Für das Herz und die große Liebe: Arztroman Sammelband 5 Romane

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5. Kapitel

Tags darauf stieß sie wieder zur Clique, die sich immer im Hinterzimmer eines kleinen Cafés traf. Lisa und Julian Krautmann fielen in das Gejohle ein, das sich erhob, als Sandra zur Tür hereinkam. Sie hatten mitgeholfen, den Raum mit den vielen Luftballons zu schmücken, die Karsten Rüge aufgetrieben hatte. Karsten war der Leithammel, die Nummer eins. Was er sagte, wurde in neun von zehn Fällen getan. Er sah gut aus, war selbstbewusst und tat sich nie schwer, ein Mädchen aufzureißen. Julian Krautmann war nicht der Einzige, der Karsten um diese Gabe beneidete. Auch andere wären gern so wie er gewesen. Jeder hätte gern so viel Erfolg beim weiblichen Geschlecht gehabt wie Karsten Rüge.

„Toll siehst du aus“, sagte Eva Schroth, Sandras rundliche Freundin, mit ehrlicher Begeisterung.

„Das habe ich Lisas und Julians Vater zu verdanken“, sagte Sandra so laut, dass alle es hören konnten. „Dr. Krautmann ist ein großartiger Arzt. Kinder, wenn euch mal irgendetwas fehlt – ich kann euch die Wiesenhain-Klinik nur wärmstens empfehlen.“

„Über diese Reklame wird sich unser Vater mächtig freuen“, grinste Julian.

Sandra umarmte und küsste alle Mitglieder der Clique. Einige fehlten, zum Beispiel Dorothee „Dotty“ Simonis, aber die vermisste kaum jemand.

„Willkommen daheim, Schätzchen“, sagte Karsten Rüge. Er war ein wahrer Sportfanatiker. Reiten, Schwimmen, Surfen, Tennis, Squash, Radfahren, Fallschirmspringen, Klettern … Es gab kaum eine Sportart, für die er sich nicht interessierte, und er versuchte immer der Beste zu sein. Er hatte viel Freizeit. Seinem Vater gehörte eine Papierfabrik, und Karsten brauchte nur dann in seinem Büro zu erscheinen, wenn er Lust dazu hatte – was vorläufig noch nicht oft der Fall war.

Aber sein alter Herr war noch sehr agil und drängte ihn zu nichts, um ihm nicht von Vornherein die Lust an der Arbeit in der Firma zu nehmen. Er war sich sicher, dass diese sich irgendwann von selbst einstellen würde, wenn Karsten erst mal reif dafür geworden war. Inzwischen konnte Herr Rüge sein Unternehmen noch sehr gut alleine führen.

„Wir haben dich vermisst“, sagte Karsten zu Sandra.

Sie runzelte die Stirn, als würde sie ihm nicht glauben.

„Ehrlich.“ Er hob die Hand zum Schwur.

Sie winkte ab. „Ja, ja, schon gut.“

Der Wirt sagte, er wolle ihr einen Gratisdrink spendieren, und erkundigte sich: „Was soll’s denn sein?“

„Nimm dir was Teures“, raunte ihr der Pfennigfuchser Johannes Brauneis grinsend zu, „so eine Gelegenheit kommt bestimmt nicht so bald wieder.“

Sandra begnügte sich mit einem Glas frisch gepresstem Orangensaft, was Johannes Brauneis natürlich überhaupt nicht verstehen konnte.

Der Cliquenalltag hatte Sandra wieder. Man lachte, scherzte, redete über dies und jenes, schmiedete Pläne. Was konnte man an den nächsten Wochenenden unternehmen?

Sehr viele Vorschläge kamen nicht, Karsten sagte, er könne in zwei bis drei Wochen einen Ausritt organisieren. Da niemand eine bessere Idee hatte, wurde er von den andern damit beauftragt, seine Anregung zu realisieren.

6. Kapitel

„So“, sagte Anette Falkenberg in der Mittagspause und setzte ihre Unterschrift unter den zwei Seiten langen Brief an ihre Freundin Clara Tietze, die vor acht Jahren zu ihrer Tochter nach Bremen gezogen war und sich über jeden Brief aus München freute. „Der war lange schon überfällig. Wenn ich nur nicht so schrecklich schreibfaul wäre. Post kriege ich ja sehr gern, aber mit dem Antworten lasse ich mir immer furchtbar viel Zeit. Clara ist nicht so. Die schreibt immer ziemlich prompt zurück.“

„Wenn du möchtest, werfe ich ihn für dich jetzt gleich in den Postkasten“, sagte Sandra. „Ich möchte mir ohnedies ein wenig die Füße vertreten.“

Sie befanden sich in einem kleinen Raum hinter dem Verkaufslokal.

„Wir gehen gemeinsam“, entschied Anette Falkenberg. „Ein bisschen Bewegung schadet mir auch nicht.“

Sie verließen das Lederwarengeschäft, warfen den Brief ein und umrundeten den Block. Ihr Weg führte sie an einem kleinen, staubigen Park vorbei, aus dem plötzlich ein riesiger Hund geschossen kam.

Anette Falkenberg, die mit fünf Jahren von einem Hund gebissen worden war, geriet in Panik. Die Angst vor Hunden steckte ihr nach so vielen Jahren noch immer tief in den Knochen. Sie schrie um Hilfe, und ehe Sandra sie daran hindern konnte, lief sie davon. Ein Fehler, den sie zu bereuen hatte, denn der große Hund verfolgte sie sofort. Sie hätte ganz ruhig stehen bleiben sollen, dann wäre ihr nichts passiert. So aber jagte das Tier mit kraftvollen Sätzen hinter der Frau her, holte sie ein, sprang sie an und brachte sie zu Fall. Sandra erstarrte für wenige Sekunden zur Salzsäule.

Ein Mann kam aus dem Park gerannt. „Benno! Benno!“, brüllte er.

„Ist das Ihr Hund?“, rief Sandra außer sich vor Angst um ihre Großmutter.

„Ja. Benno, bei Fuß! Benno, hierher!“

Das Tier reagierte nicht. „Mein Gott, so tun Sie doch etwas!“, rief Sandra verstört.

„Benno, komm zu mir! Ich schlage dich windelweich, du verdammter Köter!“

Der Hund ließ von Anette Falkenberg ab. Sein Besitzer stürzte sich auf ihn und schlug ihn mit der Leine so lange, bis er kläglich winselte.

Sandra eilte schwankend zu ihrer Großmutter, die reglos auf dem Asphalt lag. „Oma … Omi…“

Der Mann verdrosch das Tier noch immer. Klatsch, klatsch, klatsch! „Herrgott noch mal, hören Sie auf, den Hund zu schlagen!“, fuhr Sandra ihn wütend an.

„Das darf der nie wieder tun! Nie wieder!“

„Wenn Sie ihn nicht von der Leine gelassen hätten, wäre das nicht passiert.“ Sandra sank neben ihrer Großmutter auf die Knie. „Omi…“ Sie berührte sie vorsichtig an der Schulter. Keine Reaktion. Sandras Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. „Omi …“ Sie drehte die alte Frau behutsam um – und hätte beinahe einen entsetzten Schrei ausgestoßen. Das Gesicht ihrer Großmutter war voller Blut. „Einen Krankenwagen“, krächzte Sandra. „Wir brauchen dringend einen Krankenwagen!“

„Ich lasse dich einschläfern, du Bastard!“, brüllte der Mann seinen Hund an.

„Wenn Sie sich nicht sofort um einen Krankenwagen kümmern, können Sie was erleben!“

Ein junger Mann war hinzugekommen. Er zückte sein Handy und telefonierte, und zehn Minuten später traf der Krankenwagen ein.

„In die Wiesenhain-Klinik“, sagte Sandra.

Sie hatte sich Name und Adresse des Hundebesitzers geben lassen. Benno war gegen alle möglichen Krankheiten geimpft, doch das war von zweitrangiger Bedeutung, denn er hatte Anette Falkenberg ja nicht gebissen.

Der Krankenwagen raste durch München. Sandra starrte die ganze Zeit auf das schlaffe, blutüberströmte Gesicht ihrer Großmutter. Sie sieht wie tot aus, dachte sie verzweifelt.

Aber der Notarzt sagte ihr, dass ihre Großmutter nur bewusstlos sei. Dennoch blieb die Angst in Sandra. Sie wurde sie einfach nicht los.

Sie erreichten die Wiesenhain-Klinik. „Der Hund ist versichert!“, hallte die Stimme des Hundebesitzers in Sandras Kopf. „Es wird alles bezahlt! Machen Sie sich keine Sorgen! Die Versicherung wird für den Schaden aufkommen …!“

Darum machte Sandra sich wirklich keine Sorgen. Sie bangte im Moment nur um das Leben der geliebten Großmutter, die – soweit sie zurückdenken konnte – immer für sie dagewesen war.

Der Rettungsarzt hatte zwar gesagt, sie wäre nur bewusstlos, aber sie sah so schrecklich leblos aus!

In der Notaufnahme der Wiesenhain-Klinik wurde sehr schnell gehandelt. Dr. Michael Warnke und eine junge Kollegin nahmen sich der Patientin unverzüglich an.

Eine dunkelhaarige schlanke Krankenschwester sprach Sandra Mut zu und versuchte sie zu beruhigen. Sandra zitterte, ihr Herz raste, und ihre Augen schwammen in Tränen. Ihr war, als hätte man ihr eine heimtückische Droge gegeben, die eine quälende Schreckensvision ausgelöst hatte. In den realen Ablauf der Geschehnisse schoben sich immer wieder grauenvolle Bilder, die sie zu Tode erschreckten.

Ein Pfleger rief die Schwester, die sich ihrer angenommen hatte, und dann war Sandra allein. Ab und zu ging jemand an ihr vorbei, ohne sie zu beachten. Sie ballte die Hände zu Fäusten und presste die Lippen ganz fest zusammen. Wieso kam nicht endlich jemand und sagte ihr Bescheid? Wie lange sollte diese furchtbare Folter denn noch dauern?

Warum erschien nicht endlich jemand, um sie mit einer halbwegs guten Nachricht zu erlösen? Sie sah immer wieder das blutüberströmte Gesicht ihrer Großmutter vor ihrem geistigen Auge, und die Stimme des Hundebesitzers klang dazu wie ein Hohn: „Der Hund ist versichert! Es wird alles bezahlt! Machen Sie sich keine Sorgen! Die Versicherung wird für den Schaden aufkommen …!“

Wie macht man sich keine Sorgen, wenn ein Mensch, den man liebt, blutend und reglos vor einem liegt?, fragte Sandra sich verzweifelt. Sie putzte sich die Nase und wischte sich die Tränen aus den Augen.

„Sandra?“

Sie drehte sich um und erkannte den Klinikchef. „Dr. Krautmann!“

Er kam zu ihr. „Was tun Sie hier? Ist etwas passiert?“

„Meine Großmutter wurde von einem Hund angefallen.“ Stockend erzählte sie, was sich ereignet hatte. „Ich sterbe vor Sorge um sie, doch niemand sagt mir, wie es um sie steht.“

„Ich kümmere mich darum.“ Dr. Krautmann verschwand hinter einer weißen Tür, und für Sandra ging das peinigende Warten weiter. Nach fünf Minuten erschien der Chefarzt wieder. Nasenbeinbruch, verstauchte Hand, Platzwunde an der Stirn, Gehirnerschütterung – das hatte Dr. Warnke diagnostiziert. Er hatte die Stirnwunde mit fünf Stichen genäht, und inzwischen war Anette Falkenberg wieder bei Bewusstsein, das erfuhr Sandra von Florian Krautmann.

 

„Darf ich zu ihr?“, fragte das junge Mädchen mit belegter Stimme.

„Aber natürlich“, nickte Dr. Krautmann.

„Ich hätte nicht auf Wiedersehen sagen sollen, als ich Ihre Klinik verließ“, seufzte Sandra.

Als sie kurz darauf neben dem Krankenbett ihrer Großmutter saß, sah diese schon beruhigender aus. Das viele Blut war weg, die Platzwunde befand sich unter weichem Mull. Ein breiter Pflasterstreifen klebte auf ihrer Nase.

Sie hing am Tropf, und Dr. Krautmann hatte gesagt, Sandra solle nicht lange bleiben und vermeiden, dass die Patientin sich aufregte.

Sandra sprach demzufolge nicht viel. Sie hielt nur die gesunde Hand der Großmutter, streichelte sie sanft und flüsterte hin und wieder tröstende Worte.

7. Kapitel

„Was ist passiert?“, fragte Oliver Wiechert am Telefon. „Von einem Hund ist deine Großmutter angefallen worden?“ Er schien es nicht glauben zu können. „Das darf nicht wahr sein. Hat der Köter sie gebissen? Ist sie schwer verletzt? Was war das denn für ein Hund?“

„Keine Ahnung“, antwortete Sandra. Sie war zu Hause, hatte Oliver angerufen, um ihm zu sagen, dass sie heute nicht ausgehen wolle. „Er war fast so groß wie ein Kalb.“

„Ein Bernhardiner?“

„Ich glaube nicht, dass man ihn nur einer Rasse zuordnen kann.“

„Was hat das Vieh deiner Großmutter angetan?“, erkundigte er sich mitfühlend.

Sandra zählte die Verletzungen auf.

„So einen Killerhund kann man doch nicht frei herumlaufen lassen“, empörte sich Oliver. „Was ging im Kopf dieses Hundebesitzers nur vor? Manche Menschen gehen mit ihrer Tierliebe entschieden zu weit. Ihr vierbeiniger Liebling darf einfach alles, er kann anstellen, was er will, sie werden dafür immer eine Entschuldigung finden. Was für Früchte solche Auswüchse tragen, sieht man ja. Soll ich zu dir kommen, Schatz?“

„Nein. Bitte sei mir nicht böse, aber ich möchte heute Abend allein sein.“

„Bist du sicher?“

„Ich werde früh zu Bett gehen“, sagte Sandra, die das furchtbare Erlebnis ziemlich ausgelaugt hatte.

„Brauchst du keine Schulter, an die du dich lehnen kannst?“

„Sehr lieb von dir, aber ich komm’ schon zurecht.“

„Muss ich mir keine Sorgen um dich machen?“

„Nein, musst du nicht“, versicherte Sandra.

„Sehen wir uns morgen?“

„Ja.“

„Ich würde deine Großmutter gerne besuchen“, sagte Oliver.

„Wir besuchen sie morgen Abend gemeinsam, okay?“

„Okay. Solltest du irgendetwas brauchen …“

„Ich liebe dich“, sagte Sandra dankbar und legte auf. Sie ging wirklich früh zu Bett, nahm Baldrian zur Beruhigung und schlief rascher ein, als sie gehofft hatte. Tags darauf fühlte sie sich wesentlich besser. Ihr Optimismus stellte sich wieder ein, und sie sagte sich, dass ihre Großmutter bald wieder mit ihr im Geschäft stehen würde.

In der Mittagspause, also vierundzwanzig Stunden nach der Hundeattacke, rief Bertram Harrer, der Hundebesitzer, an. „Wie geht es Ihrer Großmutter?“

Sandra erzählte ihm, was für Folgen Bennos Überfall gehabt hatte.

„Mir tut das alles furchtbar leid“, versicherte Bertram Harrer.

„Haben Sie den Vorfall Ihrer Hundehaftpflichtversicherung gemeldet?“

„Nein“, antwortete der Mann nach kurzem Zögern.

„Wieso nicht?“ Es klang wie ein erboster Aufschrei.

„Ich habe mir die Sache noch einmal gründlich durch den Kopf gehen lassen und bin zu dem Schluss gekommen, dass Benno und mich keine Schuld trifft.“

„Das soll wohl ein Scherz sein.“

„Ganz und gar nicht“, erwiderte der Hundebesitzer.

„Gestern waren Sie anderer Meinung, sonst hätten Sie Ihren Hund nicht so verdroschen.“

„Gestern war ich aufgeregt“, sagte Bertram Harrer. „Inzwischen kann ich aber wieder klar denken. Es wäre überhaupt nichts passiert, wenn Ihre Großmutter stehen geblieben wäre.“

„Benno hat sie verfolgt.“

„Wenn jemand läuft, rennen Hunde hinterher, das ist nun mal so.“

„Benno hätte nicht rennen können, wenn Sie ihn an der Leine geführt hätten.“

„Wer ist denn so herzlos, seinen Hund die ganze Zeit an der Leine zu lassen?“, gab Harrer zurück.

In Sandra kochte die Wut. „Sie waren immerhin herzlos genug, Benno so brutal zu schlagen, dass er kläglich winselte.“

„Ich war aufgeregt, wie ich schon sagte. Ich war außer mir, sah die alte Frau auf dem Gehsteig liegen – da gingen mir die Nerven durch.“

„Hören Sie“, brauste Sandra auf, „Ihr Hund hat meiner Großmutter schweren gesundheitlichen Schaden zugefügt. Das können Sie doch nicht mit einem gleichgültigen Schulterzucken übergehen. Sagten Sie nicht vorhin, Ihnen täte das alles furchtbar leid?“

„Natürlich tut es mir leid – für Ihre Großmutter. Man hat schließlich ein Herz.“

„Was Sie nicht sagen.“

„Benno und ich waren an dem gestrigen Vorfall schuldlos“, behauptete Bertram Harrer kühl. „Niemand kann von uns verlangen, dass wir für etwas geradestehen, das wir nicht getan haben.“

„Haben Sie schon mal von fahrlässiger Körperverletzung gehört?“, fragte Sandra schneidend.

„Wollen Sie mich verklagen?“

„Wenn es sein muss, ja.“

„Damit kommen Sie nicht durch“, bemerkte Bertram Harrer überzeugt.

„Das werden wir ja sehen.“ Wütend knallte Sandra den Hörer auf den Apparat.

8. Kapitel

Als Oliver sie abholte, um mit ihr zur Wiesenhain-Klinik zu fahren, fiel ihm sofort ihre üble Laune auf. „Hast du schlechte Nachricht von der Klinik erhalten?“, erkundigte er sich vorsichtig.

Sandra erzählte ihm von Bertram Harrers Anruf.

„Der Typ hat vielleicht Nerven“, entrüstete Oliver sich. „Du musst ihn anzeigen.“

„Das habe ich gleich nach seinem Anruf getan. So billig kommt Harrer mir nicht davon. Meine Großmutter hat Anspruch auf Schadenersatz und Schmerzensgeld.“

„Sehr richtig, und dafür hat die Hundehaftpflichtversicherung aufzukommen. Dazu gibt es sie ja schließlich.“

Anette Falkenberg sah schon etwas frischer aus. Sie hing nicht mehr am Tropf, aber die Bettruhe, die Dr. Warnke der Patientin wegen der Gehirnerschütterung verordnet hatte, hatte noch Gültigkeit. Sandras Großmutter freute sich über die Blumen, die Oliver mitgebracht hatte, und sie freute sich über seinen Besuch.

„Was machen Sie denn für Sachen, Frau Falkenberg?“, sagte Oliver Wiechert lächelnd.

„Ich hätte nicht fliehen dürfen“, seufzte Anette Falkenberg. „Aber als dieser große Hund auf mich zustürmte, hakte bei mir der Verstand aus.“

„Wieso ist der Hund auf Sie zugerannt?“, fragte Oliver und stellte einen Stuhl neben den, auf den sich Sandra gesetzt hatte.

„Ich habe keine Ahnung.“

„Haben Sie ihn irgendwie gereizt?“ Oliver nahm Platz.

„Überhaupt nicht.“

„Wenn jemand so einen verrückten Hund besitzt, darf er ihn nicht frei herumlaufen lassen“, meinte Sandra rau. „Das Tier hat bestimmt nicht zum ersten Mal Leute erschreckt.“

„Wenn ich als Kind nicht von einem Hund gebissen worden wäre, hätte ich gestern nicht so sehr die Nerven verloren“, sagte Anette Falkenberg dumpf.

„Hast du den neuerlichen Schock inzwischen einigermaßen überwunden?“, fragte Sandra.

„Einigermaßen, ja.“

„Schmerzen?“

Anette Falkenberg hob die bandagierte Linke. „Nur in der Hand.“

„Zum Glück ist sie nicht gebrochen“, sagte Sandra. Sie blieb mit Oliver Wiechert eine Stunde bei ihrer Großmutter. Davon, dass Bertram Harrer den Vorfall seiner Versicherung nicht melden wollte, erzählte sie nichts. Schließlich sollte die alte Dame sich nicht aufregen.

Aber Dr. Krautmann gegenüber erwähnte sie das empörende Verhalten des Hundebesitzers, als sie und Oliver ihm auf dem Flur begegneten, und der Klinikchef riet ihr, sich einen guten Anwalt zu nehmen.

„Ich kenne leider keinen guten Anwalt“, erwiderte Sandra. „Ich kann mir nur irgendeinen aus dem Telefonbuch raussuchen.“

Der Chefarzt empfahl ihr seinen Schwager Dr. Axel Lieskow. „Wenn er sich Ihrer Sache annimmt, ist sie in besten Händen“, sagte Florian Krautmann.

Sandra bat ihn um Dr. Lieskows Adresse.

Der Klinikchef nannte sie und fügte hinzu: „Ich rufe ihn heute noch an, damit er sich für Sie Zeit nimmt.“

„Danke, Herr Dr. Krautmann.“

„Keine Ursache“, gab der Chefarzt freundlich lächelnd zurück.

9. Kapitel

Als Florian Krautmann eine Stunde später nach Hause kam, erzählte er seiner Frau von Bertram Harrers unverständlicher Weigerung, den gestrigen Vorfall seiner Versicherung zu melden.

„Der Mann kann nicht alle Tassen im Schrank haben“, sagte Melanie verständnislos und drastisch. „Ist es denn zu viel Mühe für ihn, seine Versicherung zu verständigen?“

„Er fühlt sich unschuldig“, erklärte Florian. „Eine Meldung des Schadens kommt nach seiner Ansicht einem Schuldbekenntnis gleich und deshalb für ihn nicht infrage.“

„Ja, wer ist seiner Meinung nach denn an dem Vorfall schuld?“

„Frau Falkenberg“, antwortete Florian Krautmann.

Melanie sah ihn fassungslos an. „Der Mann stellt die Dinge ja völlig auf den Kopf.“

„Deshalb werde ich jetzt Axel anrufen, damit er sie wieder umdreht.“ Am andern Ende der Leitung meldete sich Florian Krautmanns Schwester Trixi Lieskow. „Hallo, großer Bruder“, sagte sie erfreut. Sie war nicht ganz fünf Jahre jünger als er. „Schön, deine Stimme zu hören. Wie geht es deiner Familie?“

„Gut. Und deiner?“

„Michaela und Sebastian sind mit dem Zelt nach Sylt unterwegs, und Axel hat mich ganz für sich allein.“ Florian lachte. „Ich hoffe, du überforderst ihn nicht.“

„Er wird es aushalten.“

„Darf ich ihn mal sprechen?“

„Privat?“, wollte Trixi Lieskow wissen.

„Nein“, antwortete Dr. Krautmann. „Ich möchte ihm einen skandalösen Fall ans Herz legen.“

„Du machst mich neugierig.“

„Erspar es mir, die Geschichte zweimal zu erzählen, Trixi“, bat Florian Krautmann seine Schwester. „Du erfährst sie später von deinem Mann, okay?“

Er hörte, wie sie Axel ans Telefon rief: „Liebling! Ein Anruf für dich!“

„Wer ist es?“, war Dr. Lieskows Stimme etwas weiter entfernt zu vernehmen.

„Ein dunkelhaariger, gutaussehender Mann Mitte vierzig, den ich seit frühester Kindheit liebe“, antwortete Trixi.

Dann meldete sich Axel. „Hallo!“

„Hallo, Schwager“, sagte Florian Krautmann.

„Ach, du bist es.“

„Wer dachtest du denn?“, fragte Florian lachend.

„Was weiß ich, wen meine Frau alles seit frühester Kindheit liebt“, brummte Dr. Axel Lieskow.

„Wie voll ist dein Terminkalender?“, erkundigte sich Florian Krautmann.

„Ziemlich voll.“

„Wenn man gut ist, ist man gefragt. Bringst du noch einen Fall unter?“

„Wenn ich dir damit einen Gefallen tue, ja“, antwortete der Rechtsanwalt.

„Morgen wird sich eine junge Frau bei dir melden“, sagte Dr. Krautmann.

„Wie ist Ihr Name?“

„Sandra Falkenberg.“

„Was hat sie für ein Problem?“, wollte Axel Lieskow wissen.

Krautmann informierte den Schwager in kurzen knappen Worten.

„Ich werde sehen, was ich für Frau Falkenberg tun kann“, versprach Dr. Lieskow.

„Danke, Axel.“

„Schon gut“, gab der Anwalt zurück und legte auf.