Im Licht des Mondes

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Ein schwaches Blau umhüllt ihn. Seine Aura ist nicht von starker Leuchtkraft, was mich allerdings nicht sonderlich wundert, wenn man seinen Alkoholkonsum und seine Lebensweise betrachtet. Dennoch ist es für heute ausreichend, denn das erste gesammelte Leben dieser Nacht war ein kräftig leuchtendes Violett. Außerdem muss er so oder so daran glauben, denn er hat sein jämmerliches Leben verspielt, seit er mich getreten hat.

Ich beuge mich ganz nah zu ihm, sodass ich seine spröden Lippen fast berühre und beginne mein Werk. Mit jedem Zug, mit dem ich ihm rapide seinen Atem raube spüre ich leichte Hitzewellen in mich einströmen. Sein Körper beginnt im Takt der entweichenden Lebensenergie rhythmisch zu zucken und ohne einen Hauch von Gegenwehr übergibt er mir sein wertloses Sein. Ich stehe noch kurz da und schaue auf den soeben Verschiedenen, bis sich mein eigener Puls wieder beruhigt hat. Ich habe meine Rache bekommen, süß war diese allerdings nicht gerade. Ein bitterer Nachgeschmack des muffelnden Atems hängt hartnäckig in meiner Kehle und löst einen Brechreiz in mir aus. Schnell springe ich aus der versifften Wohnung durch das poröse Treppenhaus hinaus an die frische Luft. Gierig sauge ich die kühle Nachtluft ein, um das unnachgiebige Aroma zu vertreiben. Leider gelingt dies nicht ganz, aber zumindest wird es besser und meine Übelkeit verschwindet. Es ist schon ziemlich spät und ich mache mich auf den Rückweg. Erst jetzt bemerke ich wieder meine brennenden Füße, die bei jedem Schritt schwerer zu werden scheinen, sowie meine vor Müdigkeit juckenden Augen und meine trockene, kratzende Kehle. Ich blinzle kurz in den mit Sternen übersäten Nachthimmel und versuche all meine Gedanken aus meinen Kopf zu vertreiben. Einfach an nichts mehr denken, nur noch zurück und schlafen. Alle vier Glieder von sich strecken und zuvor was trinken. Was würde ich jetzt für eine Schale mit frischer Milch geben. Milch? Was war das denn? Natürlich, das war seine Schuld. Die Erinnerungen an letzte Woche drängen sich schlagartig und ungefragt in mein Gedächtnis. An mein tollpatschiges Verhalten, an die Begegnung mit ihm, wie er abgehetzt und in Alarmbereitschaft in weiter Pyjamahose aus seinem Schlafzimmer gewetzt kam, der überraschte Ausdruck in seinen hellgrünen und ehrlich schimmernden Augen und an seine warmen Hände, die sanft über mein schwarzes Fell gestreichelt haben. Immer wieder – so entspannend – bis ich tatsächlich eingeschlafen war.

Entsetzt bleibe ich stehen. Was ist das auf einmal? Wo kommt diese Gedankenwelle plötzlich her? Das darf nicht wahr sein! Verwirrt schüttle ich meinen Kopf. Solche Gedanken … irgendwas läuft hier schief. Das ist nicht meine Art. Erschöpft seufze ich auf. Natürlich! Es muss an meiner Müdigkeit liegen. Eine andere plausible Erklärung habe ich hierfür nicht. Abgesehen davon habe ich so viel Durst, dass ich jetzt alles trinken würde, nur um diesen zu stillen. Es kann also unmöglich an diesem leichtsinnigen Menschen liegen. Heute ist einfach nicht meine Nacht. Zeit zum Rückzug.

Ich reiße mich wieder zusammen und beeile mich mit schnellen Schritten den nächsten Teleporter zum Dämonenreich aufzusuchen, doch während des ganzen Rückweges kann ich seine hellgrünen und von Sanftmut durchzogenen Augen nicht vergessen und auch seine warmen Hände, die zärtlich über meinen verspannten Rücken streichen, wollen einfach nicht aus dem Kopf weichen …

Kapitel 6

Joy:

Der Duft von frisch angebratenem Gemüse und Kartoffeln hängt verführerisch in der Luft und verheißt ein schmackhaftes Abendessen. Ich atme den verlockenden Dampf tief ein und ein erfreutes Seufzen entweicht meiner Kehle. Herrlich! Es gibt doch fast nichts Besseres als den Geruch frisch zubereiteten Essens. Voller Vorfreude greife ich nach einer Gabel, um unser Nachtessen probieren.

„Mmhh … doch es fehlt etwas – was haben wir denn alles!“, murmele ich nachdenklich vor mich hin und hüpfe schwungvoll vor die Küchenzeile mit meiner geliebten Gewürzsammlung. Suchend lasse ich meine Finger über die unzähligen beschrifteten Gläser streifen. Bei Rosmarin bleibe ich hängen und meine Miene erhellt sich schlagartig.

„Das ist es! Genau das fehlt!“

Summend kehre ich zu der heißen Pfanne zurück und gebe eine Handvoll von dem Gewürz hinzu, ebenso eine Prise Salz und noch etwas von dem schwarzen Pfeffer. Noch einmal atme ich den verführerischen Duft tief ein und schließe die Augen. Oh mein Gott, riecht das gut! Schnell nehme ich die Gabel wieder zur Hand und nehme abermals einen Happen. Das ist es! Einfach köstlich. Ich werfe einen kleinen Blick von der offenen Küche zum Nebenzimmer, wo meine Schwester seit Stunden verbissen über dem Schreibtisch kauert und in ihren Unterlagen vertieft ist. Ich schalte den Herd aus, stelle die Pfanne beiseite und decke eilig den Tisch, wobei ich versuche, den appetitlichen Geruch zu meiner Schwester zu fächern. Erwartungsvoll schiele ich zu ihr rüber, jedoch erfolgt keine Reaktion auf meine Bemühungen. Enttäuscht atme ich aus und schlendere dann zu ihr rüber. Eine große Stadtkarte mit Umgebung ist über den gesamten Schreibtisch ausgelegt. Ich sehe verschiedenfarbige Markierungen an einigen Stellen und kann erahnen, um was es sich dabei handelt. Neugierig stelle ich mich hinter sie und schaue ihr über die Schulter. Sie ist so gedankenversunken, dass sie nicht einmal das bemerkt.

„Suchst du immer noch nach seiner Fährte?“, frage ich leise, um sie nicht zu erschrecken. Dennoch zuckt sie leicht zusammen, wendet ihren grüblerischen Blick allerdings nicht von der Karte ab und umklammert weiterhin ihren am Ende zerkauten Bleistift. Eine Angewohnheit, die sie seit ihrer Kindheit hat und die ich nie so ganz verstehen konnte und kann. Vielleicht liegt es daran, dass ich selbst mich nie in Dinge vollends verbohre, sondern immer eine Pause mache, wenn ich nicht weiterkomme. Meiner Meinung nach lösen sich manche Probleme von selbst. Meistens hatte ich bisher immer recht behalten. Ich denke, hier wird es auch nicht anders sein. Es ist nicht gut, dass meine Schwester sich so in die Arbeit stürzt. Sie braucht eine Pause. Wenn ich ihr doch nur ein bisschen von meiner Einstellung abgeben könnte. Immerhin ist das Leben viel zu kurz, um sich nur eisern in die Arbeit zu stürzen. Wir geben unser Bestes und das muss reichen. Besorgt streiche ich ihr über den gebeugten Rücken. Ich möchte nicht, dass sie an unserer Aufgabe zugrunde geht. Sie ist die Einzige, die ich noch habe.

„Ja … es muss einfach ein Muster geben, wie er seine Jagdreviere festlegt. Wenn wir dahinterkommen, dann können wir ihn abfangen und ihm zuvorkommen! Dann haben wir ihn endlich! Doch ich komme einfach nicht drauf! Seine Opfer, seine ehemaligen Jagdgebiete sind so ziellos verstreut.“

Drew fährt sich mit der freien Hand, die sie zur Stütze genommen hatte, durch die langen Haare, die sie zu einem Zopf zusammengebunden hat. Wie gerne würde ich ihr eine schöne Hochsteckfrisur zaubern. Sie hat so tolle lange Haare, nur leider ist sie der Meinung, dass Hochsteckfrisuren nicht zu ihr passen.

„Manche Gebiete sind unsinnig weit weg, andere plötzlich ganz dicht beieinander und er wechselt anscheinend wahllos die Richtungen. Er muss doch … da muss doch ein System dahinterstecken. Was spielt er nur für ein Spiel? Wo ist nur …“

Gedankenverloren verbindet sie mit dem angeknabberten Stift die roten Punkte auf der Karte, genau in der Reihenfolge, in der der zähe Dämon die Umgebung durchstreift hat. Dann knallt sie frustriert den Buntstift auf den Tisch und fährt sich über die Denkerfalten auf ihrer erhitzten Stirn.

„Nichts! Ich kann einfach kein Schema erkennen! Es ist doch echt zum Verzweifeln!“

„Hey, nicht aufregen! Wir machen das schon. Die Zeit wird kommen, wo er uns nicht mehr entkommen kann. Wir brauchen nur etwas Geduld! Und abgesehen davon stellen wir zwischendurch immer wieder andere Lebenssammler. Das ist auch was! So erfüllen wir unsere Arbeit. Immerhin sollen wir nicht zwangsläufig nur einen bestimmten Dämon jagen. Du brauchst eine Pause, ehrlich. Du arbeitest zu viel, ich mache mir Sorgen um dich, Schwesterherz“, gebe ich offen zu und zwirble ihr dabei durch die in Aubergine getönten Haare. Sie schaut mich kurz an und ich entdecke einen Funken Schuldgefühl in ihr aufflammen. Das wollte ich nicht. Ich möchte nicht, dass sie sich wegen mir ständig Sorgen macht und es ihr dabei selber schlecht geht. Gefühle sind echt kompliziert.

„Ich … ja, schon. Doch dieser Kerl – wir jagen ihn nun schon seit Jahren und immer wieder entkommt er uns. Dieser arrogante Handlangerdämon regt mich dermaßen auf und“, sie druckst kurz und sieht zu mir auf, „und er ist zu gut in dem, was er tut. Wir müssen ihn unbedingt aufhalten. Deswegen ist es mir egal, wie lange ich arbeiten muss oder ob ich weniger schlafe, wenn es nur dazu dient, ihn festzunageln und Menschen das Leben zu retten.“

Gedankenversunken wandern ihre Blicke wieder auf die Karte zurück und sie streicht grübelnd mit den Fingerspitzen darüber. In diesem Moment glaube ich doch, ein Muster zu erkennen. Ich blinzle ein paarmal schnell hintereinander, aber auch als ich die Augen wieder öffne, sehe ich das Bild durch die verbundenen Linien vor mir. Und noch bevor ich es verhindern kann, rutscht es mir heraus.

„Ich glaube, ich erkenne ein Muster! Wenn du die Karte linksherum drehst – ist das nicht ein Stinkefinger?!“

Automatisch muss ich grinsen, denn als ich die Stadtkarte drehe ist es unübersehbar, dass ich recht habe. Vorsichtig luge ich zu meiner Schwester, die erst aschfahl und dann rot wird vor Wut. Ihre Lippen beginnen zu zittern und sie ballt ihre Hände zu Fäusten.

„Dieser verdammte Mistkerl! Will der mich verarschen?!“

 

Ich kann es nun nicht länger zurückhalten. Belustigt fange ich an zu glucksen und streiche meiner Schwester beruhigend über den Oberarm.

„Komm schon, Drew. Du musst zugeben, dass er einen Sinn für Humor hat!“

Die Gesichtszüge meiner Schwester entgleisen nun vollends, was mich noch mehr zum Lachen bringt. Ich kann einfach nicht mehr aufhören.

„Das Essen ist übrigens fertig“, bringe ich unter lautem Prusten hervor. „Bevor es also ganz kalt wird, sollten wir zu Abend essen, ja?“ Ich sehe, wie sich die Glieder meiner Schwester entspannen. Sie schüttelt leicht den Kopf und schiebt mich in Richtung des gedeckten Tisches.

„Ich finde das nicht mal halb so witzig“, gibt sie trotzig zurück, trotzdem kann ich das schiefe Grinsen sehen, das sich um ihre Mundwinkel zieht.

„Klar, weiß ich doch“, erwidere ich und setze mich lachend für das ersehnte Abendessen an den Tisch.

***

Ich sehe nach rechts zu meiner Schwester, erkenne ihren abwechselnd schwankenden Ausdruck zwischen Konzentration und Enttäuschung und ich kann ihre Gefühle durchaus verstehen. Unsere Patrouille ist fast um und wir haben keinen einzigen Dämon aufspüren können. Die gesamte vergangene Woche tappen wir schon ohne jegliche Spur durch die Straßen und ich weiß, wie sehr solche Misserfolge an Drew nagen.

Ihr verbissener Blick durchsucht taktisch die Gegend und ich kann die Anspannung deutlich in ihrem Gesicht ablesen. Ich selbst wende mich nun auch unserer Umgebung zu, jedoch kann ich mich die letzten Minuten einfach nicht mehr konzentrieren. Nächte ohne dämonische Spuren zu entdecken, sind nicht selten, so wurde es uns zumindest in der Ausbildung gelehrt. Eigentlich auch recht logisch und gut, denn wenn wir jede Nacht dämonische Präsenzen wahrnehmen würden, dann wäre die Erde überwuchert mit Bösem. Ehrlich gesagt ist es mir so viel lieber. Meiner Schwester allerdings nicht. Nicht, dass sie sich mehr Dämonen wünscht, aber ich weiß, dass sie am liebsten alle gleich und auf einmal zur Strecke bringen würde. Daher auch ihr grenzenloser Ehrgeiz. Ich bewundere sie dafür, bin jedoch auch der Meinung, dass gerade dieser Ansporn ihr oft seelische Schmerzen bereitet. Das war schon in unserer Kindheit so. Ob nun in der Schule, bei Hausaufgaben und Test, oder im Sport-und Kampfunterricht, sie hat stets wie eine Wilde gearbeitet. Ich dagegen … Na ja. Ich will nicht behaupten, dass ich faul bin, dennoch muss ich auch immer etwas Spaß bei der Sache verspüren. Dann gehen einem die Dinge viel leichter von der Hand, oder etwa nicht? Deswegen ist wohl meine Schwester in Sachen Leistung um etliches, wenn nicht gar Welten, besser als ich, was mich allerdings nicht stört. Im Gegenteil: Ich bin richtig stolz auf sie. Das war ich immer. Wenn sie in der Schule Auszeichnungen bekommen hat, habe ich meist gestrahlt wie die aufgehende Sonne am Firmament, war aufgeregter als eine Horde Wikinger gewesen, und sie war völlig ruhig und gelassen geblieben, wirkte dadurch meist recht unbeteiligt. Selbst als sie die Ausbildung für die Anwärter als Jahrgangsbeste gemeistert hatte, hatte sie sich keine Gefühlsregung anmerken lassen. Zumindest fast. Denn ich konnte den kleinen Funken in ihren Augen sehen, der Erleichterung und Zufriedenheit ausgestrahlt hatte. Unsere Eltern sind bestimmt auch stolz auf sie. Da bin ich mir ganz sicher. Sie müssen es einfach sein.

„Hey, Joy, pass auf. Ich glaub, wir bekommen gleich Gesellschaft und zwar unangenehme!“

Die Stimme meiner Schwester reißt mich aus meinen Gedanken und ich blicke mich vorsichtig um. Tatsächlich werden wir aus verschiedenen dunklen Ecken beobachtet und ich habe das ungute Gefühl, dass Drew Recht behalten wird. Selbstsicher laufen wir weiter und geben uns unachtsam, als hätten wir sie nicht bemerkt. Doch die Meute lässt nicht lange auf sich warten.

„Wohin des Weges, Sisters?!“, ertönt eine höhnende Stimme mit gefährlichem Unterton und eine Frau Ende 30 tritt vor uns und versperrt uns mit verschränkten Armen den Weg. Von ihren schwarzen, schulterlangen Haaren fallen ein paar Strähnen wirr in ihr ovales Gesicht, das durch eine Narbe auf der rechten Wange entstellt zu sein scheint. Die zackige Form erinnert an eine fallende Sternschnuppe, die alle Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich zieht. Im gleichen Moment höre ich hinter uns Schritte. Langsam drehe ich mich etwas zur Seite und erkenne drei weitere Frauen im gleichen Alter und von gleicher, dünner Statur. Jede von ihnen hat einen Schlagstock in der Hand, den sie spielerisch und voller Vorfreude über ihre Hände gleiten lassen.

„Ich glaube kaum, dass euch unser Ziel ernsthaft interessiert“, entgegnet meine Schwester gelassen und lässt die Wortführerin der Gruppe nicht aus den Augen. „Warum kommen wir also nicht gleich zur Sache und ihr sagt uns, was ihr möchtet?“

Die Sternschnuppennarbe lacht amüsiert auf, funkelt meine Schwester aus zusammengekniffenen Augen an und stemmt ihre Hände in die dürren Hüften. Erst jetzt fällt mir auf, dass sie ziemlich durchtrainierte Arme hat, als ihre Muskeln sich provozierend durch die neue Pose hervordrücken. Kleine blaue Äderchen schlängeln sich auf der weißen Haut hervor wie kleine verstreute Flüsse.

„Soso, eine von der schnellen Sorte. Soll uns recht sein. Dann mal her mit eurer Kohle und eurem Schmuck!“

Mit einem breiten Grinsen mustert sie uns beide auffordernd. Ich tausche mit Drew flüchtige Blicke aus. Es bedarf keiner Worte, denn seit unserer Kindheit sind wir ein eingespieltes Team. Ich spanne meinen Körper an und mache mich bereit, da sich die Situation gleich zuspitzen wird. Meine Schwester bewegt sich langsam näher auf mich zu.

„Sehen wir aus, als würden wir groß Schmuck und Geld mit uns herumtragen? Da müssen wir euch schwer enttäuschen.“

Um uns herum ertönt ein grelles, bedrohliches Lachen und hüllt uns beunruhigend schnell ein wie eine gewichtige Wolldecke.

„Hey Mädels, wie’s aussieht sind uns ein paar ganz vorlaute Puten ins Netz gegangen. Wird Zeit, dass wir denen mal die arrogante Visage polieren! Auf geht’s!“, ruft die Anführerin der Frauengang ihren Mitgliederinnen zu und schwingt ihre Hand zum Zeichen des Starts. Sofort stürmen die drei anderen schreiend mit ihren Schlagstöcken uns entgegen. Dem ersten Schlag weiche ich aus und leite mit meinen Armen den wuchtigen Hieb auf die Seite ab. Bevor meine Angreiferin reagieren kann, versenke ich mein Knie mit voller Kraft in ihren Magen und meinen Ellenbogen unterhalb ihres Genicks. Die in Jeans gekleidete Frau gibt ein schmerzerfülltes Seufzen von sich, dann bricht sie ohnmächtig zusammen. Das Training hat sich wirklich gelohnt. Ich sehe hastig zu meiner Schwester, welche gerade ihre beiden bewusstlosen Angreiferinnen hart auf den Boden aufprallen lässt. Fast gleichzeitig drehen wir uns zu der Verbliebenen um, die plötzlich kreidebleich zu sein scheint. Mit zittrigen Schritten bewegt sie sich einen Meter zurück, den Blick nicht von uns abwendend, als wären wir wilde, unkontrollierbare und hungrige Bestien. In dem Augenblick sieht sie gar nicht mehr so stark und selbstsicher aus. Fast schon tut sie mir leid.

„Was ist? Entweder nimmst du die Beine in die Hand und zwar zackig oder du legst dich zu deinen Kameradinnen dazu!“, wendet Drew sich mit gereiztem Ton an die Anführerin des niedergestreckten Haufens. Die braucht keine zweite Aufforderung. Als hätte meine Schwester bei ihr einen Schalter umgelegt, dreht sie sich um und rennt, schneller als ich es ihr zugetraut habe, von uns davon, ohne sich noch ein einziges Mal umzudrehen. Lange blicken wir ihr hinterher, bis sie schließlich um die nächste Straßenecke verschwunden ist.

„Ist doch echt nicht zu fassen, wie viel Gesindel sich hier herumtreibt! Warum können die Menschen nicht einfach aus ihren Fehlern lernen! Wir sind doch keine Tiere, die nur von ihren Instinkten und Trieben beherrscht werden! Es kann doch nicht sein, dass nur noch das Gesetz des Stärkeren regiert!“, gibt meine Schwester entrüstet von sich und schnauft laut aus. Ich gehe auf sie zu und streiche ihr sanft eine Strähne aus ihrem erhitzten Gesicht.

„Auch dies wird sich wieder ändern, Drew. Da bin ich mir ganz sicher. Du brauchst nur etwas Geduld!“

Ich sehe, wie meine Schwester den Mund öffnet, um zu widersprechen, und lächle sie aufmunternd an. Tatsächlich bin ich von meinen Worten überzeugt. Drew mustert mich und ihre Gesichtszüge entspannen sich wieder. Sie schüttelt leicht den Kopf:

„Wahrscheinlich hast du recht. Hoffentlich.“

Fröhlich drücke ich ihr einen Kuss auf die Wange und ein Blick auf meine Uhr verrät mir, dass unsere Schicht für diese Nacht endgültig vorbei ist. Auch sie lässt ihre Augen auf ihre metallene Armbanduhr schweifen und nickt mir bestätigend zu.

„Es ist Zeit. Lass uns die kleine Kirche aufsuchen und dann nichts wie nach Hause. Irgendwie bin ich gerade richtig müde.“

„Ist ja auch kein Wunder, wenn du ständig am Arbeiten bist und sogar daheim auf Spurensuche gehst“, entgegne ich ihr und zwinkere ihr kurz zu.

„Jaha … ich weiß“, erwidert sie mit einem gespielten Augenrollen, knufft mich scherzhaft und ermahnend zugleich in die Seite, und hängt sich bei mir ein. Gemeinsam schlendern wir Arm in Arm zu der überschaubaren Kapelle, die einzige in der großen Stadt. Einst muss sie in aller Pracht erstrahlt haben. Mit großen Türmen, hinauf ragend in den Himmel, mit bunten Fenstern und vielen edlen Steinfiguren. Heute sind nur noch Überbleibsel der zerstörten Türme übrig, ehemalige Statuen lassen sich nur erahnen und die farbenfrohen Fenster sind zum größten Teil eingeschlagen und zersplittert. Die steinernen Mauern des einstmals prunkvollen Gotteshauses sind mit schändlichen Schmierereien besudelt und von außen sieht es fast aus wie jedes andere gewöhnliche Gebäude. Immer wieder lässt mich der trostlose Anblick aufseufzen.

Gedankenverloren greife ich nach der Türklinke, als mich meine Schwester gerade noch rechtzeitig zurückziehen kann, bevor ich die schwungvoll geöffnete Tür gegen das Gesicht bekomme. Überrascht blickt mir ein junger Mann aus großen, hellgrünen Augen entgegen.

„Ich … es tut mir leid. Haben Sie sich wehgetan?“, fragt er besorgt nach und ich komme nicht umhin, seine sanften Gesichtszüge zu bewundern. Verlegen fährt er sich durch sein mokkabraunes Haar, doch ich schüttle verneinend meinen Kopf, unfähig einen Ton von mir zu geben. Mein Kopf scheint wie leergefegt.

„Okay, tut mir wirklich leid. Schönen Abend noch!“

Ohne eine Antwort abzuwarten, sprintet er los in Richtung Innenstadt. Schweigend starren Drew und ich dem jungen Mann hinterher.

„Also ich bin jetzt ein bisschen baff“, unterbricht meine Schwester die Stille. „Das ist das erste Mal seit wir hier sind, wo ich jemanden aus der Kapelle herauskommen sehe und dann auch noch einen so jungen Kerl. Ich dachte immer, wir wären die Einzigen, die den Ort aufsuchen – du hast wohl doch recht: Es sind wohl nicht alle Menschen gleich.“

Mein Herz macht bei ihrer Aussage einen Sprung, denn ich kann ihr ansehen, dass sie es ernst meint. Freudig ergreife ich ihre Hand und ziehe sie hinter mir in die kleine mit Kerzen gefüllte Kapelle, um unser Gebet zu sprechen.