Für das Herz und die große Liebe: Arztroman Sammelband 5 Romane

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24. Kapitel

„Ich finde es kindisch, wie Sandra sich benimmt“, sagte Dorothee zu Lisa. Die beiden folgten nebeneinander dem gewundenen Weg.

„Oliver hat sie enttäuscht“, meinte Lisa. „Sie hat ihm total vertraut, und er…“

„Was hat er denn schon getan? Ein bisschen spazieren gefahren ist er mit mir.“

„Während sie im Krankenhaus war.“

„Sie wollte ihn ja nicht sehen.“ Das klang trotzig.

„Weil sie während dieser Schälkur keinen besonders schönen Anblick bot.“

„Darüber hätte Oliver doch nobel hinweggesehen“, sagte Dotty. „Er ist sowieso blind vor Liebe.“

„Immer noch?“

Dotty nickte bestimmt. „Immer noch.“

„Obwohl Sandra ihn so hartherzig zappeln lässt?“

Dotty verscheuchte mit wedelnder Hand eine lästige Fliege. „Manche Menschen sind zum Leiden geboren.“

„Darf ich dir eine sehr persönliche Frage stellen?“ Lisa fand, dass die Gelegenheit dazu sehr günstig war.

„Klar“, antwortete Dorothee. „Warum nicht?“

„Hast du mit Oliver – geschlafen?“

„Nein, habe ich nicht. Wir waren nahe dran, als Sandra auf dieser Beziehungspause bestand, aber es ist dann doch nichts daraus geworden, weil Oliver Sandra einfach zu gernhat.“

„Ist doch verrückt, dass die beiden sich nicht versöhnen.“

Dotty zuckte die Schultern. „Gegen die Dummheit ist kein Kraut gewachsen.“

„Bist du noch an Oliver interessiert?“

Dotty schüttelte den Kopf. „Überhaupt nicht mehr. Sandra kann ihn gerne wiederhaben.“

„Du funkst nicht dazwischen, wenn ich versuche, die zwei wieder zusammenzubringen?“

„Mit Sicherheit nicht“, antwortete Dotty. „Wenn du willst, helfe ich dir sogar dabei.“

„Das ist ein Wort. Wir fangen am besten gleich oben in der Bärenlochhütte an.“

„Einverstanden“, sagte Dorothee Simonis, „aber wir müssen vorsichtig ans Werk gehen, denn wenn Sandra merkt, was wir vorhaben, macht sie die Schotten dicht und lässt niemanden mehr an sich heran.“

Lisa lächelte zufrieden. Sie hätte nicht gedacht, dass Dotty sich mal mit ihr verbünden würde – noch dazu zu einem solchen Zweck.

25. Kapitel

Oliver Wiechert riss entsetzt die Augen auf. „Sandra!“, brüllte er. Beinahe hätte er den Halt verloren und wäre ebenfalls abgestürzt. „O mein Gott!“

Wie ein Stein war Sandra an ihm vorbeigesaust, und das dumpfe Aufprallgeräusch, das gleich danach folgte, zerriss ihm fast das Herz.

„O nein …! Sandra! O Himmel …! Karsten! Sandra ist abgestürzt!“

Hastig kletterten sie zu der Freundin hinunter. Angst und Panik verzerrten Olivers Gesicht. Er rutschte mit dem linken Fuß ab, hielt sich mit beiden Händen an einer Felsnase fest, schürfte sich die Handrücken auf, doch das spürte er nicht. Der Schmerz, den die Sorge um Sandra in ihm freigesetzt hatte, war viel größer. „Sandra!“, stieß er krächzend hervor.

Julian Krautmann war auch schwer geschockt. Er hatte befürchtet, dass Sandra sich irgendwann übernehmen würde, gleichzeitig aber hatte er gehofft, dass es nicht dazu kommen würde.

Er hatte diese Klettertour vor allem deshalb mitgemacht, weil er sich eingebildet hatte, ein wenig auf Sandra aufpassen zu können.

Er hatte sie zurückpfeifen wollen, sobald er merkte, dass sie sich zu viel zumutete. Schutzengel hatte er spielen wollen, aber es war nicht dazu gekommen.

Das Schicksal hatte schneller und unverhoffter zugeschlagen, als er zu reagieren vermochte. Wie hatte er glauben können, Sandra Falkenberg vor Schaden bewahren zu können?

Wofür hast du dich eigentlich gehalten?, verhöhnte ihn nun eine innere Stimme, während er so rasch wie möglich zu Sandra hinunterkletterte. Sie regte sich nicht, lag auf dem Rücken, ihre Augen waren geschlossen. „Sandra!“ Oliver warf sich neben ihr auf die Knie.

„Nicht bewegen!“, rief Karsten Rüge. „Wir dürfen sie nicht bewegen. Sie kann innere Verletzungen haben.“

Julian bewies, dass er der Sohn eines Arztes war. Er legte zwei Finger auf Sandras Halsschlagader und fühlte ihren Puls. „Sie ist nur ohnmächtig“, informierte er die andern.

„Wir dürfen ihre Lage nicht verändern“, sagte Karsten noch einmal eindringlich.

„Mein Gott, wie können wir sie nur dazu bringen, dass sie zu sich kommt?“, stöhnte Oliver Wiechert verzweifelt.

„Schmeiß jetzt nicht die Nerven weg, Oliver“, sagte Karsten rau.

„Sandra!“, rief Julian Krautmann. „Sandra, hörst du mich? Sandra!“

„Sandra, bitte wach auf!“, flehte Oliver. Er sah Julian und Karsten verstört an. „Wir müssen irgendetwas tun! „Ein leiser Seufzer kam über Sandras Lippen.

„Sie – sie kommt zu sich!“, stieß Oliver Wiechert aufgewühlt hervor. „Sandra! Sandra!“

„Lass ihr Zeit“, sagte Karsten Rüge.

Julian hob den Kopf und schaute nach oben. Wie hoch mochte Sandra abgestürzt sein? Acht Meter? Zehn? Sie hätte tot sein können!

„Sandra!“, rief Oliver Wiechert unglücklich. „Sieh mich an! Sieh mich bitte, bitte an!“

Ihre Augenlider zuckten. Es schien sie unendlich viel Kraft zu kosten, sie zu heben. Ihr Blick war seltsam leer. Sie war geistig noch nicht ganz da.

„Sandra, o Sandra!“, schluchzte Oliver.

Sie musterte ihn verloren, schien seinen Schmerz und seine Verzweiflung nicht zu verstehen. „Was – ist – passiert?“, fragte sie stockend. Ihre Stimme war so leise, dass sie kaum zu hören war.

„Abgestürzt bist du“, sagte Oliver heiser. „Weißt du’s nicht?“

„Abgestürzt …“, hauchte sie.

„Hast du Schmerzen?“, fragte Karsten Rüge.

„Schmerzen?“, echote Sandra.

„Ja. Tut dir irgendetwas weh?“

Sandra schloss kurz die Augen. „Ich weiß nicht.“

„Versuch deine Beine vorsichtig zu bewegen“, verlangte Karsten.

„Ich glaube, das kann ich nicht.“

„Versuche es, Sandra.“ Karsten beobachtete ihre Beine, doch sie bewegten sich nicht. „Die Arme“, sagte er. „Versuch die Arme zu bewegen.“ Sandra gehorchte, und sie konnte die Arme heben.

„Noch mal die Beine“, sagte Karsten.

„Ich spüre meine Beine nicht“, sagte Sandra.

Oliver stieß die Luft entsetzt aus. „Wenn sie ihre Beine nicht bewegen kann, wenn sie sie nicht einmal spürt …“

„Sei still, Oliver“, zischte Karsten. Er wollte nicht, dass Sandra hörte, was Oliver vermutete – und was auch er befürchtete.

„Sie ist auf den Rücken gefallen!“, sagte Oliver mit belegter Stimme.

„Halt den Mund!“, herrschte Karsten ihn an. Er packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn heftig. „Mensch, reiß dich zusammen!“

„Sandra braucht Hilfe“, stieß der Junge aufgewühlt hervor und kramte gleichzeitig im Rucksack nach seinem Handy. „Wir müssen Hilfe holen!“ Ein Blick auf das Display zeigte ihm eine weitere Katastrophe: „Kein Empfang, so ein Mist!“ Wütend steckte er das Handy zurück in seine Tasche und sah die beiden anderen erwartungsvoll an. Auch bei ihnen sah es nicht besser aus: Ihre Handys hatten an dieser Stelle keinen Empfang und somit war es ihnen unmöglich, schnell die nötige Hilfe zu holen.

„Der Wirt der Bärenlochhütte hat ein Funkgerät“, sagte Karsten Rüge. „Ihr bleibt bei Sandra. Ich sorge dafür, dass sie sofort Hilfe bekommt.“ Karsten kletterte die Felswand wieder hoch. Er war bald nicht mehr zu sehen. Oliver sah Julian verzweifelt an. „Ich hätte nicht zulassen sollen, dass sie sich für diese gefährliche Route entscheidet.“

„Denkst du, du hättest sie daran hindern können, mit Karsten zu gehen?“

Oliver schwieg. Er wusste, dass er das nicht geschafft hätte. Sandras Finger schlossen sich um Olivers Hand. „Es tut mir leid, so leid“, flüsterte sie, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Ich habe es übertrieben.“

Er drückte ihre kraftlosen Finger. „Mach dir keine Vorwürfe, Liebling. Wir haben beide Fehler gemacht. Ich zuerst.“

„Ich habe mich so schrecklich dumm benommen.“

„Du warst enttäuscht und gekränkt.“

Julian kam sich überflüssig vor. Er hätte sich gern zurückgezogen und die beiden allein gelassen, aber er wusste nicht, wohin er gehen sollte. Wie wird man Sandra von hier fortbringen?, fragte er sich. Mit einem Hubschrauber?

„Ich liebe dich, Oliver“, hauchte Sandra.

„Es wird alles gut, Sandra“, sagte Oliver bewegt. „Ich liebe dich auch.“

„Kannst du mir meine Dummheit verzeihen?“

„Aber ja.“ Er strich ihr übers schweißfeuchte Haar. „Aber ja.“

Julian überlegte, wie weit Karsten inzwischen gekommen war. Schneller als er kann keiner die Schutzhütte erreichen, dachte er, und im nächsten Augenblick rann ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken, denn ihm war ein schrecklicher Gedanke gekommen: Was, wenn Karsten vor lauter Hast auch etwas zustößt? Dann dauert es viele Stunden länger, bis uns jemand hier findet.

„Mein Rücken“, sagte Sandra leise.

„Tut er dir weh?“, fragte Oliver sofort.

„Nein, ich spüre ihn überhaupt nicht, und ich habe kein Gefühl in den Beinen. Ich spüre gar nicht, dass ich Beine habe.“

Oliver beugte sich über sie und gab ihr einen tröstenden Kuss auf die Stirn. „Es kommt alles wieder in Ordnung.“

„Und wenn nicht?“

„Du musst positiv denken, Liebes. Es gibt immer eine Hoffnung.“

„Wenn ich meine Beine nie mehr bewegen kann … Nie mehr.“

„Rede doch nicht solchen Unsinn.“

„Ich hab’ so eine schreckliche Ahnung, Oliver.“ Ihre Stimme klang rau.

 

„Sie trügt dich. Sie trügt dich ganz bestimmt.“ Oliver sah Julian an, und in seinem Blick flackerte die bange Frage: Wann kommt endlich Hilfe?

Doch Julian wusste es nicht. Er fragte sich das ja selbst ununterbrochen.

26. Kapitel

Die Bergung der Verunglückten gestaltete sich überaus schwierig. Der Rettungshubschrauber hatte wegen des stärker gewordenen Windes Schwierigkeiten, die Position zu halten, und die Trage, auf die man Sandra gelegt hatte, drohte beim Hochziehen zweimal gegen die steile Felswand zu schlagen.

Eine Stunde später lag Sandra Falkenberg im OP der Wiesenhain-Klinik. Dr. Peter Dansberg hatte Dr. Daniel Frank, den Chefarzt der Chirurgie, zu Hause erreicht – nachdem Sandras Ankunft über Funk avisiert worden war – und ihn gebeten, unverzüglich in die Klinik zu kommen.

Sandra hatte sich zwei Rückenwirbel gebrochen, ihr drohte eine irreparable Querschnittslähmung, wenn es Dr. Frank nicht gelang, das gequetschte Rückenmark und die eingeklemmten Nerven zu entlasten.

Der Assistenzarzt Dr. Dansberg hatte auch Dr. Krautmann telefonisch zu erreichen versucht, aber er hatte nur die Haushälterin an den Apparat bekommen, und die hatte nicht gewusst, wo der Chef der Wiesenhain-Klinik sich zurzeit befand. Eine halbe Stunde später hatte Florian Krautmann sich gemeldet, und nun stand auch er im OP und versuchte der Patientin gemeinsam mit Dr. Frank zu helfen. „Trümmerbruch“, stellte Daniel Frank mit dumpfer Stimme fest. „Sieht nicht gut aus.“

„In letzter Zeit hat sie das Unglück gepachtet“, sagte Florian Krautmann voll Mitleid.

„Ihr Kreislauf wackelt“, meldete Dr. Andrea Ehrlich, die Anästhesistin.

„Halte durch, Mädchen“, sagte Dr. Frank eindringlich. „Mach uns jetzt um Himmels willen nicht schlapp.“

Dr. Ehrlich spritzte ein kreislaufstärkendes Medikament in den Infusionsschlauch.

Wenig später konnte sie melden, dass sich der Kreislauf der Patientin wieder normalisiert hatte. Sandras Atmung war okay. Dr. Frank hatte gleich nach ihrer Einlieferung diverse Röntgenaufnahmen sowie ein MRT veranlasst, um sich ein präzises Bild ihrer Rückenverletzung machen zu können.

Wichtig bei solchen Verformungen ist, dass man den Verformungsgrad ausrechnet. Dazu misst man die Wirbelhöhle vorn und hinten im Vergleich zu den Nachbarwirbeln und außerdem den Winkel des Achsenknicks infolge des Wirbelbruchs. Das hatte Daniel Frank getan, und er war dabei zu folgendem Ergebnis gekommen: Die Abknickung der Wirbelsäulenachse nach vorn oberhalb des sechsten Brustwirbels betrug fast dreißig Grad. Rückenmark und Nervenstrang waren gequetscht. Dr. Frank tat alles, um sie zu entlasten, doch er erzielte nur einen schwachen Teilerfolg.

Nach vier Stunden intensivster Chirurgenarbeit unter höchster nervlicher Anspannung und geistiger Konzentration sagte Daniel Frank: „Mehr dürfen wir der Patientin im Moment nicht zumuten, sonst kehrt sich das, was wir erreicht haben, ins Gegenteil um.“

Während sie sich wenig später die Hände wuschen, sah der Chefchirurg Florian Krautmann mit sorgenvoller Miene an.

„Du hast wenig Hoffnung, nicht wahr?“, sagte der Klinikchef dumpf.

„Wir sind Ärzte“, erwiderte Dr. Frank. „Es hat keinen Zweck, die Dinge schönzufärben.“

„Befürchtest du, dass sie querschnittgelähmt bleibt?“

„Zurzeit sieht es danach aus. Der Trümmerbruch macht mir große Sorgen.“

„Wird sie nie wieder gehen können?“

„Sie ist eine Freundin von Lisa und Julian, habe ich gehört.“

Florian Krautmann nickte. „Ja.“

„Wie alt?“

„Vierundzwanzig“, antwortete der Klinikchef. „Sie hat noch so viele Jahre vor sich, Daniel.“ Er drehte das Wasser ab und griff nach einem Handtuch.

„Du möchtest nicht, dass sie diese im Rollstuhl verbringt“, sagte Daniel Frank gepresst. „Ich auch nicht, aber ich weiß nicht, ob ich es ihr ersparen kann. Wir müssen die heutige Operation als Beginn einer Reihe von Eingriffen sehen. Vielleicht können wir ihr helfen, wenn wir sie drei-, vier- oder fünfmal operieren, aber wird sie dazu bereit sein? Ich kann ihr nicht versprechen, dass sie nach der fünften Operation wieder gehen kann.“ Er seufzte. „Ihre Chancen sind denkbar schlecht. Vielleicht quälen wir sie mit weiteren Eingriffen nur unnötig. Auch das wäre möglich.“

Die Ärzte setzten das Gespräch in Dr. Krautmanns Büro fort. „Du hast den Trümmerbruch eingerichtet“, sagte der Leiter der Wiesenhain-Klinik.

„So gut es ging“, nickte Dr. Frank. „Nun müssen wir ihm Zeit lassen, zusammenzuwachsen. Nach der Kallusbildung werden wir weitersehen. Aber ich wage keine Prognose.“

„Ich habe befürchtet, dass sie eines Tages schweren Schaden nehmen wird“, sagte Dr. Krautmann ernst.

„Wieso?“

Florian Krautmann erzählte, was er von den Zwillingen wusste – dass Sandra Falkenberg jedes Wagnis auf sich genommen hatte, um Karsten Rüge zu imponieren und Oliver Wiechert zu ärgern.

„Die Menschen suchen aus den unterschiedlichsten Gründen die Konfrontation mit der Gefahr“, meinte Dr. Frank nachdenklich. „Es ist eine neue, unerfreuliche Zeiterscheinung, ein gefährlicher Trend, dass man in der Freizeit aufbricht, um seine Grenzen beim Wildwasserfahren, Drachenfliegen, Skysurfen und dergleichen mehr zu suchen – und immer mehr von denen, die sie gefunden haben, landen schließlich halb tot bei uns, das hat eine Studie der Krankenkassen über das neue Freizeitverhalten unserer Landsleute an den Tag gebracht.“

„Scheint so, als ginge es den Menschen zu gut“, kommentierte Florian Krautmann.

„Und sie haben zu viel Freizeit, mit der sie offenbar nichts Rechtes anzufangen wissen“, bemerkte Daniel Frank, „deshalb kommen sie auf die hirnrissigsten und waghalsigsten Ideen. Es ist zu befürchten, dass das demnächst noch viel schlimmere Blüten treiben wird. Die Krankenkassen befürchten eine wahre Kostenexplosion, deshalb möchten sie, dass Sportarten, die ein extrem hohes Risiko beinhalten, so bald wie möglich privat versichert werden. Aber um auf Sandra Falkenberg zurückzukommen: Dass ein Mädchen seine Gesundheit so beharrlich aufs Spiel setzt, um den Freund, der sie enttäuscht und gekränkt hat, zu bestrafen, ist mir noch nicht untergekommen.“

27. Kapitel

Als Sandra zu sich kam, war Schwester Annegret bei ihr, und ihr inneres Auge zeigte ihr Bilder von grausamer Schärfe. Sie sah sich abstürzen.

Der Aufprall war hart, aber nicht schmerzhaft gewesen, weil sie sofort das Bewusstsein verloren hatte. Als sie die Augen geöffnet hatte, waren die drei Freunde Julian Krautmann, Karsten Rüge und Oliver Wiechert bei ihr gewesen.

Sandra sah vor ihrem geistigen Auge ihre schwierige Bergung, den Flug im Rettungshubschrauber, die Ankunft in der Wiesenhain-Klinik.

Und jetzt kontrollierte Schwester Annegret gerade den Tropf, an dem sie hing. „Bin ich bereits operiert, Schwester?“, fragte Sandra schleppend.

„Ja.“

„Wer …?“ Sandra war müde, unendlich müde.

„Dr. Frank hat den Eingriff vorgenommen“, erwiderte die alte Pflegerin. „Dr. Krautmann und Dr. Dansberg waren ebenfalls dabei, und Frau Dr. Ehrlich hat dafür gesorgt, dass Sie gut schlafen.“

„Sind die Ärzte noch da?“

Schwester Annegret schüttelte den Kopf. „Nein. Dr. Krautmann wird morgen nach Ihnen sehen.“

„Ich spüre meine Beine noch immer nicht.“

„Sie müssen Geduld haben“, beruhigte Annegret die Patientin.

„Haben Sie mit den Ärzten gesprochen, Schwester? Was haben sie gesagt? Werde ich wieder gehen können?“

„Eine Zeit lang wird Ihnen der Rollstuhl wohl nicht erspart bleiben“, erwiderte Annegret sanft, „aber das ist kein Grund, den Mut zu verlieren. Sie sind jung. Sie werden die Kraft haben und den Willen aufbringen, eines Tages wieder ganz gesund zu sein.“

Sandra schloss die Augen, und Tränen stiegen in ihr hoch, denn sie konnte Schwester Annegrets Optimismus nicht teilen.

28. Kapitel

Die ganze Clique wollte Sandra Falkenberg tags darauf besuchen, aber das durfte man ihr noch nicht zumuten. Dr. Krautmann erklärte den jungen Leuten – Julian und Lisa waren auch dafür, dass die Patientin im Augenblick noch nicht besonders belastbar sei. „Deshalb kann ich nur eine Person bewilligen“, sagte er, und die Clique delegierte vernünftigerweise Oliver Wiechert.

„Wir warten hier auf dich“, sagte Karsten Rüge. „Bestell ihr herzliche Grüße von uns.“

Oliver nickte nur.

„Lass dir Zeit“, sagte Dorothee Simonis. „Bleib so lange bei ihr, wie es geht.“

Seit Sandras Absturz war Dotty wie ausgewechselt. Sie war sehr mild und versöhnlich gestimmt, und es hatte den Anschein, als fühlte sie sich an dem Unglück mitschuldig. Olivers Herz klopfte heftig, als er die Tür öffnete, die in Sandras Krankenzimmer führte. Ihm war, als würde eine unsichtbare Hand seine Kehle zudrücken.

Er war so leise, dass Sandra ihn nicht eintreten hörte. Sie hatte die Augen geschlossen, schien zu schlafen. Aufwecken werde ich sie auf keinen Fall, dachte Oliver. Wenn sie schläft, lasse ich sie schlafen und sehe sie nur an. Er erreichte ihr Bett und musste den Wunsch unterdrücken, sich über sie zu beugen und zu küssen. Ihr hübsches Gesicht war blass, aber ihren entspannten Zügen war nicht anzusehen, welches schreckliche Schicksal sie ereilt hatte.

Olivers Nerven vibrierten. Es schmerzte ihn zutiefst, Sandra so daliegen zu sehen, und ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust, auf die ein unsichtbares Gewicht von mehreren Zentnern drückte. Sandra hörte sein Seufzen und öffnete die Augen.

„Hallo“, sagte er zaghaft.

„Oliver …“, hauchte sie.

„Wie geht’s?“, wollte er wissen.

Sie schwieg.

„Hast du Schmerzen?“

„Sie geben mir etwas dagegen“, antwortete sie leise.

„Ich soll dich von der gesamten Clique ganz herzlich grüßen. Sie sind alle draußen, aber Dr. Krautmann bewilligte nur einen Besucher, und alle meinten, das müsse ich sein.“

Tränen rannen ihr übers Gesicht.

„Nicht weinen, Liebes“, bat Oliver zärtlich. „Nicht weinen, es wird alles gut.“

„Ich bin so wahnsinnig unglücklich“, schluchzte Sandra.

„Du lebst.“

„Aber wie. Ich werde nie wieder gehen können.“ Sie schloss die Augen und verzog verzweifelt das Gesicht. „Wenn ich könnte, würde ich aus dem Fenster springen.“

Oliver sah sie erschrocken an. „Das darfst du nicht sagen.“

„Was soll ich denn noch auf dieser Welt?“

„Warum denkst du immer nur an dich, warum nicht auch mal an mich?“, fragte Oliver ein wenig vorwurfsvoll.

„Es wäre auch für dich besser, wenn ich nicht mehr leben würde.“

„Sandra, ich bitte dich, hör auf, so zu reden, das tut mir weh.“

„Ich bin doch nur noch eine Last für dich“, seufzte sie.

„Ich liebe dich.“

„Ich bin zur Hälfte tot. Mein Unterleib ist völlig gefühllos.“

„Die Ärzte bringen dich wieder hin“, sagte Oliver zuversichtlich. „Du bist in einer der besten Kliniken unseres Landes, das weißt du doch.“

„Ich muss für meine Dummheit und meinen Leichtsinn bezahlen.“

„Du wirst eines Tages wieder gehen können, Sandra.“

„Nein, Oliver, das kannst du vergessen. Ich werde meine Beine nie mehr gebrauchen können. Damit ist es ein für alle Mal vorbei. Wenn die Ärzte jedem Querschnittgelähmten helfen könnten, gäbe es nicht so viele davon.“

„Jeder Fall liegt anders“, entgegnete der junge Mann mit ungebrochenem Optimismus.

„Sie haben wahrscheinlich alle einmal gehofft und den Himmel verzweifelt um Hilfe angefleht – und was ist ihnen letzten Endes geblieben? Enttäuschung, Resignation und Tränen.“

„Manchmal lässt der Himmel ein Wunder geschehen.“

„Ein Wunder“, sagte Sandra bitter. „Ich glaube nicht an Wunder.“

Oliver lächelte. „Ob du an sie glaubst oder nicht – es gibt sie.“

„Nicht für mich.“

„Auch für dich“, widersprach er und streichelte zärtlich ihre Hand.