Grundlagen Recht für Wirtschaftswissenschaftler

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2. Exekutive

99Die Exekutive unterteilt sich in Regierung und Verwaltung. Die Funktion der Regierung (Gubernative) besteht in der politischen Leitung des Staates nach innen und außen. Die Organisation und die Befugnisse der Bundesregierung wurden bereits oben erläutert. Die Landesregierungen erfüllen parallele Funktionen auf Länderebene. Die Verwaltung wird üblicherweise negativ definiert, d. h. Verwaltung ist alles, was weder Gesetzgebung noch Rechtsprechung noch Regierung ist. Zentrale Aufgabe der Verwaltung ist die Umsetzung der Gesetze („ausführende Gewalt“). Dazu gehört vor allem die Umsetzung in konkreten Einzelfällen, aber z. B. auch bestimmte planerische Gestaltungsentscheidungen.

100Wie bei der Gesetzgebung bedarf es auch bei der Umsetzung der Gesetze (Einrichtung der Behörden und Gesetzesvollzug) durch die Verwaltung einer Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern. Auch hierbei folgt das Grundgesetz der bereits bei der Gesetzgebung dargestellten Regelung, dass die Länder zuständig sind, soweit nicht das Grundgesetz etwas anderes sagt (Art. 83 GG). Diesbezügliche „Ausnahmeregelungen“ finden sich bei


der sog. bundeseigenen Verwaltung (Art. 86 ff. GG),


der Bundesauftragsverwaltung von Bundesgesetzen durch die Länder (Art. 85 GG) sowie


den begrenzten Interventionsrechten des Bundes (z. B. Rechtsaufsicht) im Rahmen der grundsätzlich autonomen Ausführung von Bundesgesetzen durch die Länder gem. Art. 84 GG.

101Keine Regelungen existieren für die Ausführung von Landesgesetzen, die damit immer eigene Angelegenheit der Länder ist.

102Üben Bund und Länder Verwaltungstätigkeit durch ihre eigenen Behörden aus, spricht man von (bundes- bzw. landes-)unmittelbarer Verwaltung. Bestimmte Aufgaben sind jedoch durch das Grundgesetz oder aufgrund formellen Gesetzes auf eigenständige juristische Personen des Öffentlichen Rechts übertragen worden. Man spricht dann von mittelbarer (Bundes- bzw. Landes-)Verwaltung.

Beispiele „Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft“ (= lokale Belange wie etwa die örtliche Bauleitplanung) sind den Gemeinden und Gemeindeverbänden (den (Land-)Kreisen und Landschaftsverbänden) zur Selbstverwaltung übertragen worden (Art. 28 Abs. 2 GG).

103Die unmittelbare Verwaltung ist hierarchisch aufgebaut. Sie umfasst in den Ländern üblicherweise drei Ebenen: die obersten Behörden (Ministerien), die Mittelbehörden (Bezirksregierungen) und die unteren Behörden.

ABB. 4: Die unmittelbare Landesverwaltung


104Im Bereich der mittelbaren Staatsverwaltung ist die durch Art. 28 Abs. 2 GG garantierte kommunale Selbstverwaltung hervorzuheben. Diese Selbstverwaltungsgarantie umfasst zum einen, dass es Gemeinden und Gemeindeverbände überhaupt gibt (sog. institutionelle Rechtssubjektsgarantie). Ferner schützt Art. 28 Abs. 2 GG das Recht speziell der Gemeinden zur eigenverantwortlichen Regelung aller Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft. Den Kommunen wird über Art. 93 Abs. 1 Satz 4b GG und parallele Gewährleistungen der Landesverfassungen das Recht zuerkannt, gesetzliche Eingriffe in die Selbstverwaltung vor dem Bundesverfassungsgericht bzw. dem Landesverfassungsgericht zur Prüfung zu bringen (kommunale Verfassungsbeschwerde).

105Die innere Organisation der Gemeinde richtet sich nach den landesrechtlichen Gemeindeordnungen. Üblicherweise hat die Gemeinde einen Hauptverwaltungsbeamten (Bürgermeister) und eine Bürgervertretung (Rat). Die Bürger der Gemeinde können – je nach landesrechtlicher Ausgestaltung – Rat und/oder Bürgermeister in Kommunalwahlen wählen.

3. Rechtsprechung

106Die Rechtsprechung wird durch die Gerichte von Bund und Ländern ausgeübt. Die sog. „Justizgewährungspflicht“ des Staates ist Kehrseite des staatlichen Gewaltmonopols. Nur wenn der Staat Regeln zur Durchsetzung der Gesetze schafft, kann er von den Bürgern Gesetzesgehorsam verlangen. Parallel hierzu vermittelt Art. 19 Abs. 4 GG ein Grundrecht auf gerichtlichen Schutz gegen Rechtsverletzungen speziell durch den Staat.

107Anvertraut wird die rechtsprechende Gewalt den Richtern (Art. 92 GG). Diese sind gem. Art. 97 Abs. 1 GG unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen. Ihr Status ist verfassungsrechtlich abgesichert (vgl. Art. 97 Abs. 2 GG).

108Das Grundgesetz kennt entsprechend Art. 95 Abs. 1 GG fünf sog. „Rechtswege“ oder Fachgerichtsbarkeiten, nämlich


die ordentliche Gerichtsbarkeit (zuständig für zivilrechtliche Streitigkeiten und das Strafrecht),


die Arbeitsgerichtsbarkeit (zuständig für arbeitsrechtliche Streitigkeiten),


die Sozialgerichtsbarkeit (zuständig für den Bereich der Sozialversicherungen),


die Finanzgerichtsbarkeit (zuständig für Steuern) und


die Verwaltungsgerichtsbarkeit (zuständig für verwaltungsrechtliche Streitigkeiten).

Auch innerhalb dieser Fachgerichtsbarkeiten findet eine „vertikale Gewaltenteilung“ zwischen Bund und Ländern statt. Diese folgt erneut der bekannten Regel, dass die Länder zuständig sind, soweit das Grundgesetz nichts anderes sagt. Als solche Sonderregelung normiert Art. 95 Abs. 1 GG die Zuständigkeit des Bundes zur Errichtung der obersten Bundesgerichte innerhalb der fünf Gerichtsbarkeiten. Die übrigen („Instanz“-)Gerichte innerhalb dieser Gerichtsbarkeiten sind also stets Landesgerichte.

109Von den Fachgerichtsbarkeiten zu trennen ist die Verfassungsgerichtsbarkeit, die auf Bundesebene durch das BVerfG ausgeübt wird. Wichtigste Verfahrensart ist hierbei die Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Satz 4a GG.

Kontrollfragen


1.Erklären Sie den Begriff „Verfassungsorgan“ und benennen Sie die zentralen Verfassungsorgane des Grundgesetzes!


2.Benennen Sie die zentralen Wahlrechtsgrundsätze! Wo gelten diese?


3.Erläutern Sie den Begriff des „freien Mandats“ der Abgeordneten!


4.Was sind Ausschüsse und worin liegt ihre Aufgabe?


5.Wie verteilt das Grundgesetz die Gesetzgebungszuständigkeiten zwischen Bund und Ländern?


6.Was ist der Unterschied zwischen Einspruchs- und Zustimmungsgesetzen?


7.Wann ist ein Gesetz ein Zustimmungsgesetz?


8.Kann der Bundespräsident die Ausfertigung eines Gesetzes (Art. 82 GG) verweigern?


9.Wer erlässt Rechtsverordnungen?


10.Wer ist für die Ausführung der Gesetze zuständig?


11.Was versteht man unter dem Begriff der „mittelbaren Staatsverwaltung“?


12.Was garantiert die kommunale Selbstverwaltung?


13.Welche wichtige Funktion hat die Rechtsprechung?


14.Was bedeutet „Unabhängigkeit der Richter“ nach Art. 97 Abs. 1 GG?


15.Welche Gerichtsbarkeiten gibt es?

§ 5 Grundlagen der Finanzverfassung
I. Grundlagen

110Der Staat finanziert sich über öffentliche Abgaben der Bürger. Man unterscheidet vier Arten: Steuern, Beiträge, Gebühren und Sonderabgaben.

 

Steuern sind Geldleistungen, die nicht eine Gegenleistung für eine besondere Leistung darstellen und von einem öffentlich-rechtlichen Gemeinwesen zur Erzielung von Einnahmen zur Deckung des allgemeinen Finanzbedarfs hoheitlich auferlegt werden.

Beispiele Einkommenssteuer, Gewerbesteuer, Umsatzsteuer, Mineralölsteuer, Hundesteuer.


Beiträge sind Geldleistungen, die für die Bereitstellung einer besonderen Gegenleistung (Möglichkeit der Benutzung von besonderen Einrichtungen oder der Ausnutzung besonderer Vorteile) erhoben werden, unabhängig davon, ob diese auch tatsächlich in Anspruch genommen werden.

Beispiele Erschließungsbeitrag, Rundfunkbeitrag, Studienbeitrag, Straßenausbaubeitrag.


Gebühren sind Geldleistungen, die nach dem Prinzip von individualisierbarer Leistung und Gegenleistung entweder für besondere öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit einer Behörde (sog. Verwaltungsgebühren) oder für die Inanspruchnahme sonstiger öffentlich-rechtlicher Dienstleistungen (sog. Benutzungsgebühren) erhoben werden.

Beispiele Abfallgebühr, Abwassergebühr, Passausstellungsgebühr.


Sonderabgaben sind Geldleistungen, die in Erhebung und Verwendung zweckgebunden sind, nicht von der Gesamtheit der Steuerschuldner, sondern den Angehörigen einer bestimmten Gruppe erhoben werden und deren Aufkommen nicht in den allgemeinen Staatshaushalt fließt. Zugleich wohnt ihnen nicht eine Gegenleistungskomponente für einen konkreten individuellen Vorteil inne.

II. Steuergesetzgebung

111Die Kompetenzen für die Steuergesetzgebung sind – dem allgemeinen Schema folgend (Rn. 88 ff.) – zwischen Bund und Ländern aufgeteilt. Der Bund ist ausschließlich zuständig für den Bereich der Zölle und Finanzmonopole (vgl. Art. 105 Abs. 1 GG). Im Übrigen besteht eine konkurrierende Gesetzgebung des Bundes für die übrigen Steuern, wenn dem Bund das Aufkommen dieser Steuern ganz oder z. T. zusteht oder die Erforderlichkeit einer bundeseinheitlichen Regelung i. S. d. Art. 72 Abs. 2 GG besteht (vgl. Art. 105 Abs. 2 GG). In diesen Fällen ist aber eine Zustimmung des Bundesrats erforderlich, wenn das Steueraufkommen den Ländern oder den Gemeinden (bzw. den Gemeindeverbänden) ganz oder z. T. zufließt (Art. 105 Abs. 3 GG).

112Die Gesetzgebungskompetenz der Länder erstreckt sich auf die nicht nach Art. 105 Abs. 2 GG der Gesetzgebungskompetenz des Bundes überantworteten Steuern. Außerdem sind sie zuständig für die örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern, solange und soweit sie nicht bundesgesetzlich geregelten Steuern gleichartig sind (Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG). Ferner haben sie die Befugnis zur Bestimmung des Steuersatzes bei der Grunderwerbssteuer (Art. 105 Abs. 2a Satz 2 GG).

113Die Gemeinden haben das sog. Hebesatzrecht, d. h. das Recht zur Festlegung des Faktors, der zur Ermittlung der Steuerschuld mit dem Steuermessbetrag multipliziert wird, für die Grundsteuer und die Gewerbesteuer, vgl. Art. 106 Abs. 6 Satz 2 GG. Ferner wird den Gemeinden durch Landesrecht regelmäßig das Recht zur Festsetzung kommunalen Verbrauch- und Aufwandsteuern überwiesen.

III. System der Einnahmenverwendung

114Die aus den Abgaben erzielten Einnahmen werden zwischen Bund, Ländern und Gemeinden aufgeteilt (sog. Trennsystem). Nach Art. 106 Abs. 1 GG stehen dem Bund die dort aufgelisteten Einnahmen zu, also u. a. Zölle, die Verbrauchsteuern (wenn nicht den Ländern zugewiesen), die Straßengüterverkehrsteuer, die Kfz-Steuern und die Kapitalverkehrsteuer. Nach Art. 106 Abs. 2 GG steht den Ländern das Aufkommen aus der Vermögensteuer, der Erbschaftsteuer, der Biersteuer, den Abgaben der Spielbanken und der Verkehrssteuer (soweit nicht dem Bund zugewiesen) zu. Nach Art. 106 Abs. 5 bis 6 GG erhalten die Gemeinden Anteile am Aufkommen der Einkommensteuer und der Umsatzsteuer, ferner steht ihnen das (gesamte) Aufkommen aus der Grundsteuer, der Gewerbesteuer und der örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern zu.

115Das Aufkommen der Einkommensteuer, der Körperschaftsteuer und der Umsatzsteuer steht (nach Abzug des Gemeindeanteils) dem Bund und den Ländern gemeinsam zu (Art. 106 Abs. 3 GG, sog. Verbundsystem). Die Verteilung erfolgt hälftig, wenn nicht gesetzlich etwas Abweichendes geregelt ist.

IV. Haushalt und Budgetrecht des Bundestags

116Die durch Steuern erzielten Einnahmen werden nach Maßgabe eines Haushaltsplanes ausgegeben, der durch den Bundestag jeweils für das kommende Jahr gesetzlich festgestellt wird.

117Die Gesamtverantwortung für die Haushaltspolitik ist essenzielle Kompetenz des Bundestags und darf ihm nicht entzogen werden. Ebenso darf sich der Bundestag seiner haushaltspolitischen Gesamtverantwortung nicht selbst entledigen. Eine Abwälzung der wesentlichen haushaltspolitischen Entscheidungen auf Dritte, also eine Haftung Deutschlands für haushaltspolitische Grundentscheidungen Dritter, ist damit unzulässig.

Beispiel Dies ist zuletzt bei der Euro-Rettung relevant geworden. Der Bundestag darf sich an „Euro-Rettungsschirmen“ wie dem ESM nur beteiligen, wenn sichergestellt ist, dass er der Haftung der Höhe nach zugestimmt hat. Dies kann insbesondere durch die Aufnahme von verbindlichen Haftungshöchstgrenzen geschehen.

V. Sonderfragen der Sonderabgabe

118Die Zulässigkeit von Sonderabgaben ist wiederholt Gegenstand von Kontroversen geworden. Da sie nur von einem Teil der Bevölkerung erhoben werden, durchbrechen sie den Grundsatz der steuerlichen Gleichbehandlung aus Art. 3 Abs. 1 GG. Dies ist nur gerechtfertigt, wenn sich die Sonderabgabe an eine homogene Gruppe richtet, die in ei­ner spezifischen Beziehung (sog. Sachnähe) zu dem mit der Abgabenerhebung verfolgten Zweck steht und die deshalb eine besondere „Finanzierungsverantwortung“ hat. Das erhobene Aufkommen ist gruppennützig zu verwenden.

Beispiel Wegen fehlender Finanzierungsverantwortung unzulässig war z. B. der sog. Kohlepfennig, eine Sonderabgabe, die alle Bürger zur Subventionierung der Steinkohleförderung an einen Sonderfonds zu zahlen hatten. Die Allgemeinheit war als solche nicht besonders für die Finanzierung der Steinkohleförderung verantwortlich.

Die Finanzierung einer „aufgedrängten“ staatlichen Förderung im Wege der Sonderabgabe kommt nur bei „evidentem Nutzen“ für die belastete Gruppe in Betracht.

Beispiel Verfassungswidrig war demnach eine Sonderabgabe zur Finanzierung einer zentralen Werbung für die Landwirtschaft, die von den Landwirten errichtet werden sollte.

Kontrollfragen


1.Wie finanziert sich der Staat?


2.Wodurch unterscheiden sich Steuern von Gebühren und Beiträgen?


3.Was sind Sonderabgaben und warum sind sie problematisch?


4.Was ist ein Haushaltsplan?


5.Was ist das Budgetrecht des Bundestags?

§ 6 Grundrechte
I. Begriff, Entwicklung und Rechtsquellen

119Grundrechte sind ihrer Grundidee nach Abwehrrechte der Bürger gegen den Staat. Grundrechte schirmen die Freiheitssphäre der Bürger gegen ungerechtfertigte Übergriffe des Staates und seiner Untergliederungen ab. Im Grundgesetz sind Grundrechte vor allem im ersten Abschnitt (Art. 1–19 GG, sog. „Grundrechtskatalog“) formuliert. Daneben sichert das Grundgesetz in den Art. 101 ff. GG zahlreiche sog. „Justizgrundrechte“ wie das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) und das Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG). In der Verfassung verstreut finden sich darüber hinaus einige sog. „staatsbürgerliche Rechte“ wie das Wahlrecht (Art. 38 Abs. 1 GG) oder das Recht auf gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern (Art. 33 Abs. 2 GG). Gemeinsam ist diesen Grundrechten die Einklagbarkeit im Verfahren der Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG.

120Der Siegeszug der Grundrechtsidee begann mit der Zeit der Aufklärung und der bürgerlichen Revolutionen am Ende des 18. Jahrhunderts. Als erster umfassender Grundrechtskatalog im heutigen Sinne gilt die im Jahre 1776 im US-Bundesstaat Virginia erlassene Virginia Bill of Rights. In Frankreich wurde im Zuge der französischen Revolution die Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen (1789) verkündet. Erste Grundrechtsverfassung des deutschen Staates war die Weimarer Reichsverfassung von 1919. Nach dem Umsturz durch die NS-Diktatur wurden die Grundrechte der Weimarer Verfassung nach 1933 außer Kraft gesetzt. Nach den Erfahrungen des Naziterrors und der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs wurden die Grundrechte an erster Stelle in das Grundgesetz aufgenommen. Nach 1945 fanden Grundrechte unter der synonymen Bezeichnung „Menschenrechte“ auch zunehmend Einfluss in das Völker- und Europarecht. Dort stellen z. B. die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948), die Europäische Menschenrechtskonvention (1950), die beiden UN-Menschenrechtspakte (1966) und die EU-Grundrechtecharta (2000/2009) bedeutende Entwicklungsstufen dar.

II. Allgemeine Grundrechtslehren

121Systematisch wird zwischen den allgemeinen und den besonderen Grundrechtslehren unterschieden. Während sich die besonderen Grundrechtslehren mit den Besonderheiten der einzelnen Grundrechte befassen, widmen sich die allgemeinen Grundrechtslehren den gemeinsamen Grundfragen der Grundrechte, insbesondere der Frage der Grundrechtsberechtigten und -verpflichteten sowie den verschiedenen Wirkfunktionen der Grundrechte.

1. Grundrechtsberechtigte und Grundrechtsadressaten

122Die meisten Grundrechte berechtigen ohne Einschränkung alle Menschen (sog. Jedermannsgrundrechte).

Beispiel Das Recht auf Leben (vgl. z. B. den Wortlaut des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG: „Jeder…“).

Mitunter sind Grundrechte als sog. „Deutschenrechte“ bzw. „Bürgerrechte“ formuliert, sollen also nur deutsche Staatsangehörige berechtigten.

Beispiel Die Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG, die Berufsfreiheit nach Art. 12 GG, die Vereinigungsfreiheit nach Art. 9 Abs. 1 GG.

123Freilich bleiben Ausländer in den genannten Bereichen keineswegs schutzlos, da sie sich nach h. M. insoweit auf Art. 2 Abs. 1 GG als sog. Auffanggrundrecht berufen können. Für EU-Ausländer ergibt sich aus dem unionsrechtlichen Diskriminierungsverbot (vgl. Rn. 159) eine unmittelbare Anwendung von Deutschengrundrechten.

124Darüber hinaus können auch inländische juristische Personen und Personengesellschaften des Privatrechts Träger von Grundrechten sein, soweit diese Grundrechte „ihrem Wesen nach“ auf juristische Personen anwendbar sind (Art. 19 Abs. 3 GG).

Beispiel Eine GmbH mit Sitz in Düsseldorf kann sich auf die Eigentumsfreiheit nach Art. 14 Abs. 1 GG berufen, nicht aber auf das Recht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.

Eine juristische Person ist nach (noch) h. M. „inländisch“, wenn sie ihren Sitz in Deutschland hat, wobei auch hier das EU-Recht eine Gleichbehandlung von EU-Unternehmen mit ansässigen Unternehmen gebietet. Juristische Personen des Öffentlichen Rechts können, da sie als „Staat“ grundrechtsverpflichtet sind, grundsätzlich nicht Träger von bestimmten Grundrechten sein. Allerdings gibt es vereinzelte Ausnahmen, in denen auch öffentliche Rechtsträger in einer „grundrechtstypischen Gefährdungslage“ sind, da sie letztlich der Wahrnehmung grundrechtlicher Freiheiten dienen sollen. Ihnen wird insoweit eine Grundrechtsberechtigung zuerkannt.

 

Beispiel Staatliche Universitäten dienen der Wahrnehmung der grundrechtlich geschützten Wissenschaftsfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 GG. In dieser Tätigkeit sind sie ebenso durch staatlichen Zugriff gefährdet wie Private. Folglich wird ihnen für Art. 5 Abs. 3 GG Grundrechtsberechtigung zuerkannt.

125Verpflichtete der Grundrechte („Grundrechtsadressaten“) sind alle Träger staatlicher (= hoheitlicher) Gewalt (Art. 1 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 GG), also Bund, Länder und alle öffentlich-rechtlichen Selbstverwaltungskörperschaften. Grundrechtsverpflichtet sind auch die vom Staat mit der Durchführung hoheitlicher Funktionen „Beliehene“.

Beispiel Durchführung der Kfz-Hauptuntersuchung durch den TÜV-Sachverständigen.

126Staatliche Hoheitsträger sind auch dann an Grundrechte gebunden, wenn sie in den Formen des Privatrechts handeln (Rn. 223). Es gilt der Grundsatz: „Keine Flucht ins Privatrecht“, d. h. ein Hoheitsträger kann seinen Verpflichtungen aus den Grundrechten nicht dadurch „entkommen“, dass er privatrechtlich handelt. Man spricht insoweit vom „Verwaltungsprivatrecht“.

Beispiel Die Stadtwerke GmbH ist bei der Festlegung ihrer privatrechtlichen Tarife an den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG gebunden und kann keine ungerechtfertigten Tarifungleichheiten vorsehen.

Die Grundrechtsbindung trifft auch Gesellschaften in gemeinschaftlicher Trägerschaft von Staat und Privaten (sog. gemischt-wirtschaftliche Unternehmen), soweit diese im überwiegenden Anteilsbesitz des Staates stehen.