Grundlagen Recht für Wirtschaftswissenschaftler

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3. Sozialisierung

151Soweit Art. 15 GG die Möglichkeit einer „Sozialisierung“ bestimmter Eigentumsobjekte zulässt, handelt es sich um eine dritte Form der Beschränkung des Eigentumsrechts aus Art. 14 GG. Sozialisierung muss darauf abzielen, Unternehmen in eine „gemeinwirtschaftliche“ Betriebsführung überzuleiten, bei der die Gewinnerzielung allenfalls noch „Nebenzweck“ sein darf. Entgegen seiner Formulierung wirkt Art. 15 GG der Sache nach wie ein „Sozialisierungsabwehrrecht“. Maßgeblich für diese Ausrichtung ist vor allem der Umstand, dass nach h. M. der Bereich Handel und Dienstleistungen nicht unter den Rechtsbegriff der „Produktionsmittel“ in Art. 15 GG fallen und damit von vornherein nicht sozialisierungsfähig ist. Ferner ergibt sich eine hohe Schutzfunktion aus dem Entschädigungserfordernis des Art. 15 GG.

4. Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit

152Die (allgemeine) Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG) schützt das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden und autonom zu gestalten (positive Vereinigungsfreiheit) oder solchen Vereinigungen fernzubleiben (negative Vereinigungsfreiheit). Auch Vereinigungen mit dem Ziel, Kapital zu unternehmerischen Zwecken zusammen zu führen, werden durch Art. 9 Abs. 1 GG geschützt. Art. 9 Abs. 3 GG schützt speziell das Recht, Vereinigungen zur Förderung von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu bilden (sog. Koalitionsfreiheit), namentlich Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Geschützt sind auch deren Tätigkeiten wie Tarifverhandlungen und Arbeitskämpfe (Tarifautonomie).

Beispiel Die gesetzliche Regelung einer „Tarifeinheit“, durch die allein der Tarifvertrag der mitgliederstärksten Gewerkschaft gilt, stellt sich insofern als schwerer Eingriff in die Tarifautonomie der kleineren Gewerkschaften dar, der durch gewichtige Gemeinwohlgründe gerechtfertigt sein muss.

5. Allgemeiner Gleichheitssatz

153Art. 3 Abs. 1 GG enthält den sog. allgemeinen Gleichheitssatz, der an verschiedenen Stellen des Grundgesetzes durch besondere Gleichheitsvorschriften ergänzt wird. Auf die Tatbestandsvoraussetzungen des Gleichheitssatzes wurde schon oben bei der Darstellung der Prüfung der Gleichheitsrechte eingegangen (Rn. 142).

Kontrollfragen


1.Welches ist die „Urfunktion“ der Grundrechte und welche anderen Funktionen haben sie noch?


2.Können sich auch juristische Personen des Privatrechts (Aktiengesellschaften/GmbHs) auf Grundrechte berufen?


3.Können sich EU-Unternehmen auf sog. „Deutschengrundrechte“ berufen?


4.Können private Gesellschaften gleichsam „als Staat“ grundrechtsverpflichtet sein?


5.Was versteht man unter einem Grundrechtseingriff?


6.Was sind grundrechtliche Begrenzungsvorbehalte und welche Formen von Begrenzungsvorbehalten gibt es?


7.Wie prüft man die Verhältnismäßigkeit von Eingriffsgesetzen?


8.Nennen Sie die wichtigsten „Wirtschaftsgrundrechte“ im Grundgesetz!


9.Was schützt die Berufsfreiheit?


10.Was schützt die Eigentumsfreiheit?


11.Erklären Sie die Begriffe „Enteignung“ und „Inhalts- und Schrankenbestimmung“! Wie grenzt man beides voneinander ab?

§ 7 Die Europäische Union und das Europarecht
I. Begriff des Europarechts; Normenhierarchie; Auslegung

154Als Europarecht bezeichnet man das Recht der Europäischen Union (EU). Das Europarecht kennt – wie das deutsche Recht – mehrere Hierarchieebenen. Auf oberster Stufe steht das sog. Primärrecht. Dieses umfasst nach aktueller Rechtslage die beiden zwischen den EU-Mitgliedstaaten geschlossenen Gründungsverträge der EU, nämlich den Vertrag über die Europäische Union (EUV) und den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), sowie die Europäische Grundrechtecharta (EUGrCh) und weitere Protokolle und Zusätze zu den Verträgen (Rn. 142).

Hinweis

Am Beginn der Gründungsgeschichte der EU standen drei Verträge: die EGKS (Montanunion – 1951), EURATOM und der EWG-Vertrag (sog. „Römische Verträge“ von 1957). Mit dem Vertrag von Maastricht wurde die EU gegründet (1992). Der letzte Reformschritt in Gestalt des AEUV und EUV geht zurück auf den Vertrag von Lissabon 2007, in Kraft seit 2009.

Auf Basis des Primärrechts kann die EU sog. Sekundärrecht erlassen. Dieses umfasst fünf mögliche Handlungsformen: Verordnung, Richtlinie, Beschluss, Empfehlung und Stellungnahme (Rn. 169).

155Das Europarecht ist in den Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbar, d. h. es bedarf keines zusätzlichen Anerkennungsakts durch nationale Stellen. Bei einer Kollision mit dem Recht eines Mitgliedstaates kommt dem Europarecht ein Anwendungsvorrang zu. Das nationale Recht tritt also nicht außer Kraft, darf aber auf europarechtsrelevante Sachverhalte nicht angewendet werden. Dieser Anwendungsvorrang gilt grundsätzlich auch gegenüber dem Verfassungsrecht.

Beispiel Das frühere grundgesetzliche Verbot des Waffendienstes von Frauen stand, soweit es um den Zugang zum Beruf der Soldatin ging, in Widerspruch zur europäischen Gleichstellungsrichtlinie. Die Grundgesetznorm war damit unanwendbar.

156Grundsätzlich folgt auch die Auslegung des Europarechts den allgemeinen Auslegungsmethoden. Zwei Besonderheiten sind jedoch zu beachten:


Rechtliche Begriffe können im Europarecht eine andere Bedeutung haben als im deutschen Recht (sog. autonome Auslegung des Europarechts).


Das Europarecht folgt dem Grundsatz der effektiven Auslegung (effet utile), d. h. europarechtliche Bestimmungen sind so auszulegen, dass sie die ihnen zugedachte Wirkung möglichst voll entfalten können.

II. Grundstrukturen

157Die wirtschaftliche Bedeutung der EU folgt zunächst aus der Errichtung einer Zollunion und eines gemeinsamen Binnenmarkts zwischen den Mitgliedstaaten, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet wird (vgl. Art. 26 AEUV). Der Binnenmarkt umfasst insbesondere die Grundfreiheiten (Rn. 142 ff.). Im Rahmen der Errichtung des Binnenmarkts erfolgt u. a. eine Angleichung der relevanten Rechtsvorschriften in den Mitgliedstaaten, die durch die Setzung EU-weiter gemeinsamer Standards (Harmonisierung) oder durch die gegenseitige Anerkennung nationaler Standards erfolgen kann. Ferner werden wettbewerbsrechtliche Standards gesichert. Die europäische Wirtschafts- und Währungsunion zielt auf eine Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und hat zur Einführung eines gemeinsamen Währungssystems und der Einführung des Euro als gemeinsamer Währung in bislang 19 Mitgliedstaaten geführt.

158Gemäß Art. 20 Abs. 1 AEUV sind Staatsangehörige der Mitgliedstaaten zugleich Unionsbürger. Die Unionsbürgerschaft tritt zu der Staatsangehörigkeit hinzu, ersetzt diese aber nicht. Aus der Unionsbürgerschaft folgt eine Reihe von Unionsbürgerrechten. Dazu zählen z. B. die Freizügigkeit, also das Recht, sich in jedem Mitgliedstaat aufzuhalten und frei zu bewegen (Art. 20 Abs. 2a AEUV).

159Gemäß Art. 18 AEUV ist in der EU jede Diskriminierung von EU-Bürgern aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten. Dieses allgemeine Diskriminierungsverbot stellt sicher, dass Bürger eines Mitgliedstaates in anderen Mitgliedstaaten nicht schlechter gestellt werden als die Bürger dieses Staates (sog. Inländergleichbehandlung), und wird insbesondere im Bereich der Grundfreiheiten durch besondere Diskriminierungsverbote ergänzt, die ebenfalls an die Staatsangehörigkeit bzw. die Herkunft aus einem Mitgliedstaat anknüpfen.

III. Verhältnis des Unionsrechts zum deutschen Recht

160Nach dem in Art. 5 Abs. 1 und 2 EUV enthaltenen Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung hat die EU nur diejenigen Kompetenzen, die ihr in den Gründungsverträgen übertragen wurden.

Die Entscheidung, ob der EU weitere Kompetenzen übertragen oder ihr Kompetenzbestand anderweitig verändert werden soll, verbleibt bei den Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“. Die EU hat somit – anders als der Bund in der deutschen Rechtsordnung – keine Kompetenz-Kompetenz.

 

161Der Grundsatz der Subsidiarität (Art. 5 Abs. 3 EUV) besagt, dass die EU im Falle paralleler Zuständigkeiten von EU und Mitgliedstaat nur tätig wird, sofern die gemeinschaftsrechtlichen Ziele auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind.

IV. Organe der EU

162Die EU hat sieben Organe (Art. 13 EUV): Das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, die Europäische Kommission, den Gerichtshof der Europäischen Union, die Europäische Zentralbank und den Rechnungshof.

163Das Europäische Parlament fungiert als Vertretung der Völker der Mitgliedstaaten auf europäischer Ebene. Es wird seit 1976 in alle fünf Jahre stattfindenden Europawahlen direkt von den Bürgern der Mitgliedstaaten nach dem Verhältniswahlrecht gewählt. Die Wahlen zum Europäischen Parlament sind frei, allgemein, unmittelbar und geheim.

Hinweis

Anders als die Bundestagswahlen sind die Wahlen aber nicht gleich; stattdessen entfällt auf jeden Mitgliedstaat ein bestimmtes Kontingent an Mandaten, wobei kleinere Mitgliedstaaten bevorzugt werden (Art. 14 Abs. 2 EUV).

Das Europäische Parlament wird u. a. gemeinsam mit dem Rat als Normgeber tätig und übt gemeinsam mit ihm die Haushaltsbefugnisse aus (Art. 14 Abs. 1 EUV).

164Der Europäische Rat (Art. 15 EUV) setzt sich aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten, dem hauptamtlich tätigen Präsidenten des Europäischen Rats und dem Präsidenten der Kommission zusammen. Er gibt die für die Entwicklung der EU notwendigen Impulse und legt die allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten fest, beteiligt sich aber nicht an der Gesetzgebung. Er entscheidet grundsätzlich im Konsens.

165Der Rat (auch: „Rat der Europäischen Union“ oder „Ministerrat“) besteht aus je einem Minister der Mitgliedstaaten, wobei jeweils die für ein Sachgebiet zuständigen Fachminister im Rat zusammentreten. Der Rat beteiligt sich an der Gesetzgebung. Er beschließt grundsätzlich mit qualifizierter Mehrheit i. S. d. Art. 16 Abs. 3 EUV.

166Die Europäische Kommission besteht aus derzeit 28 Kommissaren (ein Kommissar pro Mitgliedstaat). Zu ihren Hauptaufgaben zählt zunächst die Einleitung von Gesetzgebungsverfahren durch Ausübung des nur ihr zustehenden Initiativrechts. Als sog. „Hüterin der Verträge“ ist die Kommission aber auch für die Ausführung des Europarechts zuständig. Sofern die Durchführung durch die Mitgliedstaaten erfolgt, wird dies von der Kommission überwacht.

167Von den Verfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) sollen hier nur die wichtigsten dargestellt werden.


Im Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 ff. AEUV entscheidet der EuGH auf Antrag eines Mitgliedstaates oder der Kommission über die Verletzung von Europarecht durch einen Mitgliedstaat.


Im Vorabentscheidungsverfahren gem. Art. 267 AEUV entscheidet der EuGH auf Antrag eines mitgliedstaatlichen Gerichts über die Auslegung der Verträge und über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der EU. Die Gerichte der Mitgliedstaaten sind zur Vorlage berechtigt, das jeweils höchste mitgliedstaatliche Gericht verpflichtet.


Mit der Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV kann die Feststellung der Rechtswidrigkeit von Handlungen der EU-Organe begehrt werden.

168Die Europäische Zentralbank (EZB) ist ein nach dem Vorbild der Deutschen Bundesbank konzipiertes, politisch unabhängiges Organ der EU. Die EZB und die Zentralbanken der Mitgliedstaten (in Deutschland: die Bundesbank) bilden gemeinsam das Europäische System der Zentralbanken (ESZB). Vorrangiges Ziel des ESZB ist gem. Art. 127 AEUV die Gewährleistung der Preisstabilität. Die EZB und die Zentralbanken der Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist (das sog. Eurosystem) betreiben darüber hinaus die gemeinsame Währungspolitik der EU. Im Zuge der Einrichtung der sog. Bankenunion wurden der EZB schließlich u. a. Aufgaben im Bereich der Bankenaufsicht über Banken der Mitgliedstaaten übertragen.

V. Handlungsformen und Verfahren

169Welche der fünf Handlungsformen zulässig ist, bestimmt sich nach den Vorschriften des Primärrechts über die jeweiligen Sachgebiete. Die Verordnung entspricht in ihren Wirkungen formellen Gesetzen, da sie ihrem gesamten Umfang nach verbindlich ist. Die Richtlinie gibt den Mitgliedstaaten ein innerhalb einer Umsetzungsfrist zu erreichendes (Normsetzungs-)Ziel vor, überlässt ihnen aber die Art und Weise der Zielverwirklichung. Der Beschluss trifft, anders als Verordnungen und Richtlinien, konkrete rechtsverbindliche Regelungen für den Einzelfall, z. B. ein Bußgeld wegen eines Kartellrechtsverstoßes. Empfehlungen und Stellungnahmen sind rechtlich nicht verbindlich.

VI. Europäische Grundfreiheiten und Grundrechte
1. Die Grundfreiheiten

170Das europäische Primärrecht kennt fünf sog. Grundfreiheiten: die Warenverkehrsfreiheit, die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Niederlassungsfreiheit, die Dienstleistungsfreiheit und die Kapitalverkehrsfreiheit.

Bei den Grundfreiheiten handelt es sich um wirtschaftliche Rechte der Unionsbürger, die deren wirtschaftliche Betätigungen in der EU vor staatlichen Eingriffen schützen und so zugleich zur Verwirklichung des Binnenmarkts beitragen sollen. Alle Grundfreiheiten zielen im Kern auf eine Gleichstellung aller EU-Bürger bei der wirtschaftlichen Betätigung in den EU-Mitgliedstaaten. Sie können daher auch als besondere Ausprägungen des allgemeinen Diskriminierungsverbots gesehen werden.

171Ob eine Maßnahme eine Grundfreiheit verletzt, ist – vergleichbar einer Grundrechtsprüfung – in den drei Schritten mit Anwendungsbereich, Eingriff und Rechtfertigung zu prüfen. Im Anwendungsbereich ist zunächst zu klären, ob Spezialvorschriften den Anwendungsbereich der Grundfreiheit ausschließen. Sodann ist die Eröffnung des sachlichen (dazu im Einzelnen sogleich) und persönlichen Schutzbereiches zu prüfen. Geschützt sind grundsätzlich alle Unionsbürger. Einige Grundfreiheiten schützen darüber hinaus auch Drittstaatsangehörige und juristische Personen, die in einem der Mitgliedstaaten gegründet wurden und ihren satzungsmäßigen Sitz, die Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der EU haben (vgl. Art. 54 AEUV).

172Die Warenverkehrsfreiheit (Art. 28 ff. AEUV) umfasst zunächst ein Verbot von Zöllen und von mengenmäßigen Ein- und Ausfuhrbeschränkungen für den Warenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten. Ebenso sind „Maßnahmen gleicher Wirkung“ (Art. 34 AEUV) verboten, wobei dieses Kriterium i. S. d. Dassonville-Formel weit auszulegen ist (Rn. 178). Der Begriff der Ware erfasst in Abgrenzung zu anderen Grundfreiheiten grundsätzlich körperliche Gegenstände, die einen wirtschaftlichen Wert haben und Gegenstand von Handelsgeschäften sein können, aber z. B. auch elektrische Energie.

173Als eine Säule der Freiheit des Personenverkehrs im Binnenmarkt verleiht die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 ff. AEUV) den Unionsbürgern das Recht auf Aufnahme und Ausübung einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit in allen Mitgliedstaaten. Darunter fallen auch Kurzzeitbeschäftigungen und die Suche nach Arbeit. An die Arbeitnehmerfreizügigkeit sind ein Aufenthaltsrecht im Gaststaat sowie das Recht auf Gleichbehandlung mit Inländern geknüpft, das u. a. im Hinblick auf inländische Sozialleistungen relevant wird.

174Als eine weitere Säule der Personenverkehrsfreiheit verleiht die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 ff. AEUV) das Recht auf Aufnahme und Ausübung einer selbstständigen Tätigkeit. Eine Niederlassung ist dabei eine auf unbestimmte Zeit angelegte, in oder durch eine feste Einrichtung ausgeübte wirtschaftliche Tätigkeit. Die Niederlassungsfreiheit schützt insbesondere auch juristische Personen, was es z. B. Unternehmern im Ergebnis ermöglicht, für eine wirtschaftliche Betätigung eine Rechtsform aus einem anderen Mitgliedstaat zu wählen (z. B. die englische Limited).

175Die Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 ff. AEUV) betrifft – in Abgrenzung zu den anderen Grundfreiheiten – selbstständige und i. d. R. gegen Entgelt erbrachte Leistungen, die nicht wie bei der Niederlassungsfreiheit mit oder durch eine feste Einrichtung in einem anderen Mitgliedstaat erbracht werden. Geschützt sind vier Modalitäten:


Die Grenzüberschreitung zur Erbringung einer Dienstleistung (aktive Dienstleistungsfreiheit),


die Grenzüberschreitung zur Entgegennahme einer Dienstleitung (passive Dienstleistungsfreiheit),


die Grenzüberschreitung lediglich der Dienstleistung selbst (sog. Korrespondenzdienstleistung, z. B. Internetdienstleistungen wie z. B. Online-Glücksspiel) und


die Erbringung und Empfangnahme einer Dienstleistung in einem dritten Mitgliedstaat (str.).

176Als Gegenstück zum freien Waren- und Dienstleistungsverkehr ermöglicht die Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 ff. AEUV) den freien Verkehr von Kapital und damit insbesondere auch der Gegenleistung (Zahlungsverkehr) für Waren- und Dienstleistungen.

177Alle Grundfreiheiten setzen in „räumlicher“ Hinsicht voraus, dass ein sog. grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegt. Damit sich ein Unionsbürger auf die Grundfreiheit berufen kann, muss seine wirtschaftliche Tätigkeit also in einem Bezug zu einem anderen EU-Mitgliedstaat stehen; reine Inlandssachverhalte werden nicht erfasst.

Beispiel Soweit das deutsche Recht inländische Handwerker aufgrund des sog. „Meisterzwanges“ schlechter stellt als ausländische Handwerker, die kraft ihrer Dienstleistungsfreiheit ohne „Meisterzwang“ in Deutschland tätig werden können, ist dies als sog. „Inländerdiskriminierung“ EU-rechtlich ohne Bedeutung.

178In den Schutzbereich der Grundfreiheiten kann durch jede staatliche Maßnahme eingegriffen werden, die geeignet ist, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu beeinträchtigen (sog. Dassonville-Formel). Darunter kann praktisch jede staatliche Maßnahme fallen.

179Grundfreiheiten sind im Kern sog. Marktzugangsrechte, die also den Berechtigten einen diskriminierungsfreien Zugang zu den nationalen Märkten jedes Mitgliedstaates einräumen wollen. Unter Berücksichtigung dieser Zielsetzung schränkt die sog. Keck-Formel die sehr weite Dassonville-Formel wieder ein: Demnach liegt kein Eingriff in eine Grundfreiheit vor, wenn es sich bei der staatlichen Maßnahme um eine bloße Verkaufsmodalität handelt, die den Marktzugang weder rechtlich noch tatsächlich behindert und unterschiedslos für alle Marktteilnehmer aus allen Mitgliedstaaten gilt.

Beispiel Ladenschlusszeiten treffen als Verkaufsmodalitäten alle gleich und sind keine Eingriffe in Grundfreiheiten. Dagegen trifft ein Internetverkaufsverbot Anbieter ohne Sitz im Inland schwerer als Anbieter mit einem solchen Sitz. Ein Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit liegt vor. Auch Mindestlohnregelungen treffen auswärtige Anbieter, die Lohnkostenvorteile im Wettbewerb nutzen wollen, nicht „unterschiedslos“, sondern behindern deren Marktzugangschancen. Ein Eingriff – hier in die Dienstleistungsfreiheit –liegt vor.

 

180Das Unionsrecht kennt verschiedene Rechtfertigungsgründe für Eingriffe in Grundfreiheiten. Geschriebene Rechtfertigungsgründe sind etwa Art. 36 AEUV oder die Europäischen Grundrechte. Daneben hat der EuGH aber in ständiger Rechtsprechung auch eine Rechtfertigung aufgrund ungeschriebener zwingender Gründe des Allgemeinwohls (Cassis de Dijon-Formel) anerkannt, die aber nicht diskriminierend wirken dürfen. Hierunter fallen z. B. Erwägungen des Verbraucherschutzes. Stets erforderlich bleibt die Verhältnismäßigkeit der Regelungen, wobei der EuGH – anders als das BVerfG – stets auch die „Kohärenz“ des Eingriffs prüft, also die „Stimmigkeit“ und „Schlüssigkeit“ der Beschränkung.

Beispiel Unzulässig ist danach etwa ein suchtpräventiv begründetes Staatsmonopol für Glücksspiele, wenn der Staat als Anbieter dabei aus fiskalischen Gründen zum Spielen „anheizt“.

ABB. 6: Grundfreiheiten