Die Großmeister des Mordes: Alfred Bekker präsentiert 12 Strand Krimis

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Seine schmächtige Gestalt stand da wie ein Fragezeichen.

"Hey, G-man, du redest Quatsch!"

"Ich rede keinen Quatsch", sagte ich. "Und ich möchte jetzt wissen, was Sie mit Mister Cole zu besprechen hatten!"

"Ihr blufft!", fauchte Sorello dann.

"Wir haben Ihre Nummer aus dem Menue von Coles Handy", erläuterte ich kühl. "Und dazu werden Sie schon irgendeine Erklärung abgeben müssen."

Sorello fuhr sich mit der Hand durch das ungepflegte Haar, strich es sich mit einer fahrigen Geste zurück. "Ich muss gar nichts!", meinte er. "Am besten ich rufe meinen Anwalt."

Er ging zum Telefon, nahm den Hörer ab.

"Das können Sie natürlich tun", sagte ich. "Aber vorher sollten Sie jedoch noch eines wissen. Desmond Cole war ein Profi-Killer. Und die Tatsache, dass Sie mit ihm telefonischen Kontakt hatten, kurz bevor er in eine Schießerei verwickelt war, kann Sie in alles Mögliche hineinziehen, Mister Sorello."

'BigByte' legte den Hörer wieder auf.

Er ballte die Hände zu Fäusten. Dann ließ er sich in einen der rollbaren Drehsessel fallen.

Nervös tickte er mit den Fingern auf der Armlehne herum.

"Vielleicht kannten Sie Cole unter dem Namen Peter Duncan", versuchte ich ihm eine Brücke zu bauen. Jedenfalls war unter dem Namen Peter Duncan sein Mobilfunkanschluss angemeldet.

Sorello atmete tief durch.

"Agent Trevellian, ich..."

Weiter kam er nicht.

In dieser Sekunde barst eine der Fensterscheiben.

Ein Ruck ging durch BigBytes Körper. Für Sekundenbruchteile sah ich den hauchdünnen roten Laserstrahl eines Laserpointers aufzucken.

Doch es war bereits zu spät.

Sorello rollte die Wucht des ersten Treffers ein paar Meter auf seinem Drehstuhl zurück.

Der erste Treffer durchschlug Sorellos Brustbein, ein zweiter erwischte ihn in der Herzgegend.

Ich duckte mich, riss die SIG aus dem Holster.

Der Schütze musste in einem der benachbarten Skyscraper in Stellung gegangen sein. Der nächste Schuss folgte. Einen der Computerschirme erwischte es. Milo kauerte hinter dem Schreibtisch. Per Handy verständigte er bereits die Kollegen.

5

Der Killer zog den Lauf des Spezialgewehrs aus dem kreisrunden Loch in der getönten Fensterscheibe. Er hatte es mit einem speziellen Glasschneider herausgeschnitten.

Der Killer grinste.

Die verschiedenen Schichten der Dreifachverglasung zu durchdringen war schon das Schwierigste an dem ganzen Job gewesen.

Aber selbst das hatte der Killer in aller Ruhe durchführen können. Er hatte sich dafür ein Fenster im Treppenhaus auf Höhe des 24. Stock ausgesucht. Von hier aus hatte er einen freien Blick auf das Penthouse seines Opfers gehabt. Außerdem befanden sich im Treppenhaus weder Überwachungskameras noch musste er damit rechnen, dass plötzlich jemand vorbeikam.

Selbst Fitness-Fanatiker gingen lieber im nahen Central Park joggen, anstatt den Lift mit der Treppe zu vertauschen.

Es diente lediglich als Fluchtweg für den Notfall.

Der Killer begann damit, das Spezialgewehr auseinander zu nehmen. Die Einzelteile verstaute er in einer Sporttasche mit der Aufschrift FUN GENERATION. Er hing sie sich über die Schulter und verließ dann das Treppenhaus. Erstens hatte er keine Lust, 23 Stockwerke zu Fuß hinter sich zu bringen. Und zweitens: Wenn ihn doch ein Hausmeister oder einer der Security Guards im Treppenhaus antraf, würde er auf jeden Fall auffallen.

Und das wollte er nicht.

Der Killer ging den Korridor entlang bis zu den Aufzügen.

Eine der metallfarbenen Schiebetüren öffnete sich.

Zwei der bewaffneten Security Guards, die in diesem Haus für Sicherheit und Ordnung sorgten, traten aus der Liftkabine.

Der Größere der beiden hob seine linke Hand. Die Rechte wanderte in Höhe des Pistolengriffs, der aus dem Gürtelholster ragte.

"Halt!", rief er. "Der Aufzug ist zur Zeit außer Betrieb..."

"Wie ich gesehen habe, funktioniert er einwandfrei!", zischte der Killer zwischen den Zähnen hindurch.

"Sie müssen sich trotzdem etwas gedulden, Sir! Wir haben einen Anruf vom FBI bekommen, dass aus diesem Haus heraus geschossen wurde."

"Ach!"

"Deswegen darf niemand die Stockwerke von 20 aufwärts verlassen, bis das abgeklärt ist."

Der Kleinere der beiden Security-Leute ergänzte: "Die Cops sind bereits unterwegs."

Im Gehirn des Killers arbeitete es fieberhaft.

Er sah auf die Uhr am Handgelenk.

"Ich habe einen wichtigen Termin."

"Tut mir leid", erwiderte der Größere. "Wir können keine Ausnahme machen!"

In derselben Sekunde zog der kleinere die Pistole, eine Beretta. Der Lauf zielte auf den Oberkörper des Killers.

"Legen Sie die Tasche auf den Boden und schieben Sie sie hier her", forderte der Security Guard. "Danach nehmen Sie die Hände hoch und lehnen sich an die Wand."

"Was soll das? Dazu haben Sie nicht das Recht!"

"Die Rechtsgrundlage können Sie jederzeit im Mietvertrag nachlesen, Sir!"

Der Killer nahm die Sporttasche von der Schulter.

Der Größere der beiden Security Guards wartete nicht erst, bis der Killer sie auf den Boden gesetzt hatte. Der Uniformierte riss sie regelrecht an sich, öffnete den Reißverschluss.

Der Killer hob inzwischen die Hände, sah wie sich das Gesicht des Größeren veränderte.

In dieser Sekunde musste er handeln.

Als der kleinere den Blick für einen Moment zu seinem Kollegen wandte, ließ der Killer den Fuß hochschnellen. Ein Karatetritt kickte dem Uniformierten die Waffe aus der Hand.

Der zweite Tritt traf ihn am Hals. Röchelnd taumelte der Security Guard einen Schritt zurück, sackte dann an der Metalltür zum Lift hinab. Reglos blieb er liegen.

Sein Kollege ließ die Tasche fallen, griff nach der Beretta an seiner Seite.

Der Killer wirbelte herum. Sein Fuß schnellte wie eine Keule durch die Luft und traf punktgenau den Solar Plexus des Security Guards. Ächzend brach der zusammen. Ein Schuss löste sich aus seiner Waffe, ging aber in den Teppichboden.

Der Killer kickte ihm die Beretta aus der Hand.

Der folgende Handkantenschlag tötete den wehrlosen Wachmann auf der Stelle.

Der Killer bückte sich, nahm die Tasche mit der Aufschrift FUN GENERATION wieder an sich.

Dann trat er in die Liftkabine.

Ich muss das verdammte Gewehr loswerden, überlegte er. Sonst komme ich hier nicht raus!

6

"Alle Ausgänge sind abgeriegelt, Agent Trevellian", sagte mir Roy Torres, der Chef des privaten Security Service, dessen Männer in dem gegenüber von Mark 'BigByte' Sorellos gelegenen Hochhaus für Sicherheit sorgten. "Wenn wirklich aus diesem Haus heraus geschossen wurde, dann muss der Täter noch hier sein."

"Es wurde aus diesem Haus heraus geschossen", versicherte ich. "Darauf können Sie sich verlassen."

Torres war immer noch skeptisch.

Wir standen am Haupteingang des Gebäudes. Nach und nach trafen die Kollegen ein. Erst die Beamten des zuständigen Reviers der City Police, dann unsere eigenen Leute.

Bald würden auch Spurensicherer der SRD eintreffen, um den Tatort in Sorellos Penthouse zu untersuchen.

Unsere Kollegen Orry Medina, Clive Caravaggio und Fred LaRocca begrüßten uns.

Sie waren bereits in groben Zügen über das informiert, was geschehen war.

"Ich weiß nicht, in welches Wespennest ihr da getreten seid, aber wie es scheint, war 'BigByte' in Dinge verwickelt, denen er nicht gewachsen war", vermutete Clive. Der flachsblonde Italo-Amerikaner war der zweite Mann im FBI-Field Office New York und damit der Stellvertreter unseres Chefs Special Agent in Charge Jonathan D. McKee.

"Er war jemandem wichtig genug, um einen Profi-Killer auf ihn anzusetzen", kommentierte Milo.

Torres meldete sich Wort. "Er kann hier jedenfalls nicht raus."

"Und eine Flucht durch den Keller?", erkundigte ich mich.

"Wenn er sehr schnell war, schaffte er es vielleicht, einen Lift zu benutzen, bevor Ihre Männer Aufzüge und Treppenhaus abgeriegelt hatten..."

"Es gibt keine Kellerfenster", erklärte Torres. "Darauf wollen Sie doch hinaus, oder? Wir haben eine hochmoderne Belüftungslanlage."

"Kanalisation?", hakte ich nach.

"Halte ich als Fluchtweg auch für ausgeschlossen. Sämtliche Eingänge zum Kanalsystem sind nicht so einfach zugänglich."

Roy Torres machte plötzlich ein angestrengtes Gesicht.

Er trug ein Headset, dass ihn über Funk mit der Video-Zentrale des Security Service verband.

Torres' Gesicht wurde blass.

Einen Augenblick später berichtete er: "Zwei unserer Wachleute sind im 24. Stock von einem Unbekannten zusammengeschlagen worden. Einer unserer Leute ist mit Sicherheit tot, bei dem anderen war das über die Kamera nicht zu sehen."

"Sie haben den Kerl auf Video?", fragte ich.

"Ja. Unsere Leute sind unterwegs dorthin."

"Das muss er sein!", vermutete Milo.

"Er ist mit dem Lift auf dem Weg 'nach unten'", berichtete Roy Torres. "Genau, wie Sie vermutet haben, Agent Trevellian."

"Schalten Sie die separate Stromversorgung der Aufzüge ab!", forderte ich. "Und zwar sofort! Vielleicht haben wir Glück, und er sitzt in der Falle!"

"Durch die Videoaufzeichnung haben wir den genauen Zeitpunkt der Tat", erklärte Torres. "Wir können also berechnen, wo sich die Liftkabine befindet, in der sich der Killer aufhält. Zumindest ungefähr."

 

Es dauerte nur Augenblicke, dann hatten Torres' Leute in der Videozentrale das erledigt.

"Er muss schon unten im Keller sein!", stellte Torres tonlos fest, nachdem er eine entsprechende Meldung aus dem Ohrhörer seines Headsets erhalten hatte. "Er verlässt gerade den Aufzug... Meine Leute haben ihn auf dem Bildschirm der Überwachungskamera."

Ich griff zur SIG in meinem Gürtelholster, überprüfte kurz die Ladung.

Clive Caravaggio sah mich an.

"Kugelsichere Westen anlegen und dann geht es nach unten", meinte er. "Wir holen ihn uns!"

7

Schweißperlen bildeten sich auf der Stirn des Killers. Er bemerkte die Überwachungskameras, während er den Lift verließ. Die Schiebetür schloß sich nicht.

Der Strom!, durchzuckte es den Killer. Sie haben den Strom abgeschaltet!

Aber um Sekundenbruchteile zu spät.

Andernfalls hätte der Killer jetzt wie ein Gefangener in der Liftkabine gesessen.

Der Job war so einfach gewesen und jetzt war man ihm schon ziemlich dicht auf den Fersen. Jemand musste den Sicherheitsdienst des Hauses eingeschaltet haben, und zwar schon Augenblicke nach den Schüssen auf Mark Sorello.

Er ging den Korridor entlang, überlegte, was er tun sollte.

Eigentlich hatte er hier unten nur die Tasche mit dem Gewehr abstellen wollen, um dann das Haus auf normalem Weg zu verlassen. Aber das ging jetzt nicht mehr. Das, was er mit den beiden Wachmännern im 24. Stock angestellt hatte, war mit Sicherheit auf den Überwachungsschirmen zu sehen gewesen.

Die andere Seite wusste also, wie er aussah.

Und sie wussten, wo er sich befand.

Selbst hier unten waren überall Kameras.

Der Killer setzte die Tasche auf den Boden, holte die Einzelteile des Spezialgewehrs wieder heraus. Eine Sonderanfertigung, die ein in der Waffen-Szene bekannter Freak für ihn hergestellt hatte. Das Magazin fasste dreißig Schuss. Das wichtigste war das hochwertige elektronische Zielerfassungsgerät inklusive Laser-Pointer. Der Lauf war dünn und kurz. Mit wenigen Handgriffen war die Waffe zusammengesetzt. Der Killer legte an und schoss auf eine der Kameras.

Er war ein guter Schütze.

Nur einen einzigen Schuss brauchte er, um sie zu zerstören.

Dann setzte er seinen Weg fort.

Überall, wo er eine Kamera sah, zerstörte er sie. Es war wie Blumen schießen auf dem Jahrmarkt.

So schnell kriegt ihr mich nicht!, schwor er sich.

8

Wir gelangten über die Nottreppe in den Keller. Über Mikro und Ohrhörer hatten wir Funkverbindung.

Die Einsatzleitung hatte Clive, der sich zur im ersten Stock befindlichen Videozentrale des Sicherheitsdienstes begeben hatte.

Ich ging als erster, Milo war mir dicht auf den Fersen, danach folgten Fred und Orry sowie weitere G-men.

Die SIGs hielten wir in der Faust.

"Ich kann euch nicht sagen, wo er ist", meldete sich Clive über Funk. "Zuletzt hat er die Kameras im Waschsalon zerstört. Dort befanden sich zu dem Zeitpunkt drei Personen, die wir nicht warnen konnten."

"Was für Personen?", fragte ich.

"Ein Mann, Mitte fünfzig, etwa 1,70 groß. Außerdem zwei junge Frauen."

Es lag auf der Hand, dass er sie als Geiseln genommen hatte.

Wir pirschten uns vorsichtig weiter voran.

Gegenseitig sicherten wir uns ab, tasteten uns jeweils bis zur nächsten Ecke vor und näherten uns auf diese Weise immer weiter dem Waschsalon. Hinweisschilder wiesen uns den Weg.

Ich ließ den Blick schweifen. Es gab wirklich keine Überwachungskamera, die der Killer auf seinem Weg ausgelassen hatte.

Als wir den Korridor vor dem Waschsalon erreichten, hörten wir ein leises Wimmern.

Eine Frauenstimme.

Orrys Gesicht wurde noch dunkler, als es bei dem G-man indianischer Abstammung ohnehin der Fall war. Er packte die SIG mit beiden Händen.

Ich nahm an, das er im nächsten Moment voranstürmen würde.

Ich schüttelte den Kopf, bedeutete ihm mit einer Handbewegung, sich zurückzuhalten.

"Das ist eine Falle!"

Ich flüsterte diese Worte nur. Aber über das Mikro an meinem Hemdkragen konnten alle an diesem Einsatz beteiligten Kollegen sie deutlich verstehen. Selbst Clive Caravaggio in der Videozentrale.

Die Frau stöhnte jetzt schmerzerfüllt auf.

Wut erfasste mich.

Unser Gegner spielte mit unseren Nerven. Innerlich kochte ich angesichts der Brutalität, mit der dieser Mann vorging.

Er war eiskalt. Und berechnend.

Und so nahm ich an, dass jedes Detail dessen, was nun geschah, genau geplant war.

Schritte ertönten.

Lackschuhe auf dem gefliesten Boden des Waschsalons.

Die Frau stöhnte wieder auf.

Die Schritte klangen zögernd, unsicher.

Ein Mann trat auf den Korridor hinaus. Er hatte die Hände erhoben. Das kalte Licht der Neonröhren spiegelte sich in seinem nur von einem Haarkranz umrahmten Schädel.

"Nicht schießen!", rief er.

Er blickte sich um, sah zurück in den Waschsalon.

Zweifellos hatte der Killer die Geisel jetzt noch im Visier.

Sobald der Mann eine falsche Bewegung machte, würde ihn eine Kugel treffen.

Er zitterte leicht.

Schweißperlen rannen ihm von der Stirn.

Er sah uns an.

"Wenn ich mich weiter zu Ihnen hin begebe, wird der Kidnapper eine der beiden Frauen erschießen", sagte der Mann dann mit tonloser Stimme. "Vielleicht auch mich... Ich muss also hier stehen bleiben."

Ich nickte ihm zu.

Im Augenblick konnte ich nichts für den Mann tun. Er stand wie auf dem Präsentierteller vor der Tür des Wachsalons.

Er presste die Lippen aufeinander.

"Sie sollen sich zurückziehen", erklärte er dann tonlos. "Das ist die Forderung dieses Mannes. Und Sie müssen sie erfüllen, sonst wird es Tote geben..."

Das wird es in jedem Fall!, ging es mir bitter durch den Kopf. Denn wenn es diesem Killer gelang, in Freiheit zu bleiben, dann gab es zwangsläufig früher oder später neue Opfer.

"Können Sie mich hören?", rief ich an die Adresse des Killers gerichtet. "Sie haben keine Chance. Das Haus ist umstellt. Ihr Gesicht ist auf Video gespeichert! Sie können nicht entkommen..."

Eine Pause entstand.

Der Mann wandte den Kopf, versuchte aus den Augenwinkeln heraus in den Waschsalon zu sehen.

Dann machte er einen schnellen Schritt nach vorn, wollte sich damit aus der Schusslinie bringen.

Eine Panikreaktion.

Und ein tödlicher Fehler.

Eine Kugel traf ihn an der Schläfe.

Er taumelte zu Boden und blieb regungslos liegen.

"Schätze, dass war so eine Art Antwort!", knurrte Orry grimmig.

Uns waren die Hände gebunden. Noch hatte dieser Wahnsinnige zwei Geiseln in seiner Gewalt.

Wieder waren Schritte zu hören. Sie wirkten noch unsicherer als es die des Mannes gewesen waren. Eine junge Frau Mitte zwanzig trat aus dem Waschsalon heraus. Sie trug mittelhohe Absätze, hielt die Hände empor. Die enganliegenden Jeans und das knappe T-Shirt betonten ihre Figur. Das rostbraune Haar hing ihr zerzaust im Gesicht.

Sie hatte Mühe, ein Schluchzen zu unterdrücken.

Der Killer musste sie angewiesen haben, sich nicht umzudrehen. Starr blickte sie erst gegen die Wand, dann in unsere Richtung.

"Ziehen Sie sich zurück!", bat die Frau. Ein Weinkrampf durchfuhr sie, ließ sie zittern. Sie war mit den Nerven völlig am Ende. Kein Wunder. Schließlich hatte sie soeben mit ansehen müssen, wie eine Mitgeisel kaltblütig erschossen worden war. Ihr Blick verweilte kurz bei dem Toten.

"Bitte!", wimmerte die junge Frau. "Dieser Verrückte ist zu allem fähig..."

Sie machte einen Schritt rückwärts, auf die Tür zum Waschsalon zu. Dabei drehte sie sich jedoch nicht um.

"Ich muss zurück", sagte sie. "Sonst erschießt er mich. Bitte, ziehen Sie sich zurück... Der Kerl macht ernst!"

Ich wechselte einen Blick mit Milo, dann mit Orry.

"Wir gehen auf die Bedingung ein", rief ich, in der Hoffnung, dass der Killer das hörte. "Wir ziehen uns zurück."

Clive Caravaggio meldete sich über Funk. "Der Kerl muss früher oder später durch Bereiche, in denen es noch Kameras gibt!"

Die weibliche Geisel ging rückwärts zurück in Richtung des Eingangs zum Waschsalon.

Schritt um Schritt näherte sie sich ihrem Peiniger.

Aber sie hatte keine andere Wahl.

Ein Stöhnen drang aus dem Waschsalon, das in ein entsetztes Wimmern überging.

Dann folgte ein Schussgeräusch.

"Dieses Schwein", murmelte Orry.

Kein Zweifel, der Kerl hatte seine zweite Geisel erschossen! Möglicherweise hatte sie die Nerven verloren und irgendeine Dummheit begangen.

Die junge Frau, die sich unweit des Waschsalon-Eingangs befand, warf sich zu Boden. Ein Schuss zischte über sie hinweg. Die Kugel drang in die Wand ein und ließ den Putz bröckeln.

In diesem Moment stürmte ich nach vorn, die SIG in der Faust.

Milo und Orry waren mir dicht auf den Fersen.

Mit der SIG in beiden Händen stürzte ich in den Waschsalon, ging in die Hocke dabei und legte die Waffe an.

Zu beiden Seiten befanden sich Waschmaschinen. Mindestens eine davon war sogar in Betrieb. Ein Summton erfüllte den Raum. Auf der gegenüberliegenden Seite stand eine Tür halb offen. Dahinter war Dunkelheit.

Sekunden nachdem ich in Stellung gegangen war, sah ich dort ein Mündungsfeuer aufblitzen.

Ich spürte, wie das Projektil mich mitten in die Brust traf. Die Wucht des Geschosses riss mich zurück, streckte mich zu Boden. Die Kevlar-Weste rettete mir das Leben. Aber selbst wenn man so etwas trug, konnte ein Treffer wie ein kräftiger Tritt wirken.

Mir blieb für eine Sekunde die Luft weg, während ein weiterer Schuss dicht über mich hinwegzischte.

Ich rollte mich zur Seite, verschanzte mich hinter einer der Waschmaschinen. Dabei rang ich nach Luft.

Unser Gegner ballerte wild drauf los.

Schuss um Schuss zischte in unsere Richtung. Ich hatte keine Ahnung, was mit Milo und Orry war. Ich kauerte hinter der Waschmaschine, die SIG in der rechten Faust. Durch den Geschosshagel gab es Dutzende von brandgefährlichen Querschlägern. Löcher wurden in die Waschmaschinen gestanzt.

Eine der Sichtscheiben platzte auf, blubberndes Waschwasser ergoss sich auf den Boden.

Der Geschosshagel verebbte.

Die Tür klappte geräuschvoll zu.

Eine feuerfeste Metalltür mit einem Warnhinweis, der besagte, dass der Zutritt zum Heizungskeller nur autorisierten Personen gestattet sei.

Ich rappelte mich auf, rannte die Reihe der Waschmaschinen entlang, erreichte dann die Tür.

Milo und Orry tauchten ebenfalls aus ihrer Deckung hervor.

Das Schloss der Metalltür war bereits zerstört. Offenbar hatte der Killer mit einem gezielten Schuss dafür gesorgt, dass ihm ein Fluchtweg aus dem Wachsalon blieb, denn normalerweise war diese Tür sicherlich verschlossen.

Ich meldete mich über Funk bei Clive.

"Er ist im Heizungskeller. Gibt es von dort einen zweiten Ausgang?"

"Nein. Er sitzt in der Falle, Jesse. Dem Plan nach gäbe es da allenfalls noch einen Entlüftungsschacht, aber der ist so schmal, dass höchstens ein Kind darüber entkommen könnte..."

"Der Kerl ist gefährlich. Er hat uns in eine Falle gelockt, indem er vortäuschte, dass er seine Geisel erschossen hat!"

"Sie lebt noch?"

"Jedenfalls ist sie nicht im Waschsalon, das heißt, dass die Frau noch bei ihm sein muss... Was schlägst du vor, Clive?"

"Ihn zermürben. Er kann dort nicht heraus..."

"Verdammt, denk an die Geisel!"

"Was meinst du wohl, was mir im Kopf rumschwirrt, Jesse?"

"Na, schön..."

Ich ließ die SIG sinken.

Wir hielten uns seitlich der Metalltür. Sie mochte feuersicher sein, aber was ein großkalibriges Projektil damit anstellen konnte zeigte das zerstörte Schloss. Schließlich bestand sie nicht aus massiven Panzerplatten, die dafür gemacht waren, vor einem Kugelhagel zu schützen.

 

"Könnt ihr mit dem Killer in Kontakt treten?", fragte Clive.

"Schätze, der kann uns verstehen", meinte Milo.

Er nickte mir zu.

"Hier ist das FBI! Sie haben keine Chance zu entkommen! Geben Sie auf! Sie werden einen fairen Prozess bekommen..."

Keine Antwort.

"Sie haben eine Geisel und so lange können wir nichts gegen Sie unternehmen", fuhr ich fort. "Aber wie lange wollen Sie da drinnen aushalten? Einen Tag? Zwei Tage? Wir haben Zeit. Irgendwann werden Ihnen die Augen zufallen vor Müdigkeit! Haben Sie mal darüber nachgedacht, wie lange ein Mensch ohne Schlaf auskommt? Wenn Sie sich jetzt ergeben und das Leben Ihrer Geisel schonen, wird man Ihnen das positiv anrechnen..."

Ich wartete.

Mit Sicherheit hatte er meine Worte verstanden. Ich musste ihm eine Perspektive geben, notfalls sogar etwas vorlügen. Es ging um das Leben der Geisel.

"Ich habe Anwälte erlebt, die haben Leute vor dem elektrischen Stuhl bewahrt, gegen die Sie ein Chorknabe sind! Also seien Sie vernünftig! Ihre Karten bei der Justiz werden nur schlechter..."

Ein Schrei folgte.

Der Schmerzensschrei einer weiblichen Stimme, dann ein Aufstöhnen. Schließlich ein Geräusch, dass sich anhörte, als ob ein Körper auf dem Boden aufschlug.

Die Geisel!

Ich packte die SIG mit beiden Händen.

Die Versuchung war groß.

Ein Tritt gegen die unverschlossene, nur angelehnte Metalltür und...

Aber ich wollte mich nicht zweimal auf dieselbe Weise hereinlegen lassen.

Milo und ich wechselten einen kurzen Blick. Ich sah die Wut in seinen Augen. Er empfand dasselbe wie ich.

"Geben Sie ein Lebenszeichen Ihrer Gefangenen!", rief ich.

Ich hatte Mühe, mich zu beherrschen. Aber unser Gegner war ein eiskalt kalkulierender Killer. Um ihn zur Strecke zu bringen, mussten wir genauso kühl bleiben.

Die Sekunden rannen dahin.

Dann quoll plötzlich eine Flüssigkeit unter der Metalltür hervor.

Im ersten Moment dachte ich daran, dass der Killer möglicherweise eines der Heizöl-Reservoire angezapft hatte und uns alle in die Luft jagen wollte.

Aber für einen eiskalten Rechner wäre das untypisch gewesen. Einer wie der wollte selbst überleben, auch wenn es ihm völlig gleichgültig war, wie viele ansonsten dabei draufgehen mussten.

Ich beugte mich nieder, nahm mit den Fingern ein paar Tropfen auf, roch daran, benetzte die Lippen damit.

Orry sah mich erwartungsvoll an.

"Wasser!", stellte ich fest.

"Was hat der Kerl vor?"

"Das werden wir gleich wissen!"

Mein Instinkt sagte mir, das ich nicht länger warten durfte.

Ich öffnete die angelehnte Tür. Sie flog nicht zur Seite. Stattdessen musste ich sie mühsam aufdrücken. Auf der anderen Seite stand das Wasser fast Knöchelhoch. Wie ein Strom ergoss es sich in den Waschsalon.

Ich war darauf gefasst, dass ein Geschosshagel in meine Richtung prasselte und sprang seitwärts, presste mich dann gegen die Wand.

Aber nicht ein einziger Schuss fiel.

Ich schnellte in geduckter Haltung vor, die SIG im Beidhand-Anschlag.

Das Licht, das aus dem Waschsaloon in den Heizungskeller fiel, war spärlich. Es verlor sich nach wenigen Metern, spiegelte sich im blanken Metall der mehrere Kubikmeter großen, zylinderförmigen Kessel, in denen das Wasser für die Zentralheizung vorgeheizt wurde.

Lauwarm war die Brühe, die mir um die Knöchel floss.

Ich suchte nach dem Lichtschalter, fand ihn auch.

Dann ließ ich den Blick schweifen.

Milo war mir gefolgt, sicherte mich ab.

Dann folgte Orry, zusammen mit einigen anderen G-men.

Im Wasser lag ein menschlicher Körper.

Es war die letzte Geisel. Orry kümmerte sich um die Frau, beugte sich nieder und drehte sie herum. Sie hatte eine Platzwunde an der Stirn, die vermutlich von einem Schlag mit einem stumpfen Gegenstand herrührte.

"Sie ist bewusstlos!", stellte Orry fest.

Ich suchte fieberhaft nach dem Killer. Unsere Kollegen schwärmten aus.

Jeden Winkel durchsuchten wir. Aber der Kerl war nicht zu finden. Er befand sich weder zwischen den Kesseln, noch hinter den Heizaggregaten.

Der Killer schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein.

Milo glaubte schließlich, etwas gefunden zu haben.

Er deutete auf ein Gitter, das nur provisorisch vor eine Öffnung in der Wand gestellt war. Zweifellos war es herausgebrochen worden.

"Der Lüftungsschacht", stellte Milo fest.

Ich ging die Hocke, sah in die Öffnung hinein.

"Das ist völlig unmöglich!", meinte ich. "Auf diesem Weg kann er nicht entkommen sein!"

"Er ist aber nicht hier, Jesse!"

"Aber an einen Killer, der die Fähigkeit hat, seine Knochen zu verbiegen, glaube ich nicht!"

"Und an einen, der sich unsichtbar machen kann?"

Ich sah mir die Öffnung zum Lüftungsschacht noch einmal an.

Alles viel zu offensichtlich!, dachte ich. Als ob der Kerl uns mit der Nase darauf stoßen wollte.

Inzwischen kam die Frau wieder zu sich. Sie war benommen von dem Schlag, den sie erhalten hatte, stöhnte auf. Orry half ihr.

Ich ging die Reihe der Wasserkessel entlang.

Gegen jeden der Kessel schlug ich mit dem Lauf der SIG.

Kessel Nummer drei war abgelassen worden.

Der Klang verriet es deutlich.

Ich sah Milo an und nickte.

"Hier ist er!"

Ehe Milo etwas erwidern konnte, stieg ich die schmalen Sprossen der Trittleiter empor, mit der man zu Wartungszwecken an die Oberkante des Kessels gelangen konnte. Oben angekommen, war es gar nicht so einfach, sich freihändig zu halten. Mit der Linken öffnete ich die Abdeckklappe, in der Rechten hielt ich die SIG...

...und blickte Sekundenbruchteile später in die Mündung eines Spezialgewehrs.

Der Strahl des Laserpointers tanzte auf meiner Stirn.

Der Killer hockte am Boden des Kessels, stand dabei noch knietief im lauwarmen, auf ca. 40 Grad vorgeheiztem Heizungswasser.

Der Lauf meiner SIG war auf seinen Kopf gerichtet.

Sekundenbruchteile geschah nichts. Es bestand ein Patt zwischen uns. Auf die geringe Distanz konnte er kaum hoffen, mich ausschalten zu können, ohne selbst noch eine Kugel abzubekommen. Und außerdem wusste er, dass ich nicht allein war. "Das Spiel ist aus!", sagte ich.

Er war der kühle Rechner, den ich erwartet hatte.

Der Killer ließ das Gewehr sinken.

Ich deutete auf die Trittleiter, die an der Innenseite des Kessel hinunterführte.

"Ihre Rechte bete ich Ihnen vor, wenn Sie hier herausgeklettert sind!"