Im Licht des Mondes

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„Hey, wie kommst du denn hier rein?“

Freundlich blicken mir seine hellgrünen Augen entgegen und zögernd streckt er mir die Hand entgegen. Misstrauisch beäuge ich ihn. Zugegeben, ich habe mit einer anderen, der üblicheren Reaktion gerechnet. Oder ist seine Freundlichkeit nur gespielt und dient der Täuschung, um mich einzufangen und mir den Garaus zu machen? Unschlüssig verharre ich in meiner Position und warte auf seinen nächsten Zug. Ich fühle mich deutlich unwohl. Was für eine beschissene Nacht. Dabei hatte sie so vielversprechend begonnen.

„Du brauchst keine Angst vor mir zu haben, ich tu dir nichts“, redet er mir geduldig mit sanfter Stimme zu. Mir fällt auf, dass seine Stimme einen ziemlich angenehmen Klang hat, doch das hat nichts zu heißen. Diese wandelnden Sterblichen sind alle gleich und gehören ausnahmslos von der Erde vertilgt. Ich fauche ihn warnend an, doch dies scheint ihm nicht im Geringsten zu beeindrucken.

„Du bist bestimmt hungrig … etwas Milch habe ich bestimmt noch übrig.“

Mit diesen Worten richtet er sich vorsichtig auf, als könne er mich durch eine ruckartige Bewegung erschrecken. Ich lasse ihn nicht aus den Augen, als er sich mir mit gemächlichen Schritten nähert und kurz vor mir in den Raum zu meiner rechten einbiegt, welcher sich als kleine Küche entpuppt. Argwöhnisch setze ich mich zwischen Tür und Angel und sehe ihm zu, wie er ein kleines Schälchen aus dem klobigen, schwarz-weißen Hängeschrank nimmt, vor dem Kühlschrank in die Hocke geht und ein angebrochenes Päckchen Milch entnimmt. Ich gebe es nur ungern zu, doch bei dem Anblick, wie die weiße Flüssigkeit in das Gefäß läuft, wird mir wieder bewusst, wie trocken meine Kehle ist und wie gut es tun würde, jetzt etwas zu trinken. Für dieses Zugeständnis würde ich mir am liebsten selbst wohin beißen, doch es hilft alles nichts, ich kann meinen Blick einfach nicht von der gefüllten Schale lösen und als er es dann endlich vor mir auf den Boden stellt, gebe ich meinem quälenden Drang nach und stürze mich förmlich auf die Milch. Erfrischend kühl rinnt die weiße Substanz meine Kehle hinunter und ich kann einfach nicht aufhören, bis ich alles ausgetrunken habe. Lächelnd sieht er mir dabei zu und wartet geduldig, bis ich fertig bin. Vorsichtig nimmt er das leere Geschirr weg und legt es in die Spüle.

Was nun? In so einer Situation war ich noch nie und irgendwie ist es mir verdammt peinlich. Ich mag dieses Gefühl nicht. Machtlos. Untergeordnet. Ausgeliefert.

Er schaut mich nachdenklich an, allerdings liegt nichts Bedrohliches in seinen Augen. Im Gegenteil: Sie strahlen eine solche Ehrlichkeit und Sanftheit aus, wie ich es noch nie zuvor gesehen habe. Dann dreht er sich um, holt sich eine Flasche Wasser aus dem Schrank und schlendert ins Wohnzimmer, wo er sich auf der Couch niederlässt. Ohne nachzudenken, setzen sich meine Pfoten wie von allein in Bewegung und folgen dem seltsamen jungen Mann mit den faszinierenden Augen bis vor die braune Polstergarnitur. Ein Ausdruck der Freude passiert seine weichen Gesichtszüge, als er bemerkt, dass ich ihm blindlings hinterhergelaufen bin und auffordernd klopft er leicht neben sich auf die flauschige Couch. Sehe ich denn aus wie ein Schoßhündchen?! Dieser Lackaffe! Doch noch während ich ihn gedanklich verfluche, springe ich auf den mir zugewiesenen Platz und setze mich artig nieder wie ein kleines gehorsames Kind. Ich weiß nicht, warum mein Körper so widersprüchlich handelt, doch gebe ich nun völlig auf und wehre mich nicht, als er anfängt, mich zaghaft zu streicheln. Sachte gleitet seine warme Hand über mein schwarzes Fell und ich lasse es müde über mich ergehen, wobei eine Hälfte in mir seine Zuwendung sehr genießt, auch wenn ich mir schwertue, das einzugestehen. Diese Nacht ist irgendwie verflucht.

„Du hast ein schönes Fell, so glänzend und seidig. Was du wohl alles erlebt haben musst … du hast es da draußen bestimmt nicht leicht. Armes Ding …“

Wenn der wüsste, wer ich bin und vor allen Dingen, weshalb ich hier bin! Na ja, nicht mein Problem. Dennoch muss ich zugeben, dass mein Körper, obgleich der Streicheleinheiten oder dem Klang seiner beruhigenden Stimme, mich urplötzlich entspannen lässt. Meine Aufmerksamkeit schwindet dahin wie ein versiegender Fluss. Jedoch kämpfe ich nur kurz dagegen an. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Gefahr besteht. Schläfrig rolle ich mich neben ihm auf der Polstergarnitur ein und schließe meine brennenden Augen, während er mich weiterhin schmust und mit mir spricht. Ich bekomme nicht mehr viel mit, nur dass er Mick heißt und 19 Jahre alt ist, dann schlafe ich ein.

***

Träge öffne ich meine Augen und sehe mich um. Es dauert einen Moment bis ich mich entsinne, wo ich bin und was vorgefallen ist. Ein verächtlicher Ausdruck über mein erbärmliches Verhalten huscht über meine Miene. Wie konnte ich mich nur so gehen und als Schmusetier herabstufen lassen? Am liebsten würde ich mich selbst verprügeln. So leichtsinnig war ich noch nie gewesen … was geht nur in mir vor? Unverzeihlich.

Langsam rapple ich mich auf. Mein Zeitgefühl sagt mir, dass es Zeit für den Aufbruch ist, bevor die Sonne aufgeht und den schützenden Mantel der Nacht brutal verdrängt. Jetzt erst fällt mir auf, dass er sich noch neben mir befindet. Halb sitzend, halb liegend schläft er friedlich auf der Couch. Vorsichtig, um ihn nicht aufzuwecken, schleiche ich mich zu seinem Gesicht vor, welches seicht vom silbernen Licht des Mondes beschienen wird. Das ist meine Chance, die Tat, für die ich seine Wohnung betrat, zu beenden. Drei Leben mit starker Aura in einer Nacht – sehr verlockend. Behutsam trete ich näher auf ihn zu, sodass ich ganz dicht vor ihm stehe. Nochmals betrachte ich ihn, wie er so nichtsahnend seinen Träumen nachgeht. Unwissend, wie nah er dem Tode in diesem Augenblick ist. Armer, dummer Mensch – selbst schuld. Wenn er sein Fenster so einladend offenstehen lässt, fordert er den Tod heraus und hier bin ich. Jedoch … wieso zögere ich dann? Liegt es daran, dass ich eigentlich meine Chance vertan habe, indem ich tollpatschig den Besen umgeschmissen habe und er mich nicht davongejagt hat? Im Gegenteil, er war ungewöhnlich freundlich für einen Menschen und hat mir etwas zu Trinken gegeben. Allerdings hat er mich unwissend erniedrigt. Ach verdammt! Meine Augen blitzen wütend auf, als ich erkenne, dass ich dies hätte verhindern können und müssen. Ihn trifft somit keine Schuld. Ich beiße mir verbittert auf die Unterlippe, dann wende ich mich von ihm ab und verschwinde auf dem gleichen Weg wie ich gekommen bin. Wir sind quitt, Menschlein. Du hast mir geholfen und ich habe dein Leben verschont. Eilig renne ich über die holprigen Wege, um eine Schnittstelle zu meiner Dämonenwelt aufzusuchen. Wieder endet eine lausige Nacht meines Lebens.

Kapitel 3

Drew:

Auf meinem Gesicht breitet sich ein triumphierendes Lächeln aus. Diesmal kriegen wir ihn! Es gibt keinen Ausweg. Wir verfolgen ihn über die holprigen Straßen seit über zehn Minuten.

„Da vorne! Er biegt nach rechts ab!“, höre ich meine Zwillingsschwester dicht hinter mir rufen. Ich nicke. Lange kann er dieses Tempo nicht mehr durchhalten und dann haben wir ihn! Den pechschwarzen Dämon, einer der Topsammler von Menschenleben des Dämonenreichs. Lange haben wir darauf gewartet und nun soll es endlich soweit sein. Wie gemein und doch so typisch für diese Höllenbrut, sich als so sanfte Wesen zu tarnen! Rasant biegen wir nach rechts ab und ganz kurz verdrehe ich meine Augen, als ich den hindernisreichen Weg erblicke. Das hat es sich ja gut ausgesucht, dieses kleine Biest! Zahlreiche umgeworfene Mülltonnen und Müllsäcke säumen den ohnehin schon holprigen Weg der schmalen Seitenstraße. Doch meine Motivation wird wieder schlagartig angeheizt, als ich unser Zielobjekt geschickt über die Hürden sprinten sehe. Sofort verdopple ich meine Geschwindigkeit und spurte hinterher, dicht gefolgt von meiner Schwester. Es ist nicht leicht, sowohl den Kater in den Augen zu behalten, als auch den im Weg liegenden Gegenständen auszuweichen. Doch der Preis bei Gelingen ist hoch und den möchte ich mir auf keinen Fall entgehen lassen. Meiner Zwillingsschwester geht es genauso, dazu muss ich mich nicht umdrehen und in ihr Gesicht blicken, um dies zu wissen. Es ist nicht so, dass wir völlig gleich sind, doch in dieser Sache sind wir uns mehr als nur einig.

Schwungvoll meistern wir die Hürden, ohne nur ein einziges Mal zu taumeln. Abermals biegt er in eine weitere menschenleere Seitenstraße ein. Strategisch klug von ihm, muss ich zugeben. Denn im Menschengetümmel wäre er leicht auszumachen und er hätte noch mehr Verfolger. Meine Kehle brennt und Schweiß tropft mir aus allen Poren. Doch ich lasse ihn nicht aus den Augen, den kleinen Dämon mit dem glänzenden, schwarzen Fell. Ein schmerzlicher Stich fährt mir durchs Herz. Wie ich diese Kreaturen verabscheue. Nicht genug, dass die Menschen die letzten Jahre von Kriegen, Krankheiten, Hunger und Tod gepeinigt worden sind, jetzt haben sich auch noch die Dämonen auf der Erde breitgemacht. Dies war allerdings nur möglich, weil die Menschheit den Glauben in das Gute verloren hatte und der Nährboden der Städte nur noch aus Hass und Gewalt bestand. Doch die Hoffnung und die Zuversicht werden wiederkehren. Ich glaube fest daran. Und meine Schwester und ich werden ein Teil des Werkzeugkastens sein, um dies herbeizuführen.

Mist! Er ist wirklich verdammt schnell und ausdauernd. Ich muss nicht zum ersten Mal gestehen, dass sich die harten und unerbittlichen Trainingsstunden in unserer Ausbildung mehr als gelohnt haben und auch jetzt noch ihren Dienst nicht versagen.

Wiederrum biegt der wetzende Fellknäul um eine Ecke, doch diesmal hat er sich vertan!

„Joy, jetzt haben wir ihn! Mach dich bereit!“, rufe ich meiner Schwester zu und zeige ohne anzuhalten auf das Straßenschild mit dem Symbol der Sackgasse. Meine andere Hand wandert im selben Moment in meine Jackentasche und umklammert das kleine Kreuz mit dem geweihten Blut. Gleich haben wir dich! Dann hat dein Morden ein Ende!

 

Viel zu lange erscheint mir der Augenblick bis ich endlich die Straßenecke erreiche, dabei kann es sich nur um ein paar Sekunden handeln. Dann ist es soweit. Gehetzt, jedoch vollen Mutes, rase ich um die Ecke und bleibe abrupt stehen, so jäh, dass meine Schwester hart in meinen Rücken prallt. Doch dies ist Nebensache. Enttäuschung und Wut fluten meinen Körper und lassen mich zittern.

„Scheiße! Das darf doch nicht wahr sein!“

Verzweifelt springe ich nach vorne, weiter in die Sackgasse herein, und sehe mich hektisch um. Hunderte von bernsteinfarbenen Augen blitzen mir entgegen. Ängstlich, wütend und hungrig drängen sie sich dicht aneinander und betrachten uns – die Eindringlinge, die ihr Versteck gefunden haben.

„Verdammt!“

So sehr ich mich auch konzentriere, ich nehme zwar seine dämonische Aura wahr, doch ich kann ihn unter den unzähligen Straßenkatzen nicht orten. So kann das doch nicht enden! Das ist einfach nicht fair! Er ist hier noch irgendwo, das spüre ich. Das Spiel ist nicht vorbei! Zumindest versuche ich mir dies einzureden, als ich wie besessen die Straße abrenne und versuche, ihn unter all den Vierbeinern auszumachen.

Nichts! Wieso bekomme ich das nicht hin? Er sitzt bestimmt unter ihnen und grinst sich einen ab, dieser elende Mistkerl! Er darf nicht davonkommen! Ein zweites Mal laufe ich die Sackgasse ab, meinen Blick durch die bunte Meute der Straßenkatzen schweifend. Woher kennt er sich nur dermaßen gut hier aus? Diese Stadt kann noch nicht lange zu seinen Jagdrevieren gehören und dennoch … Ist das alles ein Wink des Zufalls, der uns damit auslachen möchte und sich über uns lustig macht? Wir sind so nah dran gewesen.

„Drew … es ist vorbei!“, höre ich meine Schwester kleinlaut hinter mir, welche immer noch stark nach Luft schnappt. Im Inneren weiß ich, dass sie recht hat, doch eine große Seite in mir weigert sich, diese Tatsache zu akzeptieren. Abgespannt renne ich von einer Seite zur anderen, schaue hektisch von einer Ecke zur nächsten, doch das Resultat bleibt genauso ernüchternd wie zuvor. Er ist uns ein weiteres Mal entkommen.

Verbittert bleibe ich stehen, beiße mir auf die Zunge und balle meine Hände zu Fäusten. Jetzt kann ich nicht einmal mehr seine Aura wahrnehmen. Ist er etwa durch einen Schlupfwinkel verschwunden? Wieso ist er uns immer einen Schritt voraus?! Fast würde ich denken, er hätte einen Schutzengel, doch der Gedanke ist zu paradox.

Ich zucke kurz zusammen, als mir meine Schwester beruhigend eine Hand auf meinen Rücken legt und erst jetzt bemerke ich, dass ich vor Aufregung und Wut geradezu bebe.

„Drew, bitte beruhige dich. Wir schnappen ihn uns ein andermal! Er kann uns nicht ewig entkommen. Wir brauchen nur etwas mehr Geduld. Bitte.“

„Es ist nicht fair! Wie oft ist er uns nun schon entwischt? Wie lange sind wir jetzt hinter ihm her? Warum … warum können wir ihn nicht endlich stellen! Wieso kann er uns immer entkommen?“

Ich kann nicht verhindern, dass meine Stimme dünn klingt und kurz vor dem Versagen ist. Und mit einem Mal spüre ich, wie der ganze Druck, die gesamte Anspannung, die ich bei unserer Verfolgungsjagd angesammelt hat, von mir abfällt. So sehr ich mich bemühe, nun kann ich es nicht mehr aufhalten. Ungehindert fließen Tränen aus meinen Augen wie Sturzbäche und ich sinke auf die Knie, lasse meinen Gefühlen freien Lauf. Joy geht nun ebenfalls in die Knie und nimmt mich tröstend in ihre Arme. Ich könnte mich in diesem Moment für meinen Gefühlsausbruch selbst ohrfeigen, wollte ich sie doch immer beschützen und keine Schwäche zeigen, damit sie sich keine Sorgen machen muss, jedoch kann ich einfach nicht aufhören zu weinen. Zu groß ist die Enttäuschung über die erneute Niederlage, zu groß der Frust über mein erneutes Versagen.

„Schon gut, Schwesterherz. Unsere Bemühungen und unser Ehrgeiz werden sich am Ende auszahlen. Diesmal hat er wieder gewonnen, aber das nächste Mal sind wir an der Reihe!“

Sie zieht mich fester zu sich und flüstert mir unentwegt besänftigende Worte ins Ohr. Schluchzend klammere ich mich an sie, umringt von unzähligen, gelb funkelnden Katzenaugen in der trostlosen Nacht.

***

Mit einem herzlichen Lächeln im Gesicht tritt meine Schwester mit mir den Rückweg an. Es ist nicht das erste Mal, dass ich mich frage, wie sie das macht. Im Gegensatz zu mir lässt sie sich nicht so schnell durch eine Niederlage entmutigen. Oftmals habe ich schon gedacht, dass sie die Stärkere von uns beiden ist. Nicht ich, wie es die Priester und Ausbilder immer behaupten. Auch sie selbst ist dieser Ansicht. Doch alle irren sich.

Schweigend laufen wir nebeneinander her, zurück durch die schmalen Gassen, durch die wir vor ein paar Minuten noch in wilder Verfolgungsjagd gerannt sind. Ihr hüftlanger Pferdeschwanz wippt emsig im Takt ihrer federnden Schritte hin und her. Fast erscheint es mir, als würde sie schweben. Ein leichtes Schmunzeln huscht über mein Gesicht, als ich sie so beobachte. Sie erinnert mich an ein kleines Kind, dass gerade auf dem Weg zu einem Spielplatz ist. Ausgelassen, fröhlich und sorglos. Was würde ich dafür geben, ihr alle Ängste für immer fernzuhalten. Ich bin froh, dass sie ein leichtes Gemüt hat, trotz der ganzen Umstände und den alltäglichen Situationen, denen wir uns oft stellen müssen. Wieder wundert es mich, dass wir charakterlich so verschieden sind, obwohl wir eineiige Zwillingsschwestern sind. Beide haben wir glatte, hüftlange Haare, die wir Aubergine gefärbt haben, da wir diese Farbe lieben. Hier besteht der Unterschied allerdings darin, dass meine Schwester sich die Zeit nimmt und immer süße Zöpfe und Frisuren kreiert. Ich bin in diesem Gebiet nicht besonders geduldig und nicht wirklich angetan davon. Ihr steht es wirklich super, es passt zu ihr. Ich fühle mich damit nicht wohl, weswegen ich meine Haare meistens offen trage oder einfach zusammenbinde. Wir haben beide die Augenfarbe unserer Mutter in einem dunklen Saphirblau. Ich ertappe mich oft dabei, dass ich Joy mit einer kleinen Elfe vergleiche. Sie ist zierlich, quirlig und quietschvergnügt. Sie passt so gar nicht in diese raue, von Hass zerfressene Welt … Als hätte sich ihre reine Seele hierher verirrt. Ist es denn ein Wunder, dass ich immer das Gefühl habe, sie vor allem Übel beschützen zu müssen? Vielleicht wird sich dies ändern, wenn wir erst einmal unsere Prüfung bestanden haben und nicht mehr nur Anwärterinnen sind, aber bis dahin ist es ein weiter Weg. Und wenn alle unserer Patrouillen so erfolglos wie die heutige verlaufen …

„Was guckst du denn wieder so unglücklich drein? Ist es immer noch wegen ihm?“

Meine Schwester versetzt mir einen lockeren Schubs in die Seite und zieht eine Grimasse, die mich aufmuntern soll. Ich seufze. Egal wie sehr ich mich auch versuche zu verstellen, sie liest aus mir wie aus einem offenen Buch. Ich kann ihr einfach nichts vormachen. Alle Versuche sind zwecklos.

„Ja, es wurmt mich eben. Wir waren so knapp davor und ich war mir sicher, dass wir ihn diesmal schnappen würden. Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall, na ja … Ich bin enttäuscht, aber du hast recht. Das nächste Mal kommt bestimmt.“

Ihre Grimasse verwandelt sich in ein breites Grinsen und ihre blauen Augen, die gleichen wie meine, funkeln mir frech entgegen.

„Natürlich habe ich recht, ist ja schließlich immer so! Oder hast du etwas anderes erwartet?“

Scherzhaft verziehe ich das Gesicht und schmolle gespielt bis wir beide anfangen müssen zu lachen. Was würde ich nur ohne sie tun? Sie ist mein Sonnenschein, die Rose auf dem kalten Asphalt, der Grund, warum ich es immer wieder schaffe, aufzustehen und nicht aufzugeben.

„Die arme Frau! Drew warte mal, ich …“, setzt Joy plötzlich mitleidig an und läuft mit schnellen Schritten zur gegenüberliegenden Straßenecke, wo eine alte Frau, eingemummelt in fleckigen Stofffetzen, gegen die grauen Hausmauern lehnend sitzt und apathisch vor sich hinstarrt. Ihre Haut ist unnatürlich blass und faltig wie ein zu oft gefaltetes Blatt Papier. Vorsichtig kniet sich meine Zwillingsschwester der gekrümmten Fremden gegenüber und spricht sie besorgt an. Ich bleibe stehen und beobachte gedankenverloren die Szene. Wie aufmerksam doch Joy ist. Ich selbst habe die Frau nicht wahrgenommen und wäre an ihr vorbeigegangen. Doch selbst wenn ich sie gesehen hätte, muss ich gestehen, dass ich, ohne ein Wort an sie zu verlieren, meinen Weg fortgesetzt hätte. Zwar tun mir die Leute leid, die vom Schicksal derart hart bestraft werden, allerdings kann man nichts groß für sie tun. Ich selbst bin nicht besonders gut in Reden und Trost spenden, das liegt mir einfach nicht. Stattdessen versuche ich, der Menschheit zu helfen, indem ich die Erde von den Dämonen säubere, die sich hier wie Parasiten ausgebreitet haben. Mehr kann ich nicht tun, so gern ich es auch möchte.

Tatsächlich schafft es meine Schwester zu der alten Frau durchzudringen. Ich sehe, wie sich die beiden unterhalten und Joy ihr teilnehmend über den Oberarm streicht. Die Unterlippe der fremden Frau fängt an zu zittern und Tränen laufen über ihr faltiges Gesicht. Ich fokussiere meine Schwester, ihr einfühlsamer und barmherziger Blick, ihre feinen und jetzt angespannten Gesichtszüge, welche vom grauen Schleier der Besorgnis getrübt werden. Dies sind die Situationen, die an ihr nagen und sie mitnehmen. Sie hat es mir nie gesagt, doch ich weiß es. Es ist nicht zu übersehen. Schon immer. Ein schmerzhafter Stich durchfährt ein zweites Mal in dieser Nacht meinen Körper und langsam schlendere ich auf die beiden zu.

„Joy, was hat sie?“, flüstere ich fragend meiner Schwester mit belegter Stimme zu.

„Ich glaube, sie ist krank und braucht Hilfe“, antwortet meine Schwester und streicht der Frau über die weiße Wange. Ich betrachte mir die Fremde noch einen Moment, über deren schwarzen Augen sich ein leichtes Tuch des nahenden Todes gelegt zu haben scheint und nicke dann zustimmend.

„Lass sie uns ins Krankenhaus bringen. Sie sollte nicht hier draußen sein.“

„Was ist mit den anfallenden Kosten für die Aufnahme?“, hakt Joy zaghaft nach, doch ich kann ihr ansehen, dass sie meine Antwort bereits kennt. Dennoch bleibe ich ihr diese nicht schuldig.

„Die Gebühren übernehmen wir.“

„Wenn die Priester uns nach dem Grund der Ausgaben fragen?“

Meine Schwester blickt zögernd zu mir auf, doch ich winke flüchtig ab.

„Mir wird schon eine passende Ausrede oder Erklärung einfallen.“

Joy nickt und ich sehe die Erleichterung, die meine Worte ihr geschenkt haben, in ihren glänzenden Augen aufblitzen wie kleine, wertvolle Diamanten. Gemeinsam helfen wir der zerbrechlichen Frau auf und machen uns auf den Weg in das nächstgelegene Krankenhaus. Es wird nicht gern gesehen, wenn wir Anwärter das Geld rausschmeißen. Es ist auch nicht das erste Mal, dass meine Schwester und ich mit einem Verstoß dieser Art auffallen. Höchstwahrscheinlich wird es großen Ärger geben und ich werde versuchen, diesen auf mich zu nehmen. Aber was soll ich anderes tun? Ich kann meine Schwester nun mal nicht so traurig sehen, es zerreißt mir einfach das Herz und außerdem bin ich selbst der Meinung, dass kein Mensch so einsam und verlassen, mit leerem Magen, auf dieser dreckigen Straße, umhüllt vom Gestank des Verfalls, elendig sterben sollte. Das wäre einfach nicht fair.