Für das Herz und die große Liebe: Arztroman Sammelband 5 Romane

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29. Kapitel

„Wie geht es ihr? Hast du mit ihr gesprochen? Wie fühlt sie sich? Ist sie guter Dinge? Was hat sie gesagt?“ Die Fragen prasselten nur so auf Oliver Wiechert nieder, als er zur Clique zurückkehrte. Dr. Krautmann befand sich nicht mehr bei den jungen Leuten.

„Sie lässt euch auch alle herzlich grüßen“, sagte Oliver heiser, „und es freut sie, dass ihr alle so sehr Anteil nehmt an ihrem Schicksal.“

„Wie sieht sie aus?“, wollte Eva wissen.

„Blass“, antwortete Oliver.

„Wir hätten etwas für sie kaufen sollen.“ Mit dieser Bemerkung verblüffte Johannes Brauneis, der Pfennigfuchser, alle. Wenn er freiwillig für jemanden Geld auszugeben bereit war, dann musste er ihn schon sehr mögen.

„Wie hat sie den Eingriff überstanden?“, erkundigte sich Dotty.

„Sie ist sehr schwach“, sagte Oliver.

„Spürt sie ihre Beine wieder?“, wollte Karsten Rüge wissen.

Oliver hob seufzend die Schultern. „Leider nein.“

„Das Gefühl wird sich wieder einstellen.“ Karsten nickte zuversichtlich. „Sie ist ein tapferes, zähes Mädchen. Sie kann kämpfen, und sie wird kämpfen.“

Lisa und Julian Krautmann stellten keine Fragen. Wenn sie etwas wissen wollten, brauchten sie sich nicht an Oliver Wiechert zu halten, sondern konnten ihre Information aus erster, kompetenter Hand beziehen.

Vor allem Lisa hatte Sandras Absturz sehr mitgenommen. Schuldgefühle plagten sie. Sie quälte sich mit dem Vorwurf, nicht genug auf die Freundin eingewirkt zu haben.

Sie hatte mit ihr zwar gesprochen, es war ihr aber nicht gelungen, sie davon abzubringen, permanent Kopf und Kragen zu riskieren.

Lisa wusste nicht, wie sie es hätte anstellen sollen, dass Sandra Falkenberg auf sie hörte. Sie wusste lediglich, dass es ihr hätte gelingen müssen. Du warst nicht beharrlich genug, warf eine innere Stimme ihr vor. Hast den Ernst der Lage unterschätzt und dir zu viel Zeit gelassen, und nun wird Sandra vielleicht nie mehr gehen können.

Nie mehr wollte ihr Vater nicht hören. „Sie hat noch eine Chance“, hatte Florian Krautmann heute Morgen gesagt. „Aber nur, wenn sie tatkräftig mithilft. Es ist in sehr vielen Fällen so: Nur wenn der Patient auch gesund werden will, können wir Ärzte ihm helfen.“

30. Kapitel

Drei Wochen nach ihrem Absturz wurde Sandra entlassen. Ihre Großmutter hatte einen Rollstuhl für sie besorgt. Diesen schob Oliver Wiechert aus der Wiesenhain-Klinik.

Sandra war sehr ernst geworden, sie hatte das Lachen verlernt. Nicht einmal lächeln konnte sie mehr. Sie fühlte sich lebendig begraben, und sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass es irgendeinen Arzt auf der Welt gab, der ihre motorischen und sensiblen Lähmungen der Nervenstränge und -zellen noch mal beheben konnte.

Jeder, der mit ihr sprach, versuchte ihr Mut zu machen und sprühte vor Optimismus, doch keiner von ihnen spürte wie sie, dass ihr Körper für sie zum ausbruchssicheren Gefängnis geworden war, deshalb konnte auch niemand ihre Seelenpein nachvollziehen.

Es war leicht, zu sagen: „Nur Mut. Lass den Kopf nicht hängen. Das wird schon wieder.“ Aber es war unvergleichlich schwieriger, daran zu glauben, dass das Unmögliche auch wirklich wahr werden würde.

Oliver nahm sich einen ganzen Monat frei, um so viel wie möglich bei Sandra sein zu können. Er schob sie im Rollstuhl durchs Haus, hinaus in den Garten oder überall sonst hin, wenn sie es wollte. Sie brauchte nur ein Wort zu sagen.

Eines Abends sah sie ihn traurig an. „Du tust so viel für mich.“

Er winkte lächelnd ab. „Darüber brauchen wir kein Wort zu verlieren.“

„Warum verschwendest du deine Zeit mit mir?“

„Musst du das wirklich fragen, Sandra?“, gab er ernst zurück. „Außerdem ist ‚verschwenden‘ nicht das richtige Wort. Ich verbringe meine Zeit mit dir.“

„Ich bin gelähmt.“

Er lächelte. „Ich liebe dich trotzdem.“

„Du solltest dich nach einem gesunden Mädchen umsehen.“

„Mich interessieren keine anderen Frauen.“

„Irgendwann wirst du den Wunsch haben, eine Familie zu gründen“, sagte Sandra. „Mit mir kannst du das nicht.“

„Wenn du etwas mehr bei Kräften bist, wird Dr. Frank dich noch einmal operieren.“

„Und noch einmal. Und noch einmal. Und noch einmal. Und immer wird es vergeblich sein.“

„Wie kannst du das wissen?“

„Ich spüre, was mit mir los ist. Ich weiß, dass ich mich mit einem Leben im Rollstuhl abfinden muss, und ich werde dich nicht an mich binden, weil sonst auch dein Leben verpfuscht ist.“

Er zog grimmig die Augenbrauen zusammen. „Erlaubst du mir bitte, selbst zu entscheiden, mit wem ich zusammen sein möchte?“

Tränen glänzten in Sandras wunderschönen braunen Augen. „Ich versuche für uns beide vernünftig zu sein.“

„Hältst du den Unsinn, den du soeben von dir gegeben hast, etwa für vernünftig?“

Sie sah ihm lange in die Augen und sagte schließlich leise: „Ich werde mich nicht noch mal operieren lassen, Oliver.“

„Sandra!“, stieß er erschrocken hervor.

„Sieh mich an.“ Sie breitete die Arme aus, ließ sie neben den Lehnen nach unten hängen. „So wie heute werde ich in zehn, zwanzig, dreißig Jahren immer noch vor dir sitzen. Der Rollstuhl wird dann ein anderer sein, aber ich werde noch immer nicht gehen können – und dein Mitleid wird bis dahin restlos aufgebraucht sein. Dann werde ich für dich nur noch ein Klotz am Bein sein, und du wirst mich hassen.“

Er nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und küsste sie liebevoll und unendlich zärtlich auf den Mund. „Ich könnte dich niemals hassen, das müsstest du eigentlich wissen, mein Liebstes.“

31. Kapitel

„Sandra Falkenberg möchte sich nicht mehr operieren lassen“, berichteten Lisa und Julian ihrem Vater, als er von der Wiesenhain-Klinik heimkam. „Wir haben sie heute besucht. Sie wirkte so, als hätte sie sich mit ihrem Schicksal abgefunden.“

„Es wäre sehr unklug von ihr, die kleine Chance, die sie noch hat, nicht zu nutzen“, bemerkte Dr. Krautmann.

„Sie hat Angst, enttäuscht zu werden“, meinte Julian.

„Ich kann sie irgendwie verstehen“, sagte Lisa. „Da klammert sie sich verbissen an diesen winzigen Lichtblick, und irgendwann musst du ihr dann sagen, dass sie leider doch vergeblich gehofft hat.“

„Ich habe heute mit Daniel Frank über sie gesprochen“, sagte Dr. Krautmann. „Er möchte zur zweiten Entlastungsoperation einen namhaften Neurochirurgen von der Universitätsklinik Freiburg hinzuziehen. Er hat mit dem Kollegen auch schon Kontakt aufgenommen und könnte jederzeit mit dessen Hilfe rechnen.“

„Wie stehen denn die Chancen für Sandra, jemals wieder gehen zu können, Vati?“, fragte Julian ernst.

„Schwer zu sagen“, antwortete Florian Krautmann ehrlich.

„Neunzig zu zehn gegen sie?“, fragte Julian, der einfach etwas Konkretes hören wollte.

„Eine einigermaßen seriöse Prognose ist erst nach dem zweiten Eingriff möglich“, erwiderte der Klinikchef.

„Wenn Sandra von einem solchen Eingriff aber nichts mehr wissen will, was dann?“

„Ich hoffe, sie hört auf Oliver“, sagte Dr. Krautmann.

„Wirst du mit ihm reden?“

„Das habe ich bereits getan.“

„Und?“ Julian sah seinen Vater gespannt an.

„Er wird alles versuchen, um Sandra zu einer zweiten Operation zu überreden“, erklärte Florian Krautmann.

32. Kapitel

Es dauerte zwei Wochen, bis Oliver die Gelähmte so weit hatte, dass sie bereit war, sich einer zweiten Operation zu unterziehen. Er war noch nie hartnäckiger gewesen, versuchte sie mit allen erdenklichen Tricks weichzubekommen, doch erst als er sie anflehte, dem Eingriff um seinetwillen zuzustimmen, gab sie nach. Dr. Frank bereitete sich gewissenhaft auf die Operation vor, und er hatte ein langes Gespräch mit seinem Kollegen aus Freiburg. Dieser sagte aber gleich, dass man um einen dritten Eingriff nicht herumkommen würde. Mit der zweiten Operation könne man lediglich die Ausgangsposition für den nächsten Schritt optimieren, der darin bestehen würde, dass man der Patientin bleistiftdicke Gewindestäbe aus Metall mit Widerhaken einpflanzte, wonach man darangehen könne, den deformierten Wirbelsäulenabschnitt nach dem umgekehrten Schraubstockprinzip zu strecken und zu begradigen.

All das besprach der Neurochirurg nicht nur mit Dr. Daniel Frank, sondern in weiterer Folge auch mit der Patientin, und er verschwieg Sandra Falkenberg nicht, dass alles auch vergebliche Liebesmühe sein könne, aber die vagen Chancen seien auf jeden Fall den Versuch wert.

Einmal in der Wiesenhain-Klinik, gab es für Sandra kein Zurück mehr. Ihr Entschluss stand fest: Jetzt wollte sie’s um jeden Preis durchfechten. Entweder würde sie nach dem letzten Eingriff wieder gehen oder sich sagen können, sie habe nichts, absolut gar nichts unversucht gelassen.

Am Tag der zweiten Operation war Oliver bei ihr. „Wenn es möglich wäre, würde ich mich an deiner Stelle operieren lassen“, sagte er mit belegter Stimme.

„Ach, Oliver, du bist so – lieb …“

Er beugte sich über sie. „Ich drück’ dir die Daumen.“

Sie sah ihn wehmütig an. „Ich mache dir so viele Sorgen.“

Er lächelte. „O ja, du bist im Moment mein großes Sorgenkind, aber es werden auch wieder bessere Zeiten für uns anbrechen.“ Er nahm ihre Hand. „Wir haben eigentlich noch nie einen Walzer miteinander getanzt.“

 

„Ja, das stimmt.“

„Das müssen wir unbedingt nachholen“, erklärte Oliver.

„Du kannst ja gar nicht tanzen.“

„Bis du wieder gehen kannst, kann ich’s“, gab Oliver lächelnd zurück.

Sandra bekam die vorbereitende Injektion, und wenig später wurde sie von einem Pfleger abgeholt.

„Alles Gute“, krächzte Oliver, während der Pfleger das Bett zur Tür hinausrollte. „Hab keine Angst, Liebes. Hab keine Angst.“ Ein dicker Kloß befand sich in seinem Hals und machte ihm das Sprechen zur Qual.

Als der Pfleger Sandras Bett in den Aufzug rollte, winkte sie ihm ein letztes Mal. Er winkte zurück, und kurz danach war sie weg.

Schreckliche Bilder ängstigten Oliver Wiechert mit einem Mal zu Tode: Sandra im Operationssaal … Grüne OP-Kittel, grüner Mundschutz … Das OP-Team im Einsatz … Chirurgisches Besteck… Tickende, piepsende, zischende Apparate … Eine klaffende Wunde … Blut … Plötzlich die hysterische Meldung „Herzstillstand!“ … Herzmassage … Elektroschocks … Eine Adrenalinspritze mitten ins Herz … Wieder E-Schocks … Doch Sandras Herz begann nicht mehr zu schlagen …

Und ich – ich habe sie zu dieser Operation überredet!, dachte Oliver entsetzt, während er sich mit der Hand kalte Schweißperlen von der Stirn wischte.

33. Kapitel

Sandra Falkenberg überstand den zweiten Eingriff besser als den ersten. Die Mitglieder der Clique sprachen sich untereinander ab und erstellten einen genauen Besuchsplan, damit Sandra sich täglich über irgendjemandes Besuch freuen konnte.

Alle auf einmal hätten ohnedies nicht zu ihr gedurft. Ausgenommen von dieser freiwilligen Regelung war selbstverständlich Oliver.

Er besuchte Sandra jeden Tag zweimal und überzog die festgesetzten Zeiten mit großer Regelmäßigkeit, doch niemand wies ihn deshalb zurecht, denn schließlich tat der Patientin seine Nähe gut.

Es waren insgesamt vier Operationen nötig, und immer lagen vier bis sechs Wochen dazwischen. In dieser Zeit baute Oliver das geliebte Mädchen immer wieder auf und schenkte ihm neue Hoffnung. Noch warteten die beiden bang auf das Wunder, das der Himmel geschehen lassen musste, damit Sandra wieder gehen konnte. Nach der dritten Operation begann Sandra mit einer speziell auf sie abgestimmten Physiotherapie.

Galvanische Bäder sollten die Reizleiter der nunmehr von jeglichem Druck befreiten Nervenbahnen aktivieren. Gefühlvolle Massage sollte die Durchblutung der Beine und des gesamten Bewegungsapparats verbessern.

Es wurde in der Wiesenhain-Klinik sehr viel getan, um Sandra zu helfen, und man ließ es bei allen Therapien nicht an Behutsamkeit, Fingerspitzengefühl und Geduld mangeln, doch der erhoffte Erfolg hatte sich bislang noch nicht eingestellt. Ohne den unermüdlichen Zuspruch von Oliver und der gesamten Clique hätte die junge Patientin mit Sicherheit resigniert. So aber fühlte sie sich ihren Freunden, die stärker an einen positiven Genesungsverlauf glaubten als sie, verpflichtet, durchzuhalten.

Übungen, Messungen, Tests … jeden Tag. Immer wieder. Für Sandra waren es immer dieselben Resultate, doch Dr. Krautmann, Dr. Frank und der Neurochirurg aus Freiburg zeigten sich von Mal zu Mal zufriedener. Versuchen sie Zweckoptimismus zu verbreiten, oder werden die Ergebnisse tatsächlich von Tag zu Tag besser?, fragte sich Sandra. Wenn ja, wieso merke ich dann nichts davon?

Eines Nachts wurde sie von einem leichten ziehenden Schmerz im linken Fuß geweckt. Zunächst begriff sie die ungeheure Bedeutung dieser Empfindung gar nicht, doch dann wurde ihr urplötzlich klar, dass sie zum ersten Mal seit Langem wieder etwas spürte!

„O mein Gott!“, schluchzte sie überglücklich. „O mein Gott, ich fühle, und wenn es auch nur ein Schmerz ist! Ich spüre ihn! Also bin ich nicht mehr zur Hälfte tot!“

Sie drückte auf die Nachtglocke. Schwester Annegret erschien sogleich. „Was gibt es, Kindchen?“, fragte die alte Pflegerin mit gütigem Lächeln.

„Schwester …“, stieß Sandra außer sich vor Freude hervor.

„Was kann ich für Sie tun? Haben Sie Durst?“

„Nein“, antwortete Sandra Falkenberg. Ihr Herz schlug wie verrückt. „Mein Fuß, mein linker Fuß …“

„Was ist damit?“

„Er tut mir weh.“

„Ich hole sofort Dr. Balzer …“ Annegret drehte sich um und wollte aus dem Zimmer eilen, doch im gleichen Augenblick wandte sie sich wieder der Patientin zu. „Moment mal, haben Sie eben gesagt, Ihnen tut der linke Fuß weh?“

„Ja.“

Schwester Annegret riss begeistert die Augen auf. „Aber das ist ja wunderbar!“

Sandra lachte und weinte. „Ich spüre meinen linken Fuß.“

„Und den rechten – spüren Sie den auch?“

„Nein.“

„Versuchen Sie ihn zu bewegen.“ Schwester Annegret schlug die Decke am Fußende hoch und nahm ein leichtes Zucken der Zehen wahr. „Noch mal.“ Die Zehen zuckten wieder. „Noch mal.“ Jetzt bewegte Sandra die Zehen sogar schon etwas mehr. „O Kindchen, ich könnte mir das stundenlang ansehen, aber ich muss Dr. Balzer holen.“

„Ich habe keine Schmerzen mehr.“

„Das macht nichts“, sagte die alte Pflegerin, „ich hole trotzdem den Arzt. Der wird Augen machen!“

34. Kapitel

Augen machte auch Dr. Florian Krautmann, als er am nächsten Morgen erfuhr, dass sich bei Sandra Falkenberg erste Empfindungen eingestellt hatten. „Ist Dr. Frank schon im Haus, Moni?“, fragte er seine Sekretärin.

„Ich seh’ mal nach“, sagte Moni Warnke und griff zum Telefonhörer. Augenblicke später hatte sie den Chefarzt der Chirurgie am anderen Ende der Leitung.

Florian Krautmann nahm ihr den Hörer aus der Hand. „Guten Morgen, Daniel.“

„Bist du sicher, dass es ein guter Morgen ist?“, fragte Dr. Frank brummig.

„Ganz sicher.“

„Ich habe eine katastrophale Nacht hinter mir, hatte beim Frühstück Streit mit meiner Frau und wäre, als ich das Haus verließ, beinahe von einem Auto angefahren worden.“

„Dann ist es endlich Zeit für eine gute Nachricht“, lachte der Klinikchef und berichtete dem Freund und Kollegen, was er selbst erst vor wenigen Minuten erfahren hatte.

„Das ist wirklich eine gute Nachricht“, sagte der Chirurg hoch erfreut. „Eine sehr gute Nachricht. Die beste Nachricht seit Langem.“

Zehn Minuten später betraten die beiden Ärzte mit erwartungsvollen Mienen das Zimmer der jungen Patientin.

„Ich spüre meine Zehen, meine Füße, meine Beine wieder!“, überfiel Sandra Falkenberg sie sogleich aufgeregt.

„Ist uns schon zu Ohren gekommen‘‘, gab Daniel Frank schmunzelnd zurück.

„Ich – ich kann es noch gar nicht richtig fassen“, stammelte Sandra begeistert.

„Darf ich mal?“ Dr. Krautmann hob schon die Decke hoch.

„Und nun zeigen Sie uns mal, was Sie können“, verlangte Dr. Frank.

Sandra bewegte die Zehen und die Füße. Sie schaffte es sogar, mit den Fersen über das Leintuch zu rutschen. Heben konnte sie die Beine noch nicht, aber das würde auch noch kommen, davon war sie inzwischen überzeugt.

Tränen rannen ihr übers Gesicht, und sie strahlte unbeschreiblich glücklich.

„Es ist geschafft“, sagte Florian Krautmann erfreut. „Sie haben Ihre Lähmung besiegt.“

Lachend und weinend flüsterte Sandra: „Ich werde wieder gehen können.“

„Bis dahin wird es noch ein Weilchen dauern“, meinte Daniel Frank, „aber – ja, es sieht ganz danach aus, als ob Sie in absehbarer Zeit keinen Rollstuhl mehr brauchen.“

„Und ich wollte mich nicht operieren lassen.“ Im Nachhinein konnte Sandra das nicht mehr verstehen.

„Sie hatten Angst vor der Enttäuschung“, sagte Dr. Krautmann, „dachten, es nicht verkraften zu können, wenn alles umsonst gewesen wäre.“

Daniel Frank drohte lächelnd mit dem Zeigefinger. „Sie hatten nicht genug Vertrauen in die ärztliche Kunst.“

„Ich bitte tausendmal um Vergebung“, sagte Sandra überglücklich und wischte sich die Tränen ab. Es ging aufwärts. Es ging endlich wieder aufwärts mit ihr!

35. Kapitel

„Eure Freundin hat die Krise überwunden“, sagte Dr. Krautmann, als er zum Mittagessen nach Hause kam.

Lisa und Julian sahen ihn mit großen Augen an. Vergessen war für den Moment das köstliche Wiener Schnitzel, das auf jeden wartete.

„Kann sie wieder laufen?“, fragte Lisa gespannt.

„Noch nicht“, erwiderte ihr Vater, „aber bald.“

„Das ist wunderbar, großartig, phantastisch!“, jubelte Julian.

„Sie wird noch einige Zeit sehr hart zu arbeiten haben“, sagte Dr. Krautmann.

Julian nickte zuversichtlich. „Das bringt sie. Sie ist zäh.“

Lisa fiel ihrem Vater um den Hals und drückte ihn ganz fest. „Du bist ein Genie, Vati.“

Florian nahm das Lob nicht an. „Es ist vor allem das Verdienst von Daniel Frank und dem Neurochirurgen aus Freiburg, dass Sandra ihre Beine wieder bewegen kann“, erwiderte er. „Ich bin in erster Linie Gynäkologe und konnte deshalb nicht allzu viel zu ihrer Genesung beitragen.“

Cäcilie bat die Familie, endlich zuzugreifen. Christoph nahm sich als Erster. „Mann, hab’ ich Kohldampf. Ich könnte eine gedünstete Schuhsohle verschlingen.“

„Eine ungedünstete kannst du von mir haben“, kicherte Kim.

Melanie Krautmann griff nach der Hand ihres Mannes und sagte leise: „Ich habe diesen Ausdruck größter Zufriedenheit schon lange nicht mehr in deinen Augen gesehen.“

„Erfolg macht glücklich“, gab Florian Krautmann zurück, „und es ist ein Riesenerfolg, dass Sandras Zustand sich endlich bessert.“

36. Kapitel

Als Anette Falkenberg und Oliver Wiechert Sandra besuchten, zeigte sie auch ihnen ihr neuestes Kunststück, und die beiden waren außer sich vor Freude.

„Hab ich’s nicht gesagt?“, jubelte Oliver. „Hab ich’s nicht gesagt? Manchmal lässt der Himmel ein Wunder geschehen, habe ich gesagt. Und da ist es! O Sandra, ich freue mich ja so sehr für dich. Ich kann nicht sagen, wie sehr.“

Nun begann eine harte, anstrengende Zeit für das junge Mädchen, aber sie war niemals schlimmer als die, die Sandra bereits hinter sich hatte.

Natürlich gab es hin und wieder auch kleine Misserfolge, doch die vermochten Sandra nicht mehr zu entmutigen, denn im Großen und Ganzen ging es mit ihr trotz aller unwesentlichen Rückschläge doch stetig und unaufhaltsam immer weiter aufwärts.

Als Oliver wieder in die Wiesenhain-Klinik kam, um seine geliebte Sandra zu besuchen, war er voller wunderbarer Zukunftspläne, und er malte sich in den schillerndsten Farben aus, wie schön es sein würde, wenn Sandra wieder laufen konnte. Man weiß so selbstverständliche Dinge erst zu schätzen, wenn man sie verloren hat, dachte er und lief am Fahrstuhl vorbei die Treppe hinauf, während sich der Aufzug träge nach unten bewegte.

„Tag, Dr. Krautmann“, grüßte er den Chefarzt, der soeben aus dem Schwesternzimmer trat.

„Oliver. Wie geht’s?“

„Prima. Macht Sandra nach wie vor gute Fortschritte?“

„Wir sind mit ihr sehr zufrieden“, antwortete Florian Krautmann. „Sie hat einen eisernen Willen.“

„O ja“, sagte Oliver stolz, „wenn es sein muss, kann sie die Zähne wie ein Mann zusammenbeißen.“ Dr. Renate Sanders, die Fachärztin für Pädiatrie, erschien am Ende des Ganges. Ihr oblag vor allem die Behandlung und Überwachung Frühgeborener. Florian Krautmann erblickte sie und sagte zu Oliver: „Bitte entschuldigen Sie mich, ich werde erwartet.“

„Ich auch“, grinste Oliver. „Ich auch.“

Sie trennten sich, und Oliver öffnete wenig später mit erwartungsvoller, freudiger Miene die Tür, die in Sandra Falkenbergs Zimmer führte.

Er stutzte. Das Bett war leer. Hatte man Sandra verlegt? Wieso hatte Dr. Krautmann ihm nichts davon gesagt? Hatte der Klinikchef vergessen, es zu erwähnen?

Sofort erwachte Unruhe in Oliver. Er mochte solche Überraschungen nicht. Sollte er bleiben? Sollte er eine der Schwestern fragen, wo Sandra war?

Er trat unschlüssig ans Fenster und blickte hinaus. Ein grauhaariger Patient schlich, auf seine Frau gestützt, matt durch den Park.

Im Fensterglas spiegelten sich plötzlich zwei Gestalten. Oliver drehte sich rasch um und sah Sandra, die von Schwester Annegret geführt wurde.

 

„Sandra“, stieß er fassungslos hervor. „Du – du – du gehst ja!“

„Kann man das schon gehen nennen?“, fragte Sandra lächelnd.

„Du sitzt nicht mehr im Rollstuhl, bewegst dich auf deinen eigenen Beinen vorwärts. Ich schlage vor Freude gleich Purzelbäume.“ Er trat einen Schritt vor, um die Entfernung zu verringern, breitete die Arme aus und sagte: „Glaubst du, du schaffst die paar Schritte ohne Schwester Annegrets Hilfe?“

„Ich weiß es nicht.“

„Würdest du es bitte versuchen?“ Die grauhaarige Pflegerin ließ sie los. Jetzt stand Sandra erst mal. Allein. Aber sie schien sich keinen Schritt zuzutrauen.

„Na los!“, drängte Oliver sie. „Komm! Komm, Liebling!“

Je länger sie zögerte, desto mehr wuchs die Spannung.

„Du kannst es“, behauptete Oliver eindringlich. „Du kannst alles, was du willst, Schatz. Du bist in diesem Haus schon bekannt für deinen beispielhaften eisernen Willen. Hab’ ich recht, Schwester Annegret?“

„Ja“, schmunzelte die Pflegerin, „das hat sich bereits bis zur Säuglingsstation herumgesprochen.“ Ungelenk setzte Sandra den rechten Fuß vor den linken. Sie musste wieder gehen lernen. Wie ein Kleinkind kam sie sich vor, und sie fühlte sich genauso unsicher.

„Jetzt den linken Fuß“, sagte Oliver Wiechert aufgeregt. „Komm schon, du schaffst es. Du schaffst es, Liebes!“ Sie machte den zweiten Schritt. Beim dritten fiel sie nach vom, aber es passierte ihr nichts, denn Oliver fing sie blitzschnell und sicher auf, und er sagte unendlich zärtlich: „Ich werde von nun an immer da sein, um dich aufzufangen, wenn du fällst.“

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