Liebe schmeckt wie Schokolade

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»Also wenn wir die Regale umstellen und die zwei hier auch, dann könnten wir die Überzugsmaschine hereinbekommen. Es wird eng, aber es könnte klappen.« Ein Zollstock wurde über den Boden gezogen.

»Hey, ihr zwei!«, rief jetzt die Frau neben Calvin. Und das brachte den jüngeren Mann dazu, zusammenzuzucken. Ein seltsam hohles Geräusch erfüllte den Raum. Gefolgt von einem Schmerzenslaut.

»Verdammt!«, fluchte der Mann und rieb sich über den Kopf, während er sich aufrichtete.

Calvin verzog das Gesicht, weil er den Schmerz beinahe mitfühlen konnte. Der jüngere Mann, bei dem es sich um den ältesten Sohn Leo handeln musste, war etwas größer als sein Vater. Als er sich umwandte, sah Calvin in ein fein geschnittenes Gesicht mit ausgeprägten Kieferknochen und dunkelblondem Haar. Er erkannte den Mann von den Fotos wieder, die er im Internet gesehen hatte, doch als sich nun ausdrucksstarke, hellbraune Augen auf ihn richteten, war es als sähe er ihn zum ersten Mal. Trotz der hellen Augenfarbe wirkte der fremde Blick dunkel und unergründlich.

Leo hatte seine Mutter wirklich gern, doch die Frau ging auf so leisen Sohlen, dass man sie oft überhörte. So auch jetzt. Ihre Stimme erschreckte ihn und an was auch immer er sich gestoßen hatte, es schickte eine Welle des Schmerzes bis in seine Zehenspitzen. Doch dieser Schmerz verflog mit einem Mal. Als er sich erhob und nur mit dem Anblick seiner Mutter rechnete, traf sein Blick auf ein fremdes Augenpaar. Helle, grau-grüne Augen sahen ihm entgegen. In einem schmal geschnittenen Gesicht. Dunkelblondes Haar in einer modischen Kurzhaarfrisur, doch das nahm er nur am Rande wahr, denn er konnte den Blick nicht aus den hellen Augen nehmen. Fieberhaft suchte er nach einem Vergleich, doch es wollte ihm keiner einfallen. Kein Flaschengrün. Und kein Grau wie an einem Nebeltag. Eher wie der dumpfe Glanz eines erblindeten Spiegels. Doch für das Grün schien es keinen Vergleich zu geben.

»Ich habe euch einen Besucher mitgebracht«, sagte Evelyn jetzt und stutzte. »Ach, ich habe noch gar nicht nach Ihrem Namen gefragt.«

»Und Sie haben mir Ihren auch noch nicht verraten, obwohl ich ihn inzwischen aus den Postings kenne«, antwortete Calvin lächelnd an die kleine Frau gewandt, bevor er den Blick wieder auf die beiden Männer richtete und ihnen schließlich die Hand hinhielt. »Calvin Brewster.«

Der weißhaarige Mann lächelte breit. »Charles Larkin. Freut mich. Meine Frau Evelyn kennen Sie ja schon, auch wenn Sie gerne mal ihre guten Manieren vergisst.« Er sagte das mit diesem breiten, freundlichen Lächeln, das klarmachte, dass es ein Scherz war. »Und mein Sohn Leo.« Nach Charles ergriff jetzt auch Leo die dargebotene Hand und nahm noch immer nicht den Blick von diesen sagenhaften Augen.

»Hi«, sagte er leise, als sich eine feine Hand in seine eigene schob. Weich und warm.

Für einen Moment überwältigt von der Intensität des Blicks vergaß Calvin glatt, die fremde Hand auch zu schütteln und so standen sie für einen Augenblick nur da und hielten die Hand des anderen. »Hi«, brachte Cal schließlich hervor und runzelte kurz lächelnd die Stirn, weil irgendetwas zwischen ihnen vor sich ging, das er nicht greifen, wohl aber spüren konnte. »Auch Sie kenne ich schon von den Fotos. Sie beide natürlich.«

»Calvin wollte einmal sehen, wo die Arbeit stattfindet, nachdem er so begeistert von den Schokoschaum-Karamell-Pralinen war«, sagte Evelyn lächelnd. Leo hielt noch immer die warme Hand in seiner eigenen.

»Ist das so?«, fragte er leise den jungen Mann vor sich und leicht runzelte er die Stirn. Wie jung war er? 29? Oder eher 27? Eine gerade, beinahe stolze Nase saß in dem ebenmäßigen Gesicht und wieder glitt sein Blick zurück in die hellen, so außergewöhnlichen Augen.

»So ist das«, bestätigte Cal. »Ich habe seit Tagen das Verlangen nach Schokolade und seit ich die Pralinen gekostet habe, komme ich an Fabrikschokolade nicht mehr ran. Obwohl ich sie mir ganz leicht kaufen könnte, aber ...« Kurz presste er die Lippen aufeinander. »Entschuldigung, ich verplappere mich gerade wie Ihre Mutter bei meinem letzten Besuch.«

Verführerisch rote Lippen. Die untere Lippe etwas voller als die obere. Ein energischer Schwung um die Mundwinkel herum. Leo hatte keine Ahnung, wo der Gedanke herkam, doch ihn überkam das Verlangen, dieses kecke Lächeln von diesen Lippen zu küssen. Bis sie rot und geschwollen waren. Leicht strich sein Daumen über die unfassbar zarte Haut darunter. »Dann passen Sie wohl sehr gut hierher. Plappern liegt uns allen im Blut.«

Es war diese Berührung, die Calvin dazu brachte, dem für ihn fremden Mann seine Hand zu entziehen. »Jedenfalls war mir nach Schokolade und hier bin ich«, lächelte er jetzt auch den älteren Mann an, dessen weißes Haar ihn schwer auf ein Alter schätzen ließen. Bei Leo Larkin war er sich sicherer: Mitte bis Ende 30. Calvin sah wieder zu Evelyn. »Wirklich keine Umpa Lumpas! Ich bin fast ein wenig enttäuscht, aber nur fast.«

Sie grinste. »Wie ich sagte. Wir arbeiten noch auf althergebrachte Weise. Magische Wesen wären uns nur im Weg.«

»Ich finde, jeder, der hier etwas herstellt, hat magische Hände, also sind Sie alle hier im Grunde magische Wesen«, erwiderte Calvin.

Evelyn lachte leise. »So viele Komplimente. Dabei kennen Sie nur einen Bruchteil unseres Sortiments.«

»Das reicht wirklich vollkommen aus. Ich habe noch nie so etwas Gutes aus Schokolade gegessen. Also«, Calvins Blick blieb an dem großen Tisch hängen, »hier passiert alles?«

Charles nickte. »Hier passiert alles. Wobei wir den Marmortisch in seiner eigentlichen Funktion nur um die Weihnachtszeit herum brauchen. Oder für unseren Krokantbruch.«

»Hm. Wofür sind die da?«, fragte Calvin und deutete auf die siloartigen Behälter. Noch immer spürte er Leo Larkins Blick auf sich und als er jetzt aufsah, fand sein Blick sofort den des anderen Mannes.

»Das sind Temperierbehälter. Darin wird die Schokolade aufgelöst und warm gehalten. Einer für Zartbitter- und einer für Vollmilchschokolade«, erklärte Leo, ohne den Blick von Calvin zu nehmen.

»Ah, ich verstehe. Und der Tisch kühlt die Schokolade?«

»Nein. Der Tisch kühlt unsere Bonbon-Masse.«

»Oh, Bonbons gibt es nur zu Weihnachten?«, fragte Calvin überrascht an Evelyn gewandt.

Die nickte. »Wir verzichten auf Zusätze aller Art bei unseren Produkten. Nur in unsere cremegefüllten Schokoeier oder Minzplätzchen kommt eine Messerspitze eines Pulvers, das dafür sorgt, dass die Creme lange cremig bleibt. Ansonsten arbeiten wir ohne Chemie. Und das sorgt eben auch dafür, dass Bonbons schnell kleben. Das Wetter muss stimmen. Es darf nicht zu feucht sein. Nicht zu warm. Und wir können uns keine Kühlanlage leisten, die die Räume hier unten herunterkühlt und die Feuchtigkeit bindet. Solche Anlagen kosten ein Vermögen. Also bleiben uns nur die Wintermonate und da auch oft nur ein paar wenige Tage.« Sie gluckste. »Es bricht hier oft das Chaos aus, wenn die passende Wetterfront angesagt wird.«

»Ja, das kann ich mir vorstellen. Wenn man so sehr auf das Wetter angewiesen ist ... Mein Dad arbeitet für einen Betrieb, der im Winter auch Wege-Winterdienst anbietet. Er könnte auch ein Lied davon singen, wie schnell das Wetter den Arbeitsplan durcheinanderwirft.«

Steve machte ein überraschtes Geräusch. »Vor allem bei den Schneemassen, die wir hier manchmal haben.«

»Kommen Sie hier aus der Gegend?«, fragte Leo.

»Ja. Mein Vater wohnt sogar gar nicht so weit weg von hier. Ich wohne in der Innenstadt.« Calvin fing den dunklen Blick auf. Ein Leberfleck über der linken Augenbraue fiel ihm erst jetzt auf. »Darf ich fragen, wer was macht? Sie können ja unmöglich alles alleine herstellen.«

»Nun, doch. Im Grunde ist es so. Mein Vater und ich stellen die ganzen Sachen her. Abgesehen von unseren berühmten ›Weihnachtskugeln. Da macht meiner Mutter niemand etwas vor. Ich selbst kann es zwar auch, aber ihre Fingerfertigkeit ist ungeschlagen. In aller Regel sitzen Pop und ich hier unten, fristen unser Sklavendasein und fertigen, was uns Mum aufträgt. Sie hat den Überblick über den gesamten Bestand und behält auch die Bestellungen im Auge. Für die Verpackung haben wir ein paar Hilfskräfte. Unter anderem meine Schwester. Und ein langjähriger Freund der Familie hilft zu den Spitzenzeiten hier unten mit aus.«

Schmunzelnd ließ Calvin seinen Blick durch den Raum gleiten. »Sie nennen das hier ein Sklavendasein? Ich bitte Sie!«

Evelyn gluckste. »Oh, glauben Sie mir. Das kommt schon hin. Normalerweise kette ich die beiden noch fest.«

»Oh je.« Cal sah zu den beiden Männern und blieb an Charles' Bauch hängen, der sich unter der Schürze abzeichnete. »Nun, wenigstens scheint die Verpflegung zu stimmen«, rutschte es ihm hinaus. Im nächsten Moment schlug er sich mit großen Augen eine Hand vor den Mund. »Oh Gott, Verzeihung!«

Sowohl Evelyn als auch Leo brachen in schallendes Gelächter aus, während Charles schmollend die Unterlippe hervorschob. Er rieb sich über den kleinen Bauch, den er vor sich hertrug. »Weihnachten ist noch nicht so lange her«, murmelte er. »Ich komme schon wieder in Form.«

Evelyn wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Von welchem Weihnachten sprichst du, Popsicle? Das vor drei Jahren?«

Steve grummelte erneut und bückte sich dann, um den Zollstock aufzuheben. Leo hingegen war darin vertieft, den leichten Rotschimmer auf den Wangen Calvins zu betrachten.

»Tut mir leid! Das war nicht so gemeint, wirklich! Ich habe nicht nachgedacht, das war ...« Entschuldigend sah Calvin zwischen Evelyn und ihrem Sohn hin und her. »Tut mir wirklich leid«, murmelte er noch einmal. »Ich glaube, es ist besser, wenn ich jetzt gehe. Bevor ich noch jemanden beleidige.«

 

»Calvin, machen Sie sich keine Gedanken. Wir haben drei Kinder. Zwei davon Jungs. Und allesamt mit großer Klappe geboren. Es gibt kaum etwas, das wir uns noch nicht anhören durften.« Sie legte ihm kurz die Hand auf die Schulter.

»Es ist nicht meine Schuld! Evelyn kocht zu gut!«, wandte jetzt Charles ein, während er den Zollstock verstaute.

Leo gluckste. »Kommen Sie. Ich bringe Sie nach oben.«

»Ja, das ist wohl besser«, murmelte Cal und lächelte Evelyn an. »Bis zum nächsten Mal. Und ich sage schon einmal danke für die Probierschachtel.«

Sie nickte lächelnd. »Jederzeit gern.«

Calvin wandte sich noch einmal an Charles. »Ihnen noch einen schönen Tag. Lassen Sie sich bitte von mir nicht den Appetit verderben, Mr. Larkin.«

Ein leises Grummeln begleitete sie die Treppe nach oben, auf der Leo den Kopf einziehen musste. Dann hielt er Calvin die Tür auf, die zurück in den Laden führte.

»Er nimmt es mir doch nicht zu sehr übel, oder?«, hakte Calvin nach. Der Schokoladenduft verschwand beinahe schlagartig und hinterließ eine Leere, die Calvin kühl vorkam.

»Ach Quatsch. Wie meine Mutter schon sagte, sie haben sich bereits einiges anhören müssen. Inklusive dem pubertierenden Klassiker Ich hasse dich!. So eine kleine Spitze gehört also im Grunde zum guten Ton.«

»Hm. Gut, wenn Sie das sagen.« Calvin deutete auf die bereits fertig verpackte Schachtel auf dem Tresen. »Das da ist meins.«

»Diese zwei Sachen?« Leo deutete auf die Schachtel und die Tüte.

»Ja. Sehen Sie, die Nussbrocken für meine Freundin hätte ich beinahe vergessen.« Aus seiner Umhängetasche zog Calvin sein Portemonnaie. »Was macht das?«

Für einen Moment kam ein Stoppen in die Bewegungen von Leo, als er die Dinge in die Kasse eintippte. »Ihre Freundin kann sich glücklich schätzen, so einen aufmerksamen Freund zu haben«, bemerkte er beiläufig.

Eine Bemerkung, die Calvin lachen ließ. »Das hat Ihre Mutter auch gesagt, aber Lucy und ich sind nicht zusammen.« Cal hob die Schultern und reichte einen 20-Dollar-Schein über den Tresen. »Nur eine Freundin. Hier, das stimmt so. Für die Führung, für das Kinderheim. Teilen Sie es auf.«

Wieder wurden die Süßigkeiten in die schon bekannte Tüte verpackt. Dann trat Leo um den Tresen herum und reichte Calvin die Tüte, streckte ihm die Hand entgegen. »Hat mich sehr gefreut, Calvin.«

Lächelnd schob Calvin seine Hand in die größere. »Mich auch, Leo.« Bei dem jungen Mann fiel ihm die Anrede leicht.

Wieder trafen sich ihre Blicke und wieder kam es Leo so vor, als würde die Welt für eine Sekunde anhalten. Ein merkliches Ruckeln. Schwer schluckte er. Die Spitze seines Zeigefingers lag an Calvins Puls-Punkt auf seinem Handgelenk und er konnte das feste Schlagen fühlen. Es war beinahe so, als würde mit jedem spürbaren Schlag ein Stromstoß durch seinen eigenen Körper gepumpt. »Ich hoffe, Sie kommen uns bald wieder besuchen.«

»Ich ... Ja«, stammelte Calvin. Kribbelnd breitete sich Gänsehaut auf seinem Unterarm aus und zog bis zu seinem Hals. Da war wieder dieses Gefühl, dass etwas zwischen ihnen vorging, das er nicht beschreiben konnte. Wieder war er es, der Leo seine Hand entzog.

»Dann bis bald«, sagte er vage und trat auf die Tür zur Veranda zu. Er zog sie auf, kühlere Luft schlug ihm entgegen, doch anstatt gleich hindurchzutreten, warf er noch einmal einen Blick über seine Schulter zurück zu Leo Larkin, dessen dunkler, warmer Blick ihm gefolgt war. Innerlich den Kopf schüttelnd, stieg Cal schließlich die knarrenden Stufen hinunter und machte sich geistesabwesend auf den Weg zur Bushaltestelle.

Noch ein paar Sekunden stand Leo da, sah auf die Tür, die schon längst wieder zugefallen war. Dann blinzelte er. »Ich hoffe, Sie kommen uns bald wieder besuchen?! Was zum Geier habe ich da nur geredet?«, murmelte er zu sich selbst und zuckte im nächsten Moment heftig zusammen, als die Stimme seiner Mutter hinter ihm erklang.

»Muss ich erst lange bohren oder erklärst du mir gleich, was da gerade passiert ist?« Sie stand in der Tür zum Verkaufsraum, an den Türrahmen gelehnt und die Arme locker vor der Brust verschränkt.

Leo schluckte. »Da ist gar nichts passiert.«

Evelyn schnaubte. »Ach, ich bitte dich! Selbst dein Vater hat mitbekommen, wie du ihn angesehen hast. Du bist lange aus dem Kindergarten raus, also tu nicht so, als hättest du ihn nicht mit den Augen ausgezogen.«

Stocksteif stand Leo da. »Das ist nicht wahr.«

Ihr Augenrollen kannte er nur zu gut. »Er ist süß. Er hat so etwas Frisches, Freches.«

Leo stöhnte genervt. »Mum, hör auf. Das ist Unsinn. Ich bin gerade aus einer Beziehung raus.«

»Und?«

Fassungslos sah er seine Mutter an. »Und? Ich war über vier Jahre mit Caleb zusammen.«

Sie rührte sich noch immer nicht. »Und?«, fragte sie erneut.

Leo verwarf die Hände. »Nun, zum Beispiel, mal angenommen, da wäre etwas gewesen, was es nicht war! Wer sagt denn, dass er schwul ist?«

Jetzt lächelte Evelyn. »Schwul oder nicht, er hat dich mindestens genauso angesehen wie du ihn. Vertrau mir. Irgendwas ist da zwischen euch. Nenne es mütterlichen Instinkt.«

»Wohl eher Wunschdenken«, sagte Leo, aber sein Blick glitt erneut zur Tür. Doch von Calvin war keine Spur mehr zu sehen. Das nächste, was er wahrnahm war die Hand seiner Mutter auf seiner Schulter.

Sie lächelte sanft, als er sie ansah. »Ich will dir ja auch gar nicht reinreden, Schatz. Du bist alt genug, dein Leben so zu führen, wie du es für richtig hältst. Aber ich bin auch deine Mutter, also ist es meine Pflicht, dir Tipps und Ratschläge zu geben. Was auch immer da ist, sperr dich nicht. Lass es passieren. Wenn da nichts ist, wie du sagst, dann droht ja auch keine Gefahr, oder?«

Leo schluckte. Verdammt. Seine Mutter war eine gute Mutter. »Vermutlich nicht.«

Sie nickte zufrieden. »Siehst du? Und Freunde haben noch keinem Menschen geschadet. Ich mag den jungen Mann. Er ist nicht auf den Mund gefallen.«

Leo schwieg einen Moment. »Das ist er nicht.« Und er hatte die faszinierendsten Augen, die Leo jemals gesehen hatte. Dieses funkelnde Grau, dazu dieses unbeschreibliche Grün. So hell. So anziehend. Ihm stellten sich die Haare im Nacken auf, wenn er nur daran dachte. Von der Statur her war Calvin deutlich filigraner gebaut als er selbst, aber nicht zu feminin. Sportlich. Schlank. Lange Beine.

Es war verrückt, wie viel ihm in der kurzen Zeit aufgefallen war. Wie weich Calvins Hände gewesen waren. Das dunkle Blond seines Haares, eher auf dem Weg ins Hellbraun abzudriften. An den Seiten kürzer geschnitten, auf dem Kopf etwas länger. Lang genug, die Finger hindurch gleiten lassen zu können.

Erschrocken zuckte er zusammen, als er sich dabei ertappte, wie er noch immer auf die Tür starrte. »Ich gehe zurück an die Arbeit«, murmelte er. Nicht unähnlich seinem Vater.

Evelyn lachte leise. »Tu das.«

***

Calvin starrte auf die Wohnungstür, in einer Hand den Schlüssel, in der anderen die Tüte aus dem Laden, die Umhängetasche lag an seiner Hüfte. Die letzte Stunde war komplett aus seinem Kurzzeitgedächtnis gelöscht. Wie war er hierhergekommen? Welche Buslinien hatte er genommen? War er umgestiegen? Musste er ja! Schwer schluckte er, als er erkannte, dass er sich nicht einmal mehr daran erinnern konnte, wie das Wetter gewesen war.

Über sich selbst den Kopf schüttelnd, schob er den Schlüssel ins Schloss und verbannte damit all jene Gedanken in eine Schublade, die er abschloss und deren Schlüssel er zusätzlich versteckte.

»Hey«, sagte er ins Wohnzimmer, wo Paul auf der Couch saß und auf den Fernseher sah. Die Stimme eines Kommentators drang an Calvins Ohren. Paul hob lächelnd den Blick.

»Hey. Wo warst du?«

Calvin hob die Tüte in seiner Hand in die Höhe. »Schokoladennachschub für Lucy und mich besorgen. Ich habe dir doch von dem Laden erzählt?«

»Ja, hast du.« Paul klopfte neben sich auf den robusten Stoff, der schon einige Jahre auf dem Buckel hatte. »Komm her.«

»Gleich, ich stell nur noch schnell die Schokolade in den Schrank.«

Als Calvin schließlich neben Paul saß, einen kräftigen Arm um seine Schultern, sah er lächelnd zu Paul. Heute war ein guter Abend. Kein Dämon in Sicht. Er lehnte seinen Kopf gegen Pauls Schulter, spürte gleich darauf einen Kuss auf seinem Haar. Innerlich seufzte er auf. Dann schloss er die Augen. Frieden. Wenigstens für den heutigen Abend.

Kapitel 4

Der Duft nach Pfefferminztee erfüllte den Raum. Frische Pfefferminze, nicht die, die sie in Teebeuteln als Pfefferminze verkauften. Es hatte eben Vorteile, wenn man eine Schildkröte als Haustier hatte. Donatello hatte die Minze nicht zugesagt, vermutlich wegen der ätherischen Öle, also hatte Calvin sie im Sommer getrocknet und an jeden ein Beutelchen verschenkt, der Tee mochte.

Lucy kaute auf ihrer Unterlippe und sah auf das Backgammon-Spielbrett, das zwischen ihnen auf der Couch lag. Es war ein kleiner Koffer aus Holz, ähnlich einem Schachspiel, das man aufklappen konnte, und tatsächlich befand sich auf der Außenseite ein Schachbrett. Auch die kleinen, weißen und schwarzen Spielsteine waren aus Holz. Zahlreiche Intarsien schmückten das Spielbrett. Lucy hatte sich weit darüber gebeugt und dachte über ihren nächsten Zug nach.

Lächelnd nippte Calvin an der Teetasse. Sie spielten oft Backgammon. Er hatte es ihr beigebracht, nachdem ihre Eltern ihr dieses wunderschöne Spielbrett aus dem Türkeiurlaub mitgebracht hatten. Im Moment sah es deutlich besser für die weißen Spielsteine aus.

Lucy entschloss sich, die Fünf und die Eins auf den Würfeln mit einem Stein zu ziehen und lehnte sich dann seufzend zurück. Nickend stellte Cal die Tasse auf dem niedrigen Couchtisch neben sich ab und griff nach den zwei Würfeln.

»Denkst du, sie würden mich auch mal in den Keller lassen?«, fragte sie und hob den Blick vom Spielbrett. Calvin hatte ihr von der kleinen, privaten Führung bei Larkin Candys and Sweets erzählt und anscheinend hatte sie damit noch nicht ganz abgeschlossen.

»Dafür müsstest du erst einmal wieder hinfahren. Wenn ich mich richtig erinnere, warst du immer noch nicht wieder dort.« Calvin warf die beiden Würfel auf das Spielbrett.

»Hm. Da hast du Recht. Ach, komm schon!«

Frustriert deutete Lu auf die Würfel, auf denen eine Vier und eine Zwei zu sehen war - ein guter Wurf, denn er erlaubte es Calvin, zwei Spielsteine von verschiedenen Stapeln zu trennen, zu einem neuen Paar zusammenzufassen und sie so nicht nur sicher vor dem Rauswerfen zu platzieren, sondern auch auf einem freien Feld, das Lucy somit versperrt bleiben würde. Es machte es für sie schwieriger, ihre schwarzen Spielsteine ins Haus zu bringen.

»Ich kann nichts für mein Würfelglück, das ist Erbmasse«, verteidigte sich Calvin sofort und setzte seinen Zug auf eines der leeren Dreiecke, die beim Backgammon als Spielfelder dienten.

»Das ist unfair! Ich habe niemanden in der Familie, der gut würfeln kann.« Schmollend verschränkte Lucy die Arme vor der Brust, was Cal zum Lachen brachte. Er griff nach den Würfeln und hielt sie ihr hin. In dem Moment öffnete sich die Wohnzimmertür.

»Hallo, ihr beiden.« Lucys Schmollmund war mit diesem Moment verschwunden. Sie sah hinter Calvin und lächelte ihrem Freund liebevoll entgegen.

»Hallo, Schatz!«

Tim trat näher und küsste sie zur Begrüßung sanft auf die Lippen. Eine Hand lag liebevoll an ihrer Wange, sein Daumen strich kurz über die Haut darunter. Lucys Augen glänzten noch, als er sich wieder von ihr löste und sich aufrichtete.

All das waren Kleinigkeiten, die Calvin beobachtete. Seit sich Paul so verändert hatte, betrachtete er jedes andere Paar genau. Beobachtete, worin sie sich unterschieden, wie sie miteinander umgingen. Versuchte zu erkennen, ob er einen Unterschied sehen konnte zu seiner eigenen Beziehung.

»Calvin zockt mich ab«, erklärte Lucy und nahm Cal die Würfel ab.

Das brachte Tim zum Lachen. Er wandte sich an Calvin. »Sei lieb zu ihr, sonst weint sie sich wieder in den Schlaf.«

Calvin wusste, es war ein Scherz. Aber einer mit bitterem Beigeschmack. Lächeln musste er dennoch. »Ach was. Ich habe einfach nur Glück. Lucy spielt so gut wie es ihr die Würfel erlauben.«

»Hörst du, Liebes? Du spielst gut!« Zärtlich tätschelte Tim Lucys Schulter.

»Ach, das war doch nur so ein Spruch von seiner Grandma.« Die Würfel fielen aufs Brett und offenbarten ein Zweierpasch, das im Spiel doppelt zählte, also wie vier Zweien. »Ha! Guck dir das an, Schatz!« Lucy zupfte an Tims Hose und deutete auf das Spielbrett.

 

»Ich sehe es«, konstatierte der schmunzelnd.

»Du bringst mir Glück! Bleib hier, ja?«

»Das schaffst du auch locker ohne mich. Außerdem habe ich Hunger. In dem Restaurant gab es nur winzige Portionen.«

Lachend sah Calvin in das runde Gesicht, das zu Tim gehörte wie die blauen Augen, die ihn freundlich ansahen. »Ich bin sicher, die Portionen waren ausreichend und du nur einfach wieder ein Nimmersatt.«

»Da stimme ich Calvin vollkommen zu«, sprang ihm Lucy zur Seite. Tim grummelte leise. Er hatte tatsächlich ein paar Pfund zu viel, aber das ließ seine Gestalt nur umso gemütlicher und lieber wirken. »Aber falls du tatsächlich noch Hunger haben solltest, steht im Kühlschrank noch unser restliches thailändisches Essen. Ich habe dir Huhn übrig gelassen.«

»Oh, perfekt! Danke!« Lucy bekam noch einen Kuss, dann ließ Tim sie allein.

»Also, mal sehen, du hast mir ja so gut wie jede Möglichkeit genommen«, murmelte Lucy, fand aber noch Möglichkeiten, ihre Zweien zu setzen. »Was hat dir deine Grandma eigentlich alles beigebracht? Also welche Spiele, meine ich«, erkundigte sie sich dabei.

»Uff. Rommee, Schach, Backgammon, Scrabble, Skat, Kanaster, Kniffel«, zählte Calvin auf und griff nach den Würfeln. »Aber die meisten Sachen spiele ich selten. Was wirklich geblieben ist, ist das Kreuzworträtseln.«

Überrascht sah Lucy auf. »Daher kommt dein unfassbares Allgemeinwissen!«

Glucksend griff Cal nach seiner Teetasse. »Ich habe kein unfassbares Allgemeinwissen.« Er trank einen Schluck Tee. Warm und frisch rann er ihm die Kehle hinab.

Lucy rollte mit ihren grauen Augen. »Bitte! Ich kenne niemanden sonst, der die Götter des Olymp aufzählen kann und zwar mit ihren griechischen und mit ihren römischen Namen.«

Grinsend stellte Calvin die Teetasse wieder ab. »Ja, gut. Das kommt vom Kreuzworträtseln.« Sein nächster Wurf zeigte zwei Sechsen.

»Du willst mich doch verarschen!«, empörte sich Lucy.

In das tiefe Lachen, das aus der Küche bis zu ihnen drang, stimmten sie schließlich trotzdem mit ein, während Calvin seine Steine ins Haus rettete.

Calvins Gedanken hielten ihn an diesem Abend vom Einschlafen ab. Sein Blick war in die Ferne gerichtet, auf einen Punkt irgendwo im dunklen Nachthimmel. Nicht auf einen Stern oder eine der kleinen Wolken, denn er sah durch all das hindurch.

Leise seufzend schob er einen Arm hinter seinen Kopf. Das leise Schnarchen, das von Pauls Bettseite zu ihm drang, hörte er ebenso wenig wie seinen eigenen Atem. Unbewusst begannen seine Finger, mit seinen feinen Haarsträhnen zu spielen.

So spielte sich inzwischen beinahe jeder Abend ab, denn ein Blick aus braunen Augen ging ihm nicht aus dem Kopf. Leos Blick. Calvin konnte nicht sagen, wieso er so sehr daran hing. Manchmal erging es ihm auch mit einigen seiner Kunden so. Manchmal fing er einen Blick auf, ein Lächeln, ein Stirnrunzeln oder etwas ähnliches und hing an diesen Dingen noch Tage später. Es konnte das Lachen auf dem Gesicht eines Kindes sein, die Blässe eines erkälteten Mannes, der blutunterlaufene Blick eines bekifften Jugendlichen oder das Stirnrunzeln eines Kunden, der sich nicht entscheiden konnte, welches Kabel er kaufen sollte. Oft genug konnte er gar nicht genau festmachen, was es genau war. So war er eben, er hing an solchen Kleinigkeiten, lernte so, die Menschen in seinem Umfeld genau zu beobachten und sie zu lesen. Das klappte nicht bei jedem. Allen voran war da Paul, den er seit Jahren nicht mehr richtig einschätzen konnte.

Und dann gab es Leo Larkin. Dessen Hände wieder oft auf Bildern in Postings erschienen waren. Der Valentinstag brachte anscheinend jede Menge Arbeit für den kleinen Laden.

Valentinstag. Ein Tag, der Calvin früher einmal tatsächlich etwas bedeutet hatte. Früher, als Paul ihm noch persönliche Aufmerksamkeiten besorgt hatte oder ihm ein Abendessen gekocht hatte. Ihm Huhn in Kokosmilchsoße übrig gelassen hatte wie es Lucy für Tim tat. Doch von all diesen Kleinigkeiten, die Calvin so viel bedeutet hatten, war heute kaum noch etwas übrig.

Er genoss jeden Moment, in dem ein Funken des alten Pauls zum Vorschein kam, in dem dieser Paul die Oberhand über den Dämon gewann, der inzwischen in ihm wohnte, sich von der Zeit mit seinen zweifelhaften Freunden und von Alkohol ernährte.

Der Valentinstag jedoch hatte längst an Bedeutung verloren. Wie so vieles andere in ihrer Beziehung auch.

***

Niemand, der Chester Heart sah, würde je auf den Gedanken kommen, dass dieser Mann seinen Lebensunterhalt als Anwalt verdiente. Chester war groß, wog gut 150 Kilogramm, die er trotzdem stilvoll in teuren Anzügen zu verpacken wusste. Er hatte einen Nacken so breit wie der eines Stieres und die Speckfalte in diesem Nacken wurde von keinem einzigen Haar verdeckt. Seine bevorzugte Frisur war eine Glatze.

Wenn er die Anzüge zur Arbeit trug, dann lugte auf seinem linken Handrücken das Ende eines Tattoos hervor, ebenso wie es aus seinem Hemdkragen hervorschaute und kurz unter seinem rechten Ohr endete. Unter dem Ohr, in dem sich auch ein silberner Ohrring befand. Er trug einen kurzen Kinnbart. Seine Nase zeigte feine, rote Äderchen, die vom übermäßigen Genuss fettreichen Essens zeugten. Doch heute hatte er den Anzug abgelegt, gegen eine verschlissene Jeans sowie ein altes Shirt getauscht, die Ärmel über die massigen Unterarme hoch geschoben und offenbarte so einen Teil seiner Sammlung an gestochener Körperkunst.

»Also schön.« Während er sprach, zog er eine Schraube im Rahmen des Bettgestells fest, was das Holz zum Ächzen brachte. Leo verzog das Gesicht in Angst um seine neueste Errungenschaft. Er war froh über die Hilfe seines guten Freundes, den er noch aus Schulzeiten kannte. Jetzt jedoch hatte der die buschigen Augenbrauen zusammengezogen und löste den Schraubendreher von der gequälten Schraube.

»Reden wir über den Elefanten im Raum.« Er hob den Blick und sah Leo aus dunkelgrünen Augen an. In dieser Position wirkte der massive Mann wie eine Galapagosmeerechse. Kompakt, massig und irgendwie in sich ruhend. Nur reizen sollte man Chester nicht.

»Was für ein Elefant?«

Chester schnaubte. »Hör zu, Schwuchtel. Wir sehen uns vielleicht nicht mehr so häufig wie früher noch, das ist klar. Aber der Buschfunk funktioniert immer noch. Es gibt, glaube ich, niemanden in der Gemeinde, der noch nicht von dem Drama zwischen dir und Caleb gehört hat. Also, wann genau hattest du vor, mir davon zu erzählen?«

Leo grinste. »Du bist der gleiche freundliche Fettsack wie eh und je.«

Chester schnaubte und griff nach einer weiteren Schraube. »Das is so ziemlich das Beschissenste, was einem der Partner antun kann, Mann. Egal ob's ne Olle ist oder ein Kerl.« Leo zweifelte jedes Mal daran, dass Chester Anwalt war, wenn er ihn so reden hörte. Und das Verrückte war, der Mann verdiente unverschämt viel Geld. »Wenn du irgendwas gegen ihn der Hand hättest ... Wir könnten ihn hochgehen lassen. Hat er immer pünktlich seine Steuern bezahlt? Irgendwelche Strafzettel? Falsch parken? Ich dreh daraus schon was.«

Das leise Lachen konnte Leo nicht zurückhalten. »Ich weiß das sehr zu schätzen, aber nein. Danke. Das, was er getan hat, ist unverzeihlich. Und ich will es hinter mir lassen. Ein für alle Mal.«

Erneut knarrte das Holz, als die letzte Schraube hineingedreht wurde und sie damit begannen, den Korpus des Bettes an die richtige Stelle zu schieben. »Ich schwöre dir, sollte mir dieser Penner noch mal über den Weg laufen, werde ich mit Vorhaltungen nicht sparen.«

»Ich weiß deine Loyalität sehr zu schätzen, Chester.« Der grummelte und griff nach dem Lattenrost. »Wir sind Freunde. Auch wenn ich dieses ganze Schwulending nicht kapiere. Muss ich ja auch nich. Es ist dein Leben und du musst dich damit glücklich fühlen. Jeder so wie er mag. Aber diese Betrugskiste, bah!« Mit einem Klappern fiel das Lattenrost an seinen Platz. »Das ist das Hinterletzte. Da macht man Schluss, bevor so was passiert. Jeder Mann, der so was macht, hat keine Eier in der Hose. Schwul hin oder her.«