, vor seinen Bauch eine Schürze gebunden. Ein breites Kreuz, starke Oberarme. Darin unterschied er sich nicht von dem anderen Mann, den Calvin nur schwer ausmachen konnte. Alles, was er im Moment sehen konnte, war eine Blue-Jeans, in der ein offensichtlich knackiger Hintern steckte, denn der Mann hatte sich vorgebeugt, zwischen zwei merkwürdige Behältern hindurch, die Getreidesilos nicht unähnlich sahen. Nur waren sie bedeutend kleiner.