Im Licht des Mondes

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Kapitel 4

Mick:

Ausgelaugt von der schlaflosen Nacht schließe ich meine Haustür ab. Es dauert eine Weile, bis ich das Türschloss mit meinem Schlüssel treffe und mich danach die Treppen vorsichtig nach unten taste. Die kühle Morgenluft schlägt mir wuchtig entgegen. Benebelt bleibe ich kurz stehen, bis sich meine Gedanken wieder klären und mein Körper das tut, was er tun soll. Es ist noch dämmrig, doch bis ich an meinem Arbeitsplatz ankomme, wird die Sonne schon aufgegangen sein. Ich atme tief durch, während ich die kahlen Straßen zur Haltestelle entlanglaufe und die frische Luft sich auf meiner Haut niederlässt und diese unter regem Prickeln zum Leben erweckt. Langsam beginnt die Müdigkeit aus meinen Körper zu weichen und gibt diesen frei. Meine Gedanken scheinen wirr und unkontrolliert umherzuschwirren, bis einer von ihnen, der mich die ganze Woche heimgesucht hat, es schließlich schafft, sich in den Vordergrund zu stellen und alle anderen beiseitezuschieben.

Wie es dem schwarzen Kater wohl geht? Ob er genug zu fressen hat? Hoffentlich hat er einen Unterschlupf gefunden, in dem er schlafen und sich ausruhen kann …

Ich seufze auf. Die Begegnung mit dem Vierbeiner ist nun schon sieben Tage her und er ist kein einziges Mal erneut vorbeigekommen. Ich weiß, dass es blöd von mir ist, doch ich stelle jeden Abend eine Schale mit frischer Milch hin, nur für den Fall, dass er kurz hereinplatzt und etwas trinken möchte. Die ersten paar Tage nach seinem Besuch war ich sogar extra länger aufgeblieben und habe auf ihn gewartet – vergebens. Ich bin doch einfach nur zu bescheuert. Wenn meine Arbeitskollegen dies wüssten, würden sie aus dem Lachen nicht mehr herauskommen. Ich weiß, wie armselig mein Verhalten ist, doch ich kann und will es nicht leugnen. Zwar habe ich mir in den letzten Jahren immer wieder selbst gesagt, dass es schlimmere Dinge gibt, als allein zu sein, doch es genügt nur ein kleiner Schubs und meine Mauer der Zufriedenheit gerät ins Wanken. Das ist schwach. Geradezu armselig.

Zum Glück habe ich nun die Haltestelle erreicht und muss mich auf die unebenen Stufen konzentrieren, sodass für weitere Haarspalterei keine Zeit bleibt. Aufmerksam steige ich hinauf und genieße gleichzeitig die Stille, denn ich weiß, sobald ich die Straßenbahn betreten werde, wird es damit vorbei sein. Zu dieser Zeit sind die öffentlichen Verkehrsmittel überfüllt mit Halbstarken, die auf ihrem Weg in die Schulen und Ausbildungsstellen sind.

Oben angelangt steht schon eine Gruppe von fünf Schülern am Bahnsteig und starrt mit gelangweilten Blicken durch die Gegend. Ich werde kurz taxiert, da wir uns allerdings jeden Werktag um diese Uhrzeit sehen, verlieren sie ihr Interesse an mir so schnell wie es gekommen war. Keine Konversation findet unter ihnen statt, nur die aggressiven Beats aus ihren kleinen MP3-Playern, welche sie sich lautstark in ihre Ohren zu dröhnen scheinen. Das Bild von langgesichtigen, blassen Aliens schiebt sich in meine Gedanken und ich kann den Vergleich nicht mehr aus meinen Kopf verbannen. Schnell wende ich meinen Blick ab und krame in meiner Umhängetasche selbst nach meinem veralteten MP3-Player, denn den werde ich gleich brauchen, wie mich ein leichtes Dröhnen in meinen Schläfen erahnen lässt. Vorsorglich verstaue ich diesen in meine Jackentasche und befestige die Ohrstöpsel an meinen Ohren. In diesem Moment ertönt das durchdringende Quietschen der bremsenden Straßenbahn. Ich behalte den kleinen Apparat griffbereit, warte kurz, ob jemand aussteigen möchte und betrete die Straßenbahn. Eine gewaltige Flut aus Geräuschen schwappt mir entgegen und reißt mich mit wie eine alles verschlingen wollende Flutwelle. Von allen Seiten prasseln Wortfetzen und Bruchteile von Melodien und Rappgesängen auf mich ein. Aus Gewohnheit halte ich dabei die Luft an, um das Unweigerliche hinauszuzögern und suche mir einen freien Stehplatz, der mehr am Anfang der Bahn liegt, um nicht ganz in dem Lärm unterzugehen. Es fühlt sich jedes Mal an, als würde man vergeblich gegen das Ertrinken ankämpfen. Stoßweise atme ich die angehaltene Luft aus und neue Luft ein, mit ihr den Gestank von verfaulten Eiern, ungewaschenen Körpern und Unmengen von verschiedenen Deos und Parfüms. Ich warte eine Weile, bis meine Nase sich an den penetranten Geruch gewöhnt hat und versuche kurz den Gesprächen der einzelnen Jugendlichen zu lauschen.

„Das nächste Mal, wenn er muckt, Alter, dann hau ich ihm die Fresse ein! Aber so richtig, verstehste? So wie ich den kleenen Pisser aus unsrer Nachbarschaft alle gemacht hab. Ich sag dir, der hat dann nix mehr zu lachen!“

„Männer stehen auf rote Schuhe, ehrlich! Denn rote Schuhe bedeuten, du bist bereit für Abenteuer. Das habe ich erst neulich gelesen und echt, es funktioniert! Jedes Mal wenn ich rote Schuhe anhabe, kann ich mich vor den Typen fast gar nicht mehr retten!“

„Und dann hat die mir ihre Titten gezeigt, voll krass, Dicker! Ich sag dir, dann ging’s richtig ab! Ich hab’s ihr so …“

Hastig drücke ich den Anschaltknopf meines MP3-Players und schalte mit einem Mal alle Geräusche um mich herum aus. Die Welt scheint einen kurzen Moment still zu stehen als die ersten Takte von „Join me in Death“ von „HIM“ erklingen. Ermattet schließe ich meine Augen, tauche in meine eigene Welt ab und vergesse alles um mich herum.

***

„Hey Mick! Wie sieht’s mit ner Pause aus?“

Als ich die vertraute, raue Stimme vernehme drehe ich meinen Kopf nach rechts und sehe direkt auf Jürgens Füße inklusive Waden. Ich überlege kurz, doch wenn ich heute pünktlich gehen möchte, um meine Einkäufe zu erledigen, dann muss ich die Pause durcharbeiten. Deswegen rolle ich mich nicht unter dem zu reparierenden Auto hervor, sondern bleibe, wo ich bin und antworte, ohne von meiner Arbeit abzulassen.

„Danke, doch ich passe heute. Aber morgen wieder.“

„Mmh … alles klar. Doch übernimm dich nicht. Pausen sind dafür da, um eingehalten zu werden, du kleiner Workaholic. Nicht, dass du uns irgendwann aus den Latschen kippst!“

Ich muss kurz über seine Aussage lächeln, auch wenn er das nicht sehen kann, und erwidere knapp: „Keine Sorge, Unkraut vergeht bekanntlich nicht. Aber das müsstest du ja wissen.“

„Hey, hey! Pass auf, dass dir das Auto nicht auf deinen Sturkopf fliegt! Die Jugend von heute, kein Respekt mehr vor dem Alter, tss!“

Er klopft zum Gruß gegen den Wagen und entfernt sich dann mit schlurfenden Schritten in den Hof. Ich atme noch einmal auf, dann konzentriere ich mich wieder ganz auf meine Arbeit. Manchmal fühle ich mich wie ein Arzt in einer Klinik, nur dass ich keine lebendigen Patienten habe, sondern Autos und Motorräder. Sicher, die Werkstatt ist nicht wirklich sehr steril, aber so manch ein Krankenhaus ist das heutzutage auch nicht mehr.

***

Nur noch fünf Minuten, dann habe ich es geschafft. Nicht, dass ich es besonders eilig habe, doch heute ist irgendwie nicht so mein Tag. Die Stunden haben sich wie Kaugummi gezogen und ich bin einfach nur noch müde und möchte meine Einkäufe schnell erledigen, damit ich mich daheim hinlegen kann. Ich stehe auf und beginne erleichtert, das Werkzeug zu säubern und einzuräumen. Aus den Augenwinkeln sehe ich Jürgen und Thomas miteinander tuscheln und ich weiß nicht warum, aber irgendwie macht sich ein ungutes Gefühl in mir breit. Gerade als ich dabei bin, den grauen Werkzeugkasten zuzuklappen, kommt Thomas mit einem fragenden Gesichtsausdruck auf mich zu. Unsicher spielt er an seinem Schlüsselbund und ich warte geduldig, bis er endlich ansetzt zu sprechen.

„Du, hör mal Mick, ich habe da ein kleines Problem. Ich sehe, du möchtest gerade gehen, aber …“

Er stockt nochmals und blickt mich fast bettelnd an. Das ungute Gefühl bestätigt sich sofort.

„Könntest du heute meine Schicht übernehmen? Ich weiß, du hast schon viele Überstunden und ich bin dir auch noch ein oder zwei Schichten schuldig, aber meine Freundin hat gerade angerufen und meinte, dass es unserem Sohn ziemlich schlecht geht. Er muss sich irgendetwas eingefangen haben. Ich würde gerne heim und ihn ins Krankenhaus fahren. Natürlich gibt es auch die Straßenbahn, aber mir wäre nicht wohl dabei, meine Freundin mit dem Kleinen allein rumfahren zu lassen, du verstehst?“

Seine braunen Augen bohren sich in meine und unsicher fährt er sich mit seinen Fingern durch seine blonde Mähne. Thomas soll vor ein paar Jahren ein ziemlicher Schürzenjäger gewesen sein und ich weiß, dass er bei den Frauen immer noch sehr gut ankommt und wohl nicht lange nach einer Bettgefährtin suchen müsste, wenn er wollte. Umso bemerkenswerter finde ich es, dass er zu seiner Freundin steht, die er vor zwei Jahren leichtsinnig geschwängert hat, und, so wie ich bisher mitbekommen habe, sich sehr fürsorglich um seine Familie kümmert. Ich nicke ihm flüchtig zu und lächle beschwichtigend, wenngleich meine Augen vor Müdigkeit brennen und meine schweren Glieder nach meinem Bett geradezu schreien. Doch wenn es um die Gesundheit von Kindern geht, ist nicht zu spaßen, und ich kann seine Beweggründe sehr gut nachvollziehen. Ich an seiner Stelle, hätte meine Freundin und meinen Sohn auch nicht allein durch die Straßen ziehen lassen wollen. Zumal es nicht mehr lange dauern kann, bis es zu dämmern beginnt.

„Hey, ist doch kein Thema. Wenn dein Sohn krank ist, geht das natürlich vor.“

Seine Augen erhellen sich schlagartig und er klopft mir kurz dankend auf die Schulter.

„Klasse, Mick. Danke, echt. Ich bin dir wirklich was schuldig, ehrlich Mann. Die nächsten Schichten übernehme ich bestimmt für dich … du rettest mir damit meinen Arsch!“

 

„Passt schon. Fahr mit deinem Sohn ins Krankenhaus. Ich drück euch die Daumen, dass es nichts Ernstes ist.“

Thomas nickt mir abermals zu und verschwindet dann mit schnellen Schritten mit Jürgen in der Umkleidekabine. Unmerklich seufze ich auf, nehme meinen Werkzeugkasten und gehe zur anderen Schichtgruppe. Jörn, ein hagerer Mann im mittleren Alter, sieht mich kopfschüttelnd an.

„Übernimmst du schon wieder ne Schicht?“

„Ja … für Thomas. Er muss heute früher raus“, entgegne ich mit einem aufgesetzten Lächeln und stelle meinen Werkzeugkoffer auf den Tisch. Ich merke, wie Jörn mich mit seinem Blick prüfend durchleuchtet, als hätte ich irgendetwas zu verbergen, dann meint er nur: „Du solltest mal auf deine Überstunden achten, Junge, und auch mal zur Abwechslung früher gehen und dich erholen. Siehst heute ziemlich scheiße aus.“

„Wenn sein Sohn krank ist, kann man nun mal nichts machen. Die Familie geht vor“, erwidere ich hoffentlich noch lächelnd und wende mich ihm zu. „Und was hast du denn Schönes für mich?“

Er mustert mich einen Augenblick mit hochgezogenen Augenbrauen, schüttelt nochmals seinen dunkelbraunen Schopf und bezeugt mir mit einer Geste ihm zu folgen.

„Das wird ne lange Schicht heute, Junge. Das kannst du mir glauben. Wir haben noch einige Geräte fertig auszubeulen und zu lackieren.“ Wortlos folge ich ihm zu den zerbeulten Blechen, sammle meine Konzentration und gebe mich erneut der Arbeit hin.

***

Meine Augenlider sind so schwer, sodass ich sie nicht öffnen kann. Erschöpft lasse ich sie geschlossen und lausche in den Raum hinein. In der Ferne höre ich ein leises Klirren, als würde jemand unentwegt Glas zu Boden schmeißen. Erneut versuche ich meine Augen zu öffnen, doch wieder habe ich keinen Erfolg. Vorsichtig taste ich mit der Hand um mich herum. Ich liege auf dem Rücken auf hartem Boden und es scheint, als wäre mein gesamter Körper festgeklebt. Leichte Panik steigt in mir auf und versucht, von mir Besitz zu ergreifen. Mein Herz fängt an, schneller zu schlagen, und ich stoße mich mit aller Gewalt von dem klebrigen Boden ab. Es fühlt sich an, als würde jemand beginnen, mich zu häuten, und leise schreie ich auf, als der Schmerz Überhand nimmt. Ich atme tief durch, japse nach Luft wie ein Ertrinkender, im Hintergrund stets das seichte Klirren von zerbrechendem Glas, eine chaotische Melodie spielend.

Mein Herzschlag beruhigt sich, die Schmerzen glimmen ab. Jetzt versuche ich erneut, meine Augen zu öffnen. Wo bin ich? Was geht hier vor? Ganz langsam, Stück für Stück, schaffe ich es, meine Lider zu heben. Mattes Licht nimmt mich in Empfang, wie ein Vater seinen verloren geglaubten Sohn. Ich muss ein paarmal blinzeln, bis ich mich an die schummrigen Lichtverhältnisse gewöhnt habe. Mein Kopf gleitet langsam von links nach rechts: eine geschlossene braune Holztür, umrandet von blanken Wänden, sonst nichts. Schwerfällig richte ich mich gegen den Willen meines eigenen Körpers auf, der mich mit aller Kraft wieder zu Boden zwingen möchte. Gegen die Wand gelehnt bleibe ich ein paar Minuten lang stehen, riskiere es, die Augen nochmals zu schließen, um den Moment der Erholung auszukosten und neue Kräfte zu sammeln. Die Luft riecht stickig und verbraucht. Intuitiv möchte ich ein Fenster öffnen, doch es ist keins da. Mit wackeligen Beinen taste ich mich an der kalten Mauer vorwärts zur Tür, jeder Schritt ist ein Kampf. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit, bis ich endlich den kühlen, metallenen Griff in meine Hände nehmen kann. So leise wie möglich mache ich auf und luge in den unbekannten Raum hinein. Ein kleines, gekrümmtes Männchen steht vor einer riesigen Spiegelreihe und klopft mühselig Splitter heraus, die klirrend zu Boden fallen. Unter ihm ein Teppich aus kleinen Glasscherben, die traurig bei jedem seiner Schritte knirschen, als wollten sie schreien. Unsicher betrete ich das langgezogene Zimmer und sehe ihm zu, wie seine kleinen, gebrechlichen Hände angestrengt mit Pflock und Hammer die Spiegel zerstören. Die ganze Zeit über bemerkt er mich nicht. Ich fasse Mut und spreche ihn an.

„Entschuldigen Sie … Was machen Sie da?“

Das Männchen hält in seiner Bewegung inne und dreht sich auf der Stelle zu mir um. Ich erschrecke, als ich sein Totenkopf gleiches Gesicht sehe, welches nur mit einer dünnen Hautschicht überzogen zu sein scheint, um ihn lebendiger wirken zu lassen. Ein belustigendes Grinsen macht sich auf seiner Miene breit, als er mich von oben bis unten mustert.

„Ich zerstöre Spiegel“, antwortet er mir flapsig mit arroganter Stimme und starrt mich unverändert an, als würde er auf etwas warten.

„Warum zerstören Sie die Spiegel?“

„Weil Sie keiner mehr braucht und damit sie keiner vermisst.“

Das kahle Männchen dreht sich um und wendet sich wieder seiner Arbeit zu. Ich überlege kurz und ein mulmiges Gefühl beschleicht mich. Ohne den Blick von ihm abzuwenden, stelle ich die nächste Frage.

„Was sind das für Spiegel?“

Das Männchen entfernt weitere Stücke von den großen Spiegeln und dreht sich dieses Mal nicht zu mir um. Auf seinem schmalen Rücken sehe ich durch die dünne, schwarze Jacke seine Wirbelsäule, die sich hart vom Stoff abdrückt und die sich zu winden scheint wie eine lebendige Schlange.

„Das sind gespeicherte Erinnerungen.“

Ich schlucke. Meine Kehle wird staubtrocken. Aus Angst vor der nächsten Antwort balle ich meine Hände zu Fäusten.

„Sind das … sind das meine Erinnerungen?“

Das Männchen prustet verachtend auf.

„Nein, du Trottel, dies sind die Erinnerungen anderer Leute – Erinnerungen AN DICH!“

Ein polterndes Lachen entrinnt seiner Kehle und hallt im Raum wider. Verzweifelt springe ich vor, will ihm sein Werkzeug aus der Hand schlagen, doch bevor ich ihn erreichen kann, zerplatzen die Spiegel von selbst. Einer nach dem anderen, wie eine sich schnell verbreitende, tödliche Krankheit. Ich stolpere und knalle hart auf den Scherbenteppich auf. Einzelne Splitter bohren sich in mein Fleisch, lähmen meinen Körper vor Schmerz. Als ich aufsehe, steht das Männchen direkt über mir und grinst mir hämisch ins Gesicht.

„Also … und wer bist nun du?“

Ein Schrei entrinnt meiner Kehle und noch ehe ich mich versehe, sitze ich kerzengerade in meinem Bett. Mit weit aufgerissenen Augen blicke ich mich um, bis ich erkenne, dass ich nur schlecht geträumt habe. Mit laut pochendem Herzen wische ich mir den Schweiß aus dem Gesicht.

„Es war nur ein Traum! Beruhige dich, Mick! Nur ein dämlicher, nichtsbedeutender Traum von vielen!“, beteuere ich mir unzählige Male. Doch es nützt nicht. Mein Puls möchte sich nicht so schnell beruhigen. Meine Kehle kratzt unangenehm und zwingt mich aufzustehen. Meine Beine fühlen sich so weich an wie warme Butter, als ich in die Küche wanke, um mir etwas zu trinken zu holen. Als ich die Milch aus dem Kühlschrank nehmen möchte, fällt mir diese aus der Hand und fliegt mit einem lauten Klatschen hinunter. Der weiße Inhalt verteilt sich über den Fußboden und bildet eine Lache. Kraftlos lasse ich mich auf die Knie sinken und kann die Tränen nicht mehr zurückhalten, die sich stürmend ihren Weg aus meinen brennenden Augen bahnen.

Kapitel 5

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Unzufrieden streife ich durch die eintönigen Straßen. Ein Leben ist zwar nicht gerade viel, dennoch ist es ein gutes Leben mit einer starken Aura, die ich in dieser Nacht für meinen Herrn erbeutet habe. Dennoch, eins sollte ich noch ergattern, wenn ich meinen Rekord halten möchte und das will ich. Nicht, dass ich sonderlich scharf auf das Lob und die Anerkennung bin, nein. So etwas habe ich nicht nötig. Allerdings möchte ich es diesem aufgeblasenen Dummkopf Moritz nicht gönnen, der Favorit meines Herrn zu werden. Ich brauche unbedingt noch ein menschliches Leben.

Ich blicke mich im Schutz des alles umhüllenden Deckmantels der Nacht um. Die sogenannte Oststadt habe ich die Nächte zuvor schon abgegrast. Dort ist nicht mehr viel zu holen. Mein Blick schweift weiter nach Westen. Eigentlich ist dies nicht mein Jagdrevier, doch solange mich keiner der anderen Sammler sieht, wie ich ihre Beute wegnehme, kann es mir egal sein. Wer hält sich schon groß an Regeln? Behände überquere ich die unsichtbare Grenze und erkunde das fremde Gebiet, welches sich nicht wirklich von meinem unterscheidet. Hier sieht ein Weg aus wie der andere. Die ganze Stadt ist eine düstere, unförmige Masse.

Gelangweilt passieren meine Augen die Häuserreihen auf der Suche nach einem offenen Fenster, während ich über die grauen Straßen schlendere. Geschickt weiche ich herumliegenden Dosen, Flaschen und Mülltüten aus, die sich mir immer wieder in den Weg stellen. Menschen sind doch wirklich primitive Wesen, die kein Mitleid verdienen. Lästige Plagegeister, die alles zerstören, was nicht ohnehin durch die Kriege zerstört wurde. Nicht einmal ihresgleichen verschonen sie, auf ihrer egoistischen Suche nach grenzenloser Macht und Befriedigung. Ihnen ist jedes Mittel recht, um ihren Willen durchzusetzen … wie Tiere, gesteuert von ihrem Trieb. Nur dass diese Tierart wohl die nutzloseste von allen ist, die der da oben je erschaffen hat. Eins dieser ekelhaften Exemplare, das überdeutlich meine Meinung der menschlichen Rasse bestätigt, kommt gerade aus einer dunklen Ecke getaumelt. Es handelt sich um einen Mann Ende 40, dessen kantige Wangenknochen stark aus seinem langgezogenen stoppelbärtigen Gesicht hervorlugen. Seine Augen blicken unkonzentriert durch die Gegend und er schwankt gefährlich in meine Richtung, bemüht sein Gleichgewicht zu halten. Ich rümpfe verächtlich meine Nase, als seine Alkoholfahne mir entgegenschlägt. Ein weiteres verkümmertes Geschöpf, das sich lieber gleich zum Sterben in die Büsche fallenlassen sollte, um dort zu verenden.

„Scheieieiß Leben! Diese blö…den Penner! Isch weiß genau, was isch tu! Olles Gesindel, olles!“, lallt er laut vor sich hin und tritt nach Mülltonnen, die allerdings gute zwei Meter weiter weg stehen. Es ist mir ein Rätsel, wie er es schafft, dass Gleichgewicht zu halten und nicht auf den harten Asphalt aufzuschlagen. Genervt tapse ich auf die Seite, um nicht zwischen seinen Füßen zu landen. Da in diesem Zustand absolut keine Gefahr von ihm ausgeht, muss ich mir nicht die Mühe machen, die demütigende Flucht zu ergreifen. Stattdessen widme ich meine Aufmerksamkeit wieder den aneinandergereihten Baracken zu. Irgendwo muss sich doch eine günstige Gelegenheit finden lassen.

„Du besch... Flohsack!“

Ein schmerzerfülltes und überraschtes Maunzen entweicht meiner Kehle, als mich sein dreckiger Schuh hart in die Seite trifft und ich fast einen Meter weit wegfliege. Sofort rapple ich mich auf und fauche ihn an. Was fällt diesem besoffenen, unwürdigen Scheusal ein?!

„Du Unglücksträger, du … verrecke! Verrecken solld ihr allale!“

Gerade noch rechtzeitig springe ich auf die Seite, als der besoffene Idiot eine leere Dose nach mir wirft. Verdammt! Wieso kann der denn noch so gut zielen in seinem Zustand? Er wankt bedrohlich näher und ich kann durch den Schleier der Trunkenheit vor seinen Augen ein mordlustiges Glitzern entdecken. Unsicher mache ich ein paar Schritte zurück. Könnte ich meinen menschlichen Körper benutzen, wäre ich ihm haushoch überlegen, aber so …

Wütend über meinen Leichtsinn, und dass ich meinen Gegenüber falsch eingeschätzt habe, entfährt mir ein weiteres Fauchen. Mir bleibt nichts anderes übrig, als vor diesem trunkenen Versager zu flüchten. Ohne eine weitere Sekunde zu verlieren, drehe ich mich nach rechts und renne zu einer Häuserfront, vor der sich der Müll stapelt und springe dazwischen. Ich suche mir einen Platz mit Guckloch und sehe, wie dieser stinkende Mensch auf die Müllberge zu schwankt. Suchend und verwirrt bleibt er davor stehen, unsicher, was er tun soll.

„Wo bischte? Woho? Kittikatti?“

Als ob ich ihm antworten würde! Wie ist dieser Trottel noch in der Lage, irgendetwas zu treffen? Am liebsten würde ich ihm sein Kittikatti in den Allerwertesten rammen!

„Komm rausch, isch sag’s dir! Jetscht!“

Ja klar, es wird ja immer besser! Wütend fahre ich meine Krallen raus und rein. Ich kann es nicht kontrollieren, mein jämmerlicher Tierkörper scheint von ganz allein zu reagieren. Verbittert beiße ich mir auf die Zunge. Das Ganze ist so demütigend, so erniedrigend! Das ich mich vor einem volltrunkenen Wesen verstecken muss, das locker mein Opfer sein könnte! Wie ein Tier muss ich mich hier verkriechen und hoffen, dass er endlich von dannen zieht. Ein unglaubliches Feuer der Wut beginnt in mir zu lodern. Ich hasse diese unwürdigen Kreaturen, die die Erde bevölkern, und meine Position, die ich habe! Und vor allen Dingen hasse ich es, Situationen nicht im Griff zu haben und das Gefühl der Hilflosigkeit, dem ich momentan ausgesetzt bin. Als ich wieder aufschaue sehe ich, wie er sich hicksend wieder entfernt, empörende Worte vor sich her murmelnd. Hat er also endlich von mir abgelassen, dieser stinkende Versager? Nun gut. Du hast mich herausgefordert und gedemütigt und dafür wirst du bezahlen!

 

Verstohlen blicke ich mich um, doch außer uns ist niemand mehr auf der Straße zu sehen. Entschlossen springe ich aus meinem Versteck hervor und visiere mein Ziel.

Dein nutzloses Leben gehört mir und du weißt es noch nicht einmal! Genieß es solange du noch kannst, du niederes Wesen! Mich hat niemand zu entwürdigen und schon gar nicht ein versoffenes Menschlein! Das wirst du mir büßen! Dein Lebensatem wird dich noch heute Nacht verlassen und zu meiner Sammlung übergehen!

***

Erleichtert seufze ich, als mein Zielobjekt wieder in eine ruhigere Straße einbiegt. Fast hätte ich ihn verloren, als er durch die vereinzelten Menschengruppen gestolpert ist. Doch ein Blick hat mir genügt, um festzustellen, dass diese mindestens genauso besoffen waren wie er. Ich konnte mich an den Häuserrändern voran schlängeln und gut mit ihm Schritt halten, ohne bemerkt zu werden. Vielleicht war es riskant gewesen und normalerweise hätte ich dies nicht getan, doch ich habe mir geschworen, sein Leben zu holen, und so wird es sein. Ich kann nur noch an meine Rache denken, alles andere ist mir vorerst egal. Ich brauche unbedingt meine Genugtuung. Dies ist auch der Grund, warum ich ihm schon seit über eine Stunde durch die Gassen folge. Wann ist dieser Idiot endlich daheim? Hat der überhaupt ein Zuhause? Hat er womöglich vergessen, wo er wohnt?

Meine Pfoten beginnen langsam zu schmerzen und ich könnte eine kleine Pause gebrauchen. Ich muss ein paarmal blinzeln, da meine Sicht sich leicht zu benebeln scheint. Leise gähne ich auf. In diesem Moment torkelt meine Beute auf eine der vielen Haustüren zu. Ohne zu zögern, springe ich vor, um so nah wie möglich bei den Eingängen zu sein. Jede Sekunde zählt, obwohl … meine Sorge war wohl unbegründet, denn es vergehen gefühlt fünf weitere Minuten, bis er es schließlich schafft, aufzuschließen. Mit wackeligen Beinen taumelt er in das baufällige Gebäude und ich ungesehen hinterher. Das Innere sieht genauso porös aus wie das Häuserwerk von außen. Weiterhin haftet mein Blick fest an seinen zitternden Beinen, wie sie sich schleppend die Treppe hinauf quälen. Lautlos springe ich in sicherem, jedoch nicht allzu großem Abstand hinterher. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit, bis er es in den zweiten Stock geschafft hat und den Flur betritt. Ich presse mich kurz gegen die Wand, als er anfängt sich summend im Kreis zu drehen. Verdammt! Macht dieser Scheißkerl das etwa mit Absicht? Der da oben hat bestimmt seine wahre Freude an der Vorstellung! Bin ich froh, dass das ganze Tohuwabohu keiner meiner Mitstreiter sieht. Ich kann mir die dämlich und hämisch grinsenden Gesichter der anderen nur allzu gut vorstellen. Wie viel muss ich denn noch auf mich nehmen, um an mein Ziel zu kommen? Wenn er nicht gleich mit dem Unfug aufhört stürze ich mich auf ihn und zerreiße ihm seine hässliche Visage!

Als hätte er meine Gedanken gehört, bleibt er plötzlich benommen stehen und lauscht in den Flur hinein. Ein Gemisch aus wütenden Stimmen, Gesang und Stöhnen durchzieht den Gang des heruntergekommenen Wohnhauses. Suchend blickt sich mein Opfer um. Ich kann es nicht fassen! Jetzt hat doch dieser Versager tatsächlich vergessen, wo genau er wohnt! Zu allem Überfluss fängt jetzt mein Auge an zu zucken. Innerlich schreie ich auf und muss all meine Selbstbeherrschung zusammennehmen, um ihn nicht jede Sekunde anzuspringen und seine gaffenden Augen auszukratzen!

Benommen stolpert er auf die erste Tür zu seiner linken und probiert den Schlüssel aus – nichts. Vor sich hin fluchend dreht er sich um und probiert es bei der gegenüberliegenden Tür. Wieder trifft er das Schlüsselloch nicht sofort und ich kann nur hoffen, dass in der Zwischenzeit nicht Leute den Flur betreten und mich entdecken. Denn dann habe ich ein Riesenproblem. Doch aufgeben kann und möchte ich jetzt nicht. Zu sehr sitzt mir die Demütigung noch in den Knochen. Er gibt ein wütendes Grunzen von sich und wackelt weiter zum nächsten Schlüsselloch. Wieder nichts. Ein amüsiertes Lachen entrinnt seiner Kehle. Na wenigstens einer von uns beiden, der sich über die derzeitige Situation freuen kann!

Ich spüre die Hitze in mir aufsteigen, sowie den betörenden Drang mich endlich auf diesen Wurm zu stürzen und mir das zu nehmen, was mir zusteht. Doch ich tue es nicht. Stattdessen bleibe ich ungerührt an meinem Platz sitzen und sehe der schaurig dramatischen Situation zu, die sich zigmal wiederholt: Er taumelt von einer Tür zur anderen und bemerkt, nach unzähligen Versuchen das Schloss zu treffen, dass sein verfluchter Schlüssel nicht passt! Nun merke ich, dass meine Augenlider schwer werden und ich bin kurz davor, dem Bedürfnis nachzugeben und sie für eine Weile zu schließen. Da sehe ich, wie eine Tür aufgeht, mein Zielobjekt einen glucksenden Laut von sich gibt und in die Wohnung stolpert. Augenblicklich springe ich auf meine vier Pfoten und wetze den Gang entlang. Hoffentlich bin ich nicht zu spät! Er darf jetzt nicht den Zugang vor meiner Nase zuschlagen, sonst wäre alles vergebens gewesen! Nur noch ein Stück und – verdammt! Ich bremse hart ab, als ich die geschlossene, mitgenommene Tür vor mir sehe. Das kann doch jetzt nicht wahr sein! Geht denn heute alles schief? Wieso hat dieser Kerl nur so ein Glück? Diese mickrige, elende …

Wutentbrannt springe ich gegen das Holz und stürze in die kleine, vermüllte Wohnung. Irritiert schaue ich auf und kann mein Glück kaum fassen. Die Tür war nur angelehnt gewesen. Hatte dieser Trunkenbold doch wirklich vergessen, abzuschließen, geschweige denn diese richtig zu schließen. Heute ist wohl doch kein so übler Tag!

Mit einem Schmunzeln im Gesicht stehe ich auf. Das Spiel kann beginnen. Vorsichtig stemme ich mich gegen die Tür, sodass sie wieder angelehnt ist, dann lasse ich meine Blicke durch das unbeleuchtete Heim schweifen. Meine Augen brauchen nicht lange, bis sie sich an das Licht gewöhnen. Ich befinde mich inmitten eines Wohn- und Essbereichs mit einer kleinen Kochnische. Die Möbel sind allesamt beschädigt und fast unbrauchbar. Abgesehen davon scheint er sehr unordentlich zu sein, denn überall liegt schmutzige Wäsche auf dem Boden, sodass ein Teppich völlig unnötig erscheint. Es kostet mich einiges an Mühe, um seinen Dreck herum zu balancieren, um nicht auf seine ungewaschenen Unterhosen zu treten. Angewidert rümpfe ich meine Nase. Ich möchte nicht wissen, wie lange die Kleidung nicht mehr gewaschen wurde, denn der Gestank ist widerlich.

Mein Weg führt mich direkt in sein Schlafzimmer, welches hinten rechts liegt. Ich weiß, dass er darin ist, denn das ohrenbetäubende Schnarchen ist nicht zu überhören. Ohne weitere Vorsicht spaziere ich in den Raum, der sich von der Ordnung nicht von diesem unterscheidet. Es scheint sogar den verehrenden Zustand noch zu toppen. Der Gestank schmuddeliger Wäsche vermischt sich mit abgestandenen Bier- und Kaffeemief. Ein Hauch von Übelkeit überkommt mich und ich halte reflexartig die Luft an. Ich bin mal gespannt, was für eine Aura dieser Schwachkopf hat. Geschickt schlängle ich mich an dem Dreck vorbei und springe auf die verschmierte, durchgelegene und feuchte Matratze. Er liegt bäuchlings darauf und hat es nicht einmal geschafft, sich die Schuhe auszuziehen. Ich schleiche zu seinem Gesicht vor, ohne dabei seinen abgemagerten Körper zu berühren. Dunkle Augenringe sind auf der blassen Haut zu erkennen und ergänzen die scharfen Wangenknochen. Ich beuge mich runter, vor zu seinen geöffneten Lippen und weiche erst einmal zurück. Dieser faulige Mundgeruch, der mir entgegenschlägt, ist einfach scheußlich. Angeekelt drehe ich meinen Kopf von ihm weg und versuche, frische Luft zu schnappen, jedoch ist die Luft in dem Raum so abgestanden, dass mir nur noch übler wird. Genervt verdrehe ich die Augen. Mir bleibt heute aber auch wirklich nichts erspart. Frustriert schnaufe ich aus. Am besten bringe ich es so schnell wie möglich hinter mich, damit ich von hier verschwinden kann. Entschlossen wende ich mich dem weit aufgerissenem Mund meines schlafenden Opfers zu. Es fällt mir schwer und ich brauche ein paar Minuten, bis ich mich konzentrieren kann.