Im Licht des Mondes

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Kapitel 7

Mick:

Müde gehe ich die Gänge mit dem spärlichen Angebot des Supermarktes durch und erledige meinen längst überfälligen Wocheneinkauf. Länger kann ich ihn nicht mehr aufschieben, denn ich hatte wirklich nichts mehr Essbares im Haus. Es ist nicht meine Art, Dinge hinauszuzögern, doch jedes Mal, wenn ich von meiner Arbeit hatte pünktlich gehen wollen, war irgendetwas dazwischengekommen. Fast so, als hätte das Schicksal selbst etwas dagegen. Auch heute war das der Fall gewesen, denn wir hatten in den letzten Stunden einen ganz wichtigen Kundenauftrag reingekriegt. Unser Chef hatte darauf bestanden, dass wir diesen heute noch erledigen, um mehr Geld aus der Reparatur gewinnen zu können.

Es ist unheimlich still im Laden, da so gut wie kein anderer Kunde hier ist. Leise seufze ich auf, als ich vor der leeren Kiste der Backwaren stehe. Hierfür bin ich wohl zu spät. Dies ist einer der Gründe, warum ich um diese Uhrzeit nicht gern meine Besorgungen erledige. Das, was man möchte, ist meist ausverkauft und ich bin müde und erschöpft vom langen Arbeitstag, sodass ich die Hälfte von dem, was ich brauche, ohnehin vergesse.

Etwas neben der Spur suche ich eine Alternative für das nicht vorhandene Brot zum Frühstück und entscheide mich schließlich für Cornflakes. Zum Glück kann ich noch zwei Päckchen Milch ergattern und ein paar Dosen mit Fertigessen, das nur aufgewärmt werden muss. Das sollte die nächsten Tage reichen. Erleichtert, den lästigen Einkauf hinter mich gebracht zu haben, bewege ich mich schleppend Richtung Kasse. Die letzten Nächte konnte ich kaum schlafen und dieser eine Albtraum vor zwei Tagen und die derzeitigen Überstunden nagen heftig an mir. Ich bräuchte dringend ein bisschen Urlaub, doch bei der momentanen Auftragslage wird das schwierig werden.

Ich kneife leicht die Augen zusammen, denn das defekte und ständig flackernde Licht bereitet mir Kopfschmerzen. Eilig schlurfe ich weiter zur Kasse. Aus den Augenwinkeln registriere ich einen kleinen Jungen im Alter von fünf Jahren. Er sieht abgemagert und blass aus wie ein Gespenst. Mit zittrigen Fingern lässt er etwas Käse und Wurst in seiner ausgebeulten und mit Flicken übersäten, braunen Jacke verschwinden. Er scheint mich nicht zu registrieren, bis er sich mit wackeligen Beinen etwas zu ruckartig umdreht und direkt gegen mich läuft. Seine hellbraunen Augen weiten sich angstvoll und sein Mund öffnet sich entsetzt. Er scheint vor Furcht gelähmt, unfähig auch nur eine Bewegung zu tätigen oder einen Laut von sich zu geben. Wie eine Maus in der Mausefalle kauert er auf dem Gang und starrt mich an, als wäre ich der große, böse Kater, der ihn bei der nächsten Regung tötet. Genauso erstarrt wie der ertappte Dieb verharre auch ich, bis ich die Situation richtig begreifen kann.

„Gibt es da hinten ein Problem?“, die alte Verkäuferin des überschaubaren Ladens kommt mit holprigen Schritten auf uns zu gewatschelt und blickt misstrauisch von mir zu dem Blondschopf, der noch blasser wird, als er ohnehin schon ist. Die Zeit scheint in diesem Moment stillzustehen und mein Gewissen will mich innerlich zerreißen. Zögernd werfe ich noch einmal einen Blick auf den bibbernden Jungen, der kurz vor einer Ohnmacht steht. Die alte Frau mustert den Knirps von oben bis unten, welcher immer kleiner wird. Ihre Augen formen sich zu schmalen Schlitzen und blitzen argwöhnisch auf.

„Alles okay, danke Ihnen“, gebe ich in ruhigem Tonfall zurück und lächle die Verkäuferin beschwichtigend an. Skeptisch betrachtet sie mich. Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, bis sie endlich nickt und wieder nach vorne an ihre Kasse schlendert.

„Beeilt euch aber – ich möchte den Laden für heute dichtmachen!“, gibt sie murrend von sich, dann ist sie hinter dem nächsten Regal verschwunden. Ich atme beruhigt aus, dann lege ich dem mageren Jungen besänftigend eine Hand auf die Schulter und merke, dass er noch dürrer ist, als er aussieht. Ein leichter Schmerz durchbohrt meine Brust. Ich bemühe mich ihn so freundlich wie möglich anzulächeln.

„Hey Kleiner. Ist schon in Ordnung. Was hast du denn alles eingesteckt? Gib es mir, okay? Keine Sorge, ich bezahle das für dich.“

Langsam richtet sich der fremde Junge auf und öffnet zögernd seine Jacke. Mit immer noch zitternden Fingern reicht er mir seine Beute: eine Stange Salami, etwas Gouda und zwei Äpfel. Ich sehe kurz in meinem Gelbeutel nach, doch mein Geld sollte reichen. Für die nächsten paar Tage heißt es eben etwas kürzertreten. Behutsam nehme ich ihm die Lebensmittel ab und schiebe ihn sacht vor zur Kasse. Der Junge fühlt sich sichtlich unwohl, er kann die Situation wohl noch nicht einschätzen. Die alte Frau rechnet mit einem handlichen Taschenrechner flink die Beträge zusammen und ich zahle eilig die Summe, nehme die Einkäufe und laufe schnell mit dem Kind nach draußen. Dort reiche ich ihm wie versprochen seine Lebensmittel. Seine Augen strahlen, als er bemerkt, dass er das Essen auch wirklich bekommt und er scheint es kaum fassen zu können. Unwillkürlich muss ich schmunzeln.

„Wo wohnst du denn? Soll ich dich heimbringen?“, frage ich den Jungen, der die Vorräte hastig in seiner alten Jacke verstaut. Etwas zu hurtig schüttelt er den Kopf, wobei sein wirres Haar wild durcheinanderwirbelt. Unsicher bleibe ich stehen und betrachte ihn. Es ist mir nicht recht, dass ein Kind um diese Uhrzeit allein durch die Straßen zieht, noch dazu wo sein Gesundheitszustand nicht gerade der beste zu sein scheint.

„Du hast doch ein Zuhause, nicht?“, hake ich sicherheitshalber nach, doch als ich nach seiner Hand greifen möchte, springt er geschickt zurück. Überfordert mit der Situation gehe ich in die Hocke und versuche, ruhig auf ihn einzureden und seine Furcht vor mir zu nehmen.

„Keine Angst. Ich tu dir nichts. Ich möchte nur nicht, dass dir etwas passiert – die Straßen sind nachts gefährlich, weißt du? Es wäre also kein Problem für mich, dich nach Hause zu bringen … du hast doch ein Zuhause oder etwa nicht?“

Der Junge sieht mir tief in die Augen und erinnert mich abermals an eine kleine Maus, die unvorsichtig in eine Falle getappt ist und nicht weiß, wie sie dort wieder herauskommen soll. Wie es aussieht hat er ziemlich Angst vor mir. Das war nicht meine Absicht. Nachdenklich kratze ich mich am Nacken, unschlüssig, wie ich als Nächstes vorgehen soll. Ich kann ihn unmöglich hier allein zurücklassen. Der Kleine nickt missmutig und zeigt nach rechts, dieselbe Richtung, in der meine Wohnung liegt. Langsam richte ich mich auf und biete ihm nochmals meine Hand an, die er allerdings nicht ergreift. Schweigend trotten wir für fünf Minuten nebeneinander her, unfähig ein Gespräch anzufangen. Dann versuche ich es erneut: „Wie heißt du eigentlich?“

„Niklas“, antwortet der Junge mit piepsiger Stimme und seine Augen klappern ruhelos die Gegend ab.

„Ich heiße Mick. Möchtest du mir nun verraten, wo du wohnst?“

Der schmächtige Knirps schüttelt leicht den Kopf, immer noch die Umgebung absuchend. Ich runzle leicht die Stirn. Irgendwie ist die Sache schwieriger als angenommen.

„Wie soll ich aber dann wissen, wo wir hinmüssen?“, hake ich geduldig nach. In diesem Moment bleibt der Kleine auf einmal stehen und richtet seinen verklärten Blick langsam auf mich. Irritiert verharre ich auf der Stelle und sehe ihn wartend an.

„Gar nicht!“, schreit er mir mit halb erstickter Stimme entgegen und noch ehe ich reagieren kann, tritt er mir gegen das Schienbein und rennt fluchtartig in die entgegengesetzte Richtung zurück. Ein ruckartiger Schmerz durchfährt mein Bein und hallt unangenehm nach. So viel Kraft habe ich ihm nicht zugetraut. Es wäre ein leichtes für mich, ihn trotz seines kleinen Vorsprungs wieder einzuholen, doch ich rühre mich keinen Millimeter und lasse ihn ziehen. Vorwürfe kann ich ihm keine machen, denn wer weiß schon, was er alles erlebt hat. Ich hoffe nur, dass er ein sicheres Dach über den Kopf hat.

***

Erleichtert, endlich daheim zu sein, lege ich die Tasche mit den eingekauften Lebensmitteln auf den Tisch und werfe meine Jeansjacke über den klapprigen Küchenstuhl, der das Gewicht gerade noch so auszuhalten scheint. Ein Blick auf meine Uhr verrät mir, dass es schon nach 22 Uhr ist. Ich strecke meine müden Glieder, pfriemle einen kleinen Topf aus dem Schrank und schütte den Inhalt einer eingedellten Dose Ravioli hinein. Auf mittlerer Hitze lasse ich das Ganze erwärmen und verschwinde schnell in mein kleines Badezimmer, um mir eine kurze Dusche zu gönnen.

Das kalte Wasser prickelt angenehm auf meiner Haut und ich schließe für einen Moment die Augen, um meine Gedanken zu ordnen. Heute war wirklich ein merkwürdiger Tag gewesen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass mir alles entgleitet und ich bin mir nicht mal sicher, warum und was genau. Bilde ich mir das ein oder wird es tatsächlich immer schlimmer? Wieder sehe ich den kleinen Jungen vor mir: abgemagert, ängstlich und mit großen braunen Augen, die ziellos umherschweifen. In mir kommt eine Vermutung auf, dass er gar kein eigenes Zuhause hat …

Hätte ich anders reagieren sollen? Ihn festhalten und zwingen sollen, mit mir zu kommen? Habe ich falsch gehandelt? Meine Gedanken wirbeln durcheinander durch meinen Kopf und ich kann mich nur noch schwer konzentrieren. Was hilft es jetzt noch darüber nachzudenken? Ich muss die ganze Sache abhaken. Im Grunde genommen hätte ich eh nicht viel mehr tun können, oder? Doch warum fühle ich mich dann so deprimiert und schuldig?

Ich steige aus der Dusche und versuche, alle Gedanken zu verdrängen. Mit knurrendem Magen gehe ich in meine schmale Küche, wo die Ravioli verlockend vor sich hin blubbern. Ich schalte den Herd aus und gehe mit vollem Teller in das Wohnzimmer zum Essen, denn die Couch ist um einiges gemütlicher als in der Küche zu stehen. Vorsichtig stelle ich mein Geschirr ab und lasse mich auf die weiche Polstergarnitur sinken, als mein Blick auf das Bild meiner lächelnden Eltern fällt. Ein dicker Kloß macht sich in meiner Kehle breit und das Schlucken fällt mir schwer. Minutenlang schaue ich die Fotografie an, während sich ein leichter Tränenfilm in meinen Augen bildet. Mir wird flau im Magen und ein leichtes Schwindelgefühl breitet sich in mir aus. Mir ist, als würde der Boden unter meinen Füßen weggezogen.

 

„Es tut mir leid“, murmle ich leise vor mich hin und drehe mit zittrigen Händen das Bild um, „doch heute kann ich das nicht, sorry.“

***

Ich liege rücklings auf dem Balkon und betrachte die hellfunkelnden Sterne am Himmelszelt, die mit dem Mond um die Wette leuchten. Einfach faszinierend, wie gut sie miteinander harmonieren, jeder auf seine eigene Art und Weise. Ich schließe kurz meine müden Augen, spüre die kühle Nachtluft auf meiner Haut und bekomme eine leichte Gänsehaut. Etwas entfernt höre ich eine Gruppe Jugendlicher rumgrölen, die nicht mehr ganz nüchtern zu sein scheinen. Irgendwo schreit ein Baby und die letzte Straßenbahn gibt ein warnendes Piepen vor der Abfahrt von sich. Wie vertraut doch alles ist. Ich fühle, wie der Stress der letzten Tage und Nächte von mir abfällt und dem Gefühl der Geborgenheit weicht. Langsam öffne ich wieder meine Augen und blicke fasziniert in den strahlenden Nachthimmel, wartend, als könnte er mir jede Sekunde eine neue Geschichte erzählen. Es ist bewundernswert, wie mich der bloße Anblick der prächtigen Himmelskörper ständig inspiriert. Ich bin ihnen dankbar dafür, wenngleich auch manchmal Gefühle beim Betrachten in mir hochkommen, die ich lieber vergessen und nicht spüren würde. Denn nicht allzu selten wird mir beim Beobachten des Himmels bewusst, wie klein und einsam ich bin – irgendwie verloren. Nachdenklich greife ich zu meinem Block und Kugelschreiber, die ich mir auf die Seite gelegt habe und lasse meinen Gedanken freien Lauf.

Späte Einsicht

Ich renne durch die Straßen und suche dich

Doch dichter Nebel trübt meine Sicht

Hüllt mich ein, nimmt mich gefangen,

wohin bist du bloß gegangen?

Ich bin mir sicher, du wartest dort auf mich.

Halte durch, vertraue drauf und verlass mich nicht.

Ich verspreche dir, mein Bestes zu geben

Denn du bist mein Atem, mein Licht, mein Leben.

Ohne dich erscheint mir mein Sein so schwer,

und ohne dich sein, kann ich jetzt nicht mehr.

Du kennst mich besser als ich mich selbst

Du bist die Person, die mich aufrechthält

Gabst mir Hoffnung, gabst mir Licht

Tränen verschmieren mir die Sicht.

Wie konnte es nur soweit kommen?

Ich war ein Idiot, hab alles genommen.

Zu sicher habe ich mich gefühlt

Und mit deinen Gefühlen gespielt.

Alles auf eine Karte gesetzt

Und dich damit zutiefst verletzt.

Wenn ich dich finde, lass ich dich nie mehr los

Wenn ich dich finde, stell ich dich nie mehr bloß

Werde alles tun, damit du mir verzeihst

Und für immer bei mir bleibst.

Kälte durchdringt meine müden Glieder

Entkräftet lege ich mich nieder.

Meine Gedanken drehen sich jetzt nur um dich,

auch als alles um mich herum mit einem Schlag erlischt …

PAPATACK!

Erschrocken zucke ich zusammen, als ich das fremde Geräusch direkt hinter mir am vibrierenden Geländer vernehme und mich unsanft aus meinen Gedanken reißt. Kullernd rollt mein Kugelschreiber, den ich fallen gelassen habe, von mir weg und direkt vor vier schwarze Samtpfoten. Meine Augen weiten sich überrascht und ich blicke auf, direkt in zwei schmale Katzenaugen, die mich durchdringend und erwartungsvoll mustern. Mein Herz scheint vor Freude einen Sprung zu machen und ich bin im ersten Moment unfähig, eine Bewegung zu tätigen.

„Du bist tatsächlich zurückgekommen“, murmle ich und ein berauschendes Prickeln durchdringt meinen Körper. Beherzt springe ich auf.

„Du hast bestimmt Durst und Hunger – ich hole dir sofort was!“

Ich bin mir der Albernheit bewusst, doch zu groß ist das aufkeimende Glücksgefühl der zerschlagenen Einsamkeit, das sich wärmend in meinen vor Kälte steifen Körper ausbreitet. Eilig haste ich in meine Wohnung, beflügelt von kindischer Freude über meinen nächtlichen, tierischen Besuch.

Kapitel 8

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Ich kann nicht leugnen, dass ich über seine Begeisterung überrascht bin, die er mir entgegenbringt. Deswegen starre ich ihm verdutzt hinterher, als er bei meinem Anblick sogleich aufspringt und in seine kleine Wohnung eilt, um mich mit Milch zu versorgen. Noch nie in meinem belanglosen Leben habe ich jemanden sich so freuen sehen und schon gar nicht wegen meiner Anwesenheit. Wenn der wüsste, wen er hier durchfüttert! Meine Blicke wandern zu dem Notizblock, den er an Ort und Stelle liegengelassen hat, doch ich komme nicht dazu, mir den handgeschriebenen Text durchzulesen, denn das Klappern von Geschirr und das Geräusch des sich öffnenden Kühlschranks macht mir unweigerlich bewusst, wie sehr ich Durst habe. Leichtfüßig springe ich durch die offene Terrassentür in seine Wohnung und tappe gemütlich, aber auf schnellen Pfoten, in die rechteckige Küche. Er holt gerade ein Päckchen mit Milch aus dem Kühlschrank und geht damit zum Tisch, wo die kleine Schale vom letzten Mal für mich bereitsteht. Geduldig setze ich mich vor den Raum und beobachte, wie er die weiße Flüssigkeit in das runde Gefäß füllt. Für ein paar Sekunden mustere ich seine sanften Hände, dann wandert mein Blick über seinen Körper. Ein leichter Bauchmuskelansatz zeichnet sich auf seinem eng anliegenden T-Shirt ab und trotz seiner etwas zu weiten Jogginghose kann ich einen knackigen Hintern entdecken. Wenn ich so darüber nachdenke, wundert es mich, dass er hier allein lebt, denn unattraktiv ist er bei Weitem nicht. Er dürfte sowohl bei Frauen als auch bei Männern gleichermaßen gut ankommen, denn sein Körper ist wirklich nicht zu verachten.

Ich wende meinen Kopf kurz nach links und schaue genau in das offene Badezimmer. Auf dem Boden liegt noch ein feuchtes Handtuch und ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass ich vielleicht etwas früher hätte kommen sollen, um ihn noch beim Duschen zu erwischen. Ein schiefes Grinsen durchzieht mein Gesicht und ich würde mich am liebsten selber ohrfeigen. Als ich mich ihm wieder zuwende, stellt er gerade die Packung zurück in den Kühlschrank, wobei ihm seine braunen Haare seicht in das Gesicht fallen und seine hellgrünen Augen leicht bedecken, als würden sie ein Geheimnis wahren wollen. Mein Blick bleibt kurz an seinen schmalen Lippen hängen, die watteweich aussehen. Recht ungewöhnlich für einen Mann und ich frage mich kurz, welche sexuelle Neigung er wohl hat.

Ich schüttle kurz den Kopf. So etwas sollte mich nicht interessieren und … das tut es auch nicht. Nicht einmal ein bisschen. Es muss an meiner Müdigkeit und meiner trockenen Kehle liegen. Vielleicht hätte ich doch nicht hierherkommen sollen, doch der Durst und die Gewissheit, dass ich hier etwas zu Trinken bekomme, waren zu groß gewesen.

Er richtet sich auf und nimmt die gefüllte Schale in die Hand. Dann dreht er sich vorsichtig um und wendet sich mir zu. Ein Lächeln spiegelt sich in seinen sanften Gesichtszügen wider, als er auf mich herabsieht, und mich durchfährt ein mir unbekannter Schauer.

„Hey, du kannst es wohl kaum abwarten, wie? Bestimmt hast du auch Hunger!“

Behutsam stellt er die Milch vor mich ab und kramt in seiner Schublade nach einem Unterteller den er mit einem Happen aus dem Topf füllt. Von hier unten aus kann ich nicht erkennen, um was es sich dabei handelt. Gespannt warte ich, bis er auch den Teller auf den Boden abstellt, doch überzeugen kann mich die Pampe nicht, die er da draufgehauen hat. Misstrauisch rieche ich an den lauwarmen Ravioli – Dosenfutter, nein danke. Wie kann man so etwas freiwillig essen?

Angewidert rümpfe ich meine Nase und wende mich lieber schnell der Milch zu, die ich gierig aufschlecke, ungeachtet dessen, dass er mich die ganze Zeit über beobachtet. Zufrieden räkle ich mich und schaue ihn sichtlich entspannt an. Meine Kehle brennt nicht mehr und mein Magen ist etwas gefüllt. Immer noch betrachtet er mich mit leuchtenden Augen, fast als wäre ich ein wertvoller Schatz. Irgendwie regt mich das auf. Diese grenzenlose Naivität, die ihn umgibt. Weiß er eigentlich, in welcher Gefahr er gerade ist? Nein, natürlich nicht. Ich könnte ihm das Leben nehmen, wenn ich nur wollte und er könnte nicht das Geringste dagegen tun. Doch vorerst reicht mir die Verpflegung, die er mir gibt.

Als er sicher ist, dass ich fertig bin, stellt er das Geschirr auf die Spüle und begibt sich in das Wohnzimmer.

„Kommst du?“, höre ich ihn beim Vorbeigehen fragen und schaue ihm schweigend nach. Mein Gehirn ist auf einmal wie leergefegt und ich fühle die Schwere meiner Glieder an mir nagen. Ohne mir darüber Gedanken zu machen, was ich tue, folge ich ihm auf den Balkon, wo er sich auf die Decke setzt, sich an der Hauswand anlehnt, und den Himmel betrachtet. Gemächlich setze ich mich neben ihn und schaue gelangweilt in den Sternenhimmel.

„Ist es nicht wunderschön? Es gibt nichts, was großartiger ist, nicht wahr?“

Ich sehe zu ihm rüber und bin überrascht, mit welcher Bewunderung er zu den Himmelsgestirnen aufsieht. Er scheint es tatsächlich ernst zu meinen. Was soll an ein paar glühenden Steinbrocken so faszinierend sein? Ich wende meinen Blick von ihm ab und starre nochmals zum Himmel empor. Zugegebenermaßen habe ich mir den ihn nie sonderlich betrachtet, doch je länger ich nach oben schaue, desto mehr kann ich seine Begeisterung verstehen. Ein überwältigendes Sternenmeer scheint sich ins endlose Dunkelblau zu erstrecken und inmitten des leuchtenden Meeres erhebt sich der runde Vollmond, heller und strahlender als alle Sterne zusammen. Minuten vergehen in denen wir schweigend nebeneinander sitzen und das Schauspiel der Natur bewundern. Eine innere Ruhe befällt mich, ungewohnt und mir völlig unbekannt. Irgendetwas stimmt hier nicht, doch ich komme nicht dahinter, was es ist.

„Weißt du, es ist doch schade, dass keiner mehr ein Auge für die Schönheit hat, die uns umgibt. Alle sind immer im Stress oder ganz und gar mit sich selbst beschäftigt“, unterbricht er mit nachdenklicher Stimme die Stille und ich schaue zu ihm rüber. Er hat den Blick nicht abgewendet und sein gesamter Körper ist entspannt. In seinen Augen spiegelt sich ein verträumter Glanz wider und sein Gesicht wird von dem zarten Schein des Mondes benetzt, als würde dieser den jungen Mann zärtlich streicheln. Ich weiß nicht warum, doch ich kann den Blick einfach nicht von ihm abwenden, auch nicht, als seine Hand anfängt, sanft über mein Fell zu streicheln und mich im Nacken zu kraulen. Unglaublich behutsam und zart …

Ich schließe kurz die Augen, doch schon im nächsten Moment reiße ich sie wieder auf, um ihn anzusehen. Ich darf mich nicht gehenlassen! Dann könnte ich genauso gut anfangen zu schnurren! Nie und nimmer!

„Wahrscheinlich hältst du mich für total bescheuert und womöglich hast du recht.“

Ein leicht melancholisches Grinsen huscht über sein Gesicht und ich kann eine tiefe Traurigkeit in seinen Augen erkennen.

„Manchmal … manchmal denke ich, dass ich irgendwie nicht dazu passe, dass ich komplett unterschiedlich bin. Verstehst du, was ich meine? Ah, eher nicht!“

Er lacht verlegen auf, bevor er vorsichtig mit den Unterlagen in der Hand aufsteht und sich streckt, wobei sein T-Shirt ein Stück nach oben rutscht und ein Stück seiner weißen Haut preisgibt, welche verführerisch im silbernen Mondlicht glänzt. Ich lecke mir unbewusst über die Lippen und mein Blick haftet an seinem versteckt knackigen Hintern, als er zurück in die Wohnung geht. Ein prickelnder Hitzeschwall durchströmt meinen Körper und lässt mich kurz erschauern. Verwirrt von meinen eigenen Reaktionen folge ich ihm hinein. Er hat gerade eine Kerze angezündet, welche er vorsorglich auf einen Unterteller oben auf der Wohnzimmeranrichte hinstellt. Als er sieht, dass ich reingekommen bin, lächelt er mir sanftmütig zu und schließt die Balkontür. Die Fenster lässt er wieder sperrangelweit offenstehen. Das sollte er sich echt abgewöhnen. Ohne dass er es andeuten muss, springe ich auf die braune Couch und schaue ihn auffordernd an. Verdutzt blickt er zurück, dann beginnt er herzlich zu lachen.

 

„Du kennst mich aber gut!“

Lächelnd lässt er sich neben mir nieder und beginnt erneut, über mein Fell zu streicheln. Genüsslich strecke ich mich seinen zärtlichen Händen entgegen und schalte alle Gedanken aus. Ich weiß, dass es nicht richtig sein kann, was ich tue, doch der Wunsch, von ihm berührt zu werden, wandelt sich zu einem berauschenden Drang, reißend wie ein Fluss. Im Moment möchte ich nicht denken und mich einfach nur dem seltenen und fremden Moment der Geborgenheit hingeben.

Als hätte er meine Gedanken gelesen, hebt er mich auf seinen Schoß. Mir entfährt ein kurzes, empörtes Murren, ein letzter Versuch meines verbliebenen Ichs sich zu wehren, doch vergebens. Ich lasse es geschehen und lege mich schließlich hin. Während ich seiner beruhigenden Stimme lausche und mein müder Körper von seinen warmen Händen gestreichelt wird, schließe ich langsam meine Augen und ergebe mich den Wogen der Dunkelheit, bis ich nichts mehr höre und sehe.

***

Mit großen Schritten sprinte ich die verlassenen Straßen entlang. Es ist später geworden, als ich geplant hatte, doch ich hatte einfach viel zu bequem gelegen und hatte zu gut geschlafen. Als ich erwacht war, hatte ich mich auf seinem Bauch eingerollt vorgefunden. Er selbst war auf dem Rücken liegend eingeschlafen und hatte so friedlich dabei ausgesehen. Unschuldig. Frei.

Ich schüttle beim Rennen den Kopf und konzentriere mich wieder auf das Wesentliche, denn ich muss mich beeilen, um nicht zu spät zu kommen. Moritz ist bestimmt schon da und wartet, um mit seiner gesammelten Beute zu prahlen. Bei dem Gedanken wird mir speiübel. Nicht mehr weit und ich habe das Portal zur Dämonenwelt erreicht. Wie gut, dass es nahe des Dorfes eins gibt, denn meistens sind diese nur bei größeren Städten vorhanden. Vor den eingestürzten Pfeilern der ehemaligen Rheinbrücke bremse ich ab und schaue mich der Regel entsprechend noch einmal um, um sicherzugehen, dass kein ungebetener Zuschauer in der Nähe ist. Natürlich bin ich allein. Mein Blick fällt kurz auf den grünbläulich schimmernden Fluss, der das schönste Bild in der verkommenen Landschaft bildet. Wenigstens ein Stück Natur, welches von den Menschen nicht gänzlich verunreinigt wird. Dann suche ich mir mühevoll meinen Weg durch das kantige Geröll zu einer steinernen Plattform mit eingraviertem Pergament, welches auf dem Boden liegt. Ich muss gestehen, dass es ein sehr gutes Versteck für ein Portal ist, denn hier kommt fast niemand her und selbst wenn, würde sich kein normaler Mensch die Mühe machen, den großen und zirka neun Meter langen Schutthaufen zu beseitigen. Allerdings war es für uns Sammler jedes Mal eine Qual, dieses Tor zum Weltenwechsel zu benutzen. Auch heute wieder bleibe ich unsanft mit meiner rechten Seite an einem der Steinbrocken hängen und schürfe mir die Haut auf. Ein genervtes und schmerzliches Fauchen entweicht meiner Kehle, doch ich beiße die Zähne zusammen und versuche, das sofort aufkommende Brennen zu ignorieren. Schnell krieche ich auf die Plattform und konzentriere mich in Gedanken auf die vertraute Dämonenwelt, bis das Portal schließlich zu leuchten beginnt und ich mich in meiner bekannten Umgebung wiederfinde. Endlich kann ich meine menschliche Form annehmen. In mir keimt der Wunsch auf, mich zu strecken, doch ich brauche mich nicht umzusehen, um zu wissen, dass ich beobachtet werde. Ich spüre den stechenden Blick und verdrehe genervt meine Augen.

„Hast du denn nichts Besseres mit deiner Zeit anzufangen?“, frage ich gereizt, ohne ihn dabei anzusehen und steige eilig die Treppen vom Podest herab, welches prachtvoll in der Mitte des geräumigen Saales liegt wie ein kleiner Altar.

„Skip, mein alter Nichtfreund! Wieso denn so schlecht gelaunt? Sind wir schon wieder etwas zu spät dran?“, erwidert Moritz gehässig und seine hallenden Schritte verraten mir, dass er genau wie ich auf das Ausgangstor zusteuert, das zu den privaten Räumen zu unserem Herrn führt. Ich versuche ihm keinerlei Beachtung zu schenken und setze meinen Weg zielstrebig fort. Wie erwartet stellt er sich direkt vor das geschlossene Tor und grinst mich herausfordernd an.

„Was denn? Du ignorierst mich? Das ist aber sehr unhöflich, wo ich mir doch nur Sorgen um dich mache! Ist wohl heute Nacht nicht so gut gelaufen, wie?“

Sein Grinsen wird noch breiter als es ohnehin schon ist und seine schwarzen Augen blitzen belustigt auf. Abermals verdrehe ich genervt meine Augen und atme laut aus. Wie gerne würde ich ihm jetzt eine verpassen und ihn an seinen schwarzen Locken durch die gesamte Halle zerren.

„Wie unendlich einfühlsam von dir! Wie du schon sagtest – ich bin spät dran, also zur Seite!“, bemerke ich spitz und greife nach seiner Schulter, um ihn aus dem Weg zu schieben, doch er weicht mir geschickt aus.

„Nicht doch! Du kannst ruhig eine kleine Runde mit mir schnacken, denn im Moment ist Donald bei unserem Herrn, um seine mickrige Ausbeute zu übergeben … apropos mickrige Ausbeute“, sein Grinsen scheint nun ganz sein gebräuntes Gesicht zu bedecken und seine übersprudelnde Gehässigkeit springt mir geradezu entgegen. „Ich habe heute drei Leben gesammelt! Er war sehr zufrieden mit mir. Wie sieht es denn bei dir aus, da du schon so spät dran bist, gab es wohl Schwierigkeiten, wie?“

„So so, drei Leben. Und die Aura? War die wieder verbraucht und qualitativ – nennen wir es mal geringwertig – wie deine übliche Auslese?“, entgegne ich ihm in ernstem Tonfall und blicke ihn mit gelangweilter Miene in seine überhebliche Visage. Ihm vergeht sein Grinsen und seine Mundwinkel ziehen sich schlagartig nach unten, als hätte ich ihm Gewichte an die Seiten gehängt.

„Es waren gute Leben mit stark sprühenden Auren! Zwei orangene und eine gelbe mit starker Farbpracht, dass sogar die Sonne vor Neid erblasst wäre! Abgesehen davon sammle ich nie minderwertige Leben! Es gibt keine besseren mehr! Schau dir doch das Menschengesindel an! Es läuft nichts Hochwertigeres rum!“, schreit er mir entgegen und seine Stimme ist nahe dran, sich vor Hysterie zu überschlagen. Sein ganzer Körper ist angespannt und er hat seine Hände unweigerlich zu Fäusten geballt.

Innerlich lache ich auf, da ich das Spiel gewonnen habe. Dieser dumme Tropf! Wieso muss er mir jedes Mal meine Zeit mit diesen albernen Spielchen stehlen, in denen er ohnehin immer als Verlierer hervorgeht? Ich verharre und behalte meinen gleichgültigen Gesichtsausdruck bei.

„Es stimmt, es ist nicht leicht, wertvolle Lebensenergien zu finden, aber das ist schließlich unsere Aufgabe. Und dass es gar keine mehr geben soll … dem kann ich nicht zustimmen. Denn wie kommt es dann, dass ich heute sowohl ein Leben mit strahlend grüner Aura sowie eine weiße ergattern konnte?“

Seine Kinnlade klappt nach unten und einer seiner buschigen Locken fällt ihm in sein ungläubig dreinblickendes Gesicht.

„Du hast ein reines Leben gefunden? Das glaube ich dir nicht!“

In diesem Moment springt das Tor von hinten auf und stößt Moritz unsanft nach vorne. Ich weiche keinen Millimeter, als er auf mich zu taumelt, und mache mir auch nicht die Mühe, ihn aufzufangen. Wieso sollte ich auch? Kurz vor mir kommt er zum Stehen und springt schnell auf die Seite. Missmutig starrt er auf das offene Tor, aus dem Donald mit gesenktem Kopf herauswatet, ohne uns wahrzunehmen. Niedergeschlagen trottet er durch die große Halle mit den gewundenen Steinsäulen aus Marmor, die an Spiralen erinnern. Anscheinend hat Moritz in diesem Punkt nicht gelogen: Donalds Ausbeute scheint nicht zufriedenstellend gewesen zu sein. Nun denn, nicht mein Problem. Während Moritz mit einem schadenfrohen Grinsen unseren Kameraden hinterherblickt, gehe ich an ihm vorbei und bleibe noch ein letztes Mal stehen, bevor ich die Privatgemächer unseres Herrn betrete.