Im Licht des Mondes

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Kapitel 10

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Langsam stehe ich auf und strecke vorsichtig meine Glieder. Mit jeder Dehnung meiner ermatteten Muskeln merke ich, wie die Müdigkeit aus mir weicht und mein Verstand wieder klarer wird. Ein schönes Gefühl. Ich blicke nach links, wo Mick auf dem Rücken liegend schläft. Der Halbmond scheint hell durch das große Fenster und hüllt sein Schlafzimmer in schimmerndes Licht.

Leichtfüßig springe ich von seinem Bauch und bahne mir den Weg zu seinem Gesicht, welches er leicht nach rechts geneigt hat. Sein Brustkorb hebt und senkt sich langsam zum Takt einer lautlosen Melodie seines Atems. Seine Haut wirkt im Mondschein elfenblass und seine sanften Gesichtszüge geben ihm in diesem Moment etwas zerbrechlich Wirkendes. Sein Anblick beherbergt in diesem Augenblick etwas Magisches und ich muss schlucken. Mein Herz beginnt wieder schneller zu schlagen und ich schüttle sofort meinen Kopf und schließe meine Augen. Ich darf jetzt nicht schwach werden, nicht wieder nachgeben! Mein Entschluss steht fest: Mick muss sterben und genau das werde ich jetzt bewerkstelligen! Denn er verändert mein Verhalten ins Negative und verschlechtert meine Konzentration und Arbeit! Ich weiß zwar nicht, wie er das macht, doch ich darf es nicht weiter hinnehmen! Die Demütigung, die Erniedrigung, damit ist nun endgültig Schluss!

Entschlossen sehe auf sein friedliches Antlitz. Ich frage mich, was für eine Aura in ihm schlummert und schleiche näher, bis ich dicht vor ihm stehe. Ich hole noch einmal tief Luft und vertreibe den letzten Funken Nervosität. Dann konzentriere ich mich, bis ich den Schlag seines Herzens und den Rhythmus seines Atems deutlich hören kann. Gemächlich zeichnen sich die Konturen der Energien ab, die ihn umgeben. Strahlend hell, wie das Sternenlicht selbst, als wäre er vom Nachthimmel heruntergefallen. Ich kann mein Glück nicht fassen und verharre. Wie kann das sein? In seinem Alter … er hat eine ungewöhnlich weiße und reine Aura.

Abermals muss ich kurz schlucken und etwas tief in mir drin zögert. Woher kommen jetzt diese Zweifel? Ich sollte mich freuen, dass er eine so gute und kräftige Lebensenergie hat, denn die Anerkennung meines Herrn wird mir dadurch gewiss sein. Warum hadere ich mit meinem Entschluss? Er ist nichts weiter als ein nutzloser Mensch und verdient es nicht, hier auf der Erde zu wandeln! Nicht mehr und nicht weniger.

Ich schließe meine Augen und beuge mich nahe zu seinem geschlossenen Mund. Ein kleiner vorsichtiger Schubs mit meiner Nasenspitze an seine federweichen Lippen genügt, um sie zu öffnen. Ich hole tief Luft und spüre, wie sein Lebenshauch hochgezogen wird, genau in meine Richtung, um gefressen zu werden. Ein weiteres Mal atme ich tief ein und verliere mit einem Mal den Halt unter meinen Pfoten, als er sich ruckartig von mir weg und auf die Seite dreht. Benommen taumle ich zurück und knalle unsanft auf den harten Boden auf. Ich unterdrücke einen überraschten Aufschrei und bleibe bewegungslos am Fußboden liegen, während meine Seite schmerzhaft im pochenden Takt aufzuheulen beginnt. Mit weit aufgerissenen Augen schaue ich nach oben, doch keine weitere Bewegung folgt. Ich spitze meine Ohren, aber außer dem Klang meines aufgeregt trommelnden Herzens ist es still. Meine Gedanken wirbeln wild durcheinander und es dauert eine Weile, bis ich diese wieder unter Kontrolle habe. So etwas ist mir noch nie passiert. Wie konnte er das Ritual der Lebensübergabe einfach so unterbrechen? Sind meine Fähigkeiten schon dermaßen beeinflusst?

Verdattert rapple ich mich auf. Das kann ich unmöglich hinnehmen! Noch nie habe ich eine Niederlage einstecken müssen und heute soll nicht das erste Mal werden! Fast geräuschlos bewege ich mich auf und verharre eine Minute. Als ich mir sicher bin, dass er immer noch schläft, springe ich elegant auf das Bett, direkt vor seinen Oberkörper. Seine Miene ist unverändert sorglos, als wäre sie von einem Künstler gemalt worden. Seine linke Hand hat er unter das Kopfkissen vergraben, während die rechte Hand sich in die Bettdecke gekrallt hat, als wolle er sich an ihr festhalten, um nicht zu fallen. Bei dem Anblick muss ich schmunzeln. Irgendwie niedlich …

Ich schüttle energisch meinen Kopf. Ich darf mein Ziel nicht aus den Augen verlieren. So flink wie möglich schleiche ich über die Decke, um wieder zu seinem Gesicht zu gelangen. Doch kurz bevor ich mein Ziel erreiche, zieht Mick ruckartig an seiner Bettdecke und noch ehe ich realisiere, wie mir geschieht, pralle ich ein zweites Mal hart auf den Boden auf. Nun auf meine rechte Seite, die abwechselnd mit meiner linken schmerzend um die Wette pocht. Ein qualvolles Stöhnen entfleucht meinen Lippen und innerlich verfluche ich die gesamte Menschheit und mein eigenes Unglück. Wieso muss das jetzt passieren? Entnervt verdrehe ich meine Augen und bleibe für ein paar Sekunden liegen, bis das Dröhnen in meinem Inneren etwas abflaut. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass heute nicht meine Nacht ist. Mein Blick wandert durch sein Zimmer und bleibt am Fenster hängen, durch das der Mond mit seiner Gefolgschaft hereinblickt. Ein stummer Zeuge meiner bisher missglückten Tat. Abermals spitze ich meine Ohren, nur um festzustellen, dass er auch jetzt seelenruhig weiterschläft. Ich seufze auf und richte meinen schweren und brennenden Körper wieder auf. Erneut springe ich auf das Bett, diesmal am Fußende, und schlängle mir meinen Weg an das andere Ende. Der dritte Versuch muss einfach funktionieren! Sonst fange ich wirklich an, an meinem Verstand zu zweifeln. Unsicher trete ich an ihn heran und beuge mich zu ihm runter, sodass unsere Gesichter sich fast berühren. Ich zähle langsam bis drei, dann schließe ich meine Augen und öffne meinen Mund, um mein Werk neu zu beginnen und zu vollenden.

„Hatschi!“

Erschrocken fahre ich ein paar Schritte zurück, als Mick zusammenzuckt, was sich als dummer Fehler herausstellt. Ich bin näher an der Kante als ich gedacht habe und wetze meine Krallen verzweifelt im Kampf um das Gleichgewicht in die Matratze. Doch zu spät. Ich spüre die Luft um mich herum sausen und pralle ein drittes Mal ungeschickt auf den Boden auf – direkt auf meinen Hintern. Ich fluche leise und verzweifelt vor mich hin. Das darf doch jetzt nicht wahr sein! Wie viel Glück hat der Kerl eigentlich? Wieso kann ich mir nicht einfach sein Leben wie bei jedem anderen Menschen auch nehmen und dann von hier verschwinden? Wie oft muss ich noch auf meinen Hintern fallen? Als ich höre, wie er sich im Bett räkelt, halte ich den Atem an. Sekunden ziehen sich wie Kaugummi, während ich reglos auf dem Boden sitze und warte.

„Verlauf dich nicht in deinen Träumen“, murmelt er im Halbschlaf vor sich hin, dann ist er sofort wieder eingeschlummert. Skeptisch ziehe ich eine Augenbraue in die Höhe. Was soll das denn bedeuten? Schlagartig drängen sich meine letzten und immer wiederkehrenden Träume der vergangenen Nächte in mein Gedächtnis. Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Soll das etwa bedeuten, dass ich in meinen Träumen zu ihm finden soll? Ich schüttle meinen Kopf. Meine Gedanken sind purer Unsinn. Er weiß doch gar nicht, was er da vor sich hin brabbelt! Immerhin waren diese zusammenhangslosen Worte im Halbschlaf geflüstert. Sie können also gar keinen tieferen Sinn ergeben …

Wütend über mich selbst richte ich mich auf. Noch nie in meinem Leben habe ich so versagt. Ich nehme leicht Anlauf und springe nochmals auf das breite Bett und beiße mir leicht auf die Lippen, als ein stechender Schmerz sowohl beim Absprung, als auch beim Aufkommen auf der weichen Matratze, meinen angespannten Körper durchfährt wie ein Stromschlag. Das wird richtig blaue Flecken geben, von meinen schmerzenden Gliedern mal ganz abgesehen, und das alles wegen ihm!

Ich blicke auf sein schlafendes Gesicht. Eine Träne fließt über seine Wange und perlt schließlich auf den hellblauen Bettbezug auf, wo sie geräuschlos versickert. Nur ein kleiner dunkler Fleck verrät ihre Spur, doch schon bald wird auch diese getrocknet und verschwunden sein. Als ich auf diese Stelle sehe, überfällt mich eine grenzenlose Wut. Doch nicht über den erbärmlichen Menschen, sondern über mich selbst. Ich bin nicht einmal in der Lage, einem schlafenden jungen Mann das Leben auszuhauchen! Wie armselig, wie beschämend. Noch nie habe ich mich selbst so gehasst wie in diesem Moment. Je länger ich ihn anstarre, desto größer werden das Gefühl und meine Selbstzweifel. Ich schnaufe verächtlich aus. Glückwunsch! Deine Lebensspanne ist soeben gestiegen!

Deprimiert wende ich mich von ihm ab und springe vom Bett. Ich kann nicht fassen, dass mein Vorhaben so ausgeht, doch ich bin momentan nicht in der Lage, meine Arbeit an ihm auszuführen. Meine erste Niederlage in all den Jahren …

Langsam humple ich aus dem Schlafraum zurück in das Wohnzimmer. Seit wann bin ich derartig schwach geworden? Ich war doch nicht immer so? Wann ist diese Wandlung eingetreten? Wieso habe ich nichts davon mitbekommen? Diese Schwäche wird hoffentlich wieder verschwinden. Sie muss einfach verschwinden! Verbittert beiße ich mir auf meine Unterlippe, während ich das offene Fenster ansteuere. Genervt verziehe ich mein Gesicht, als ich registriere, dass es zu regnen begonnen hat. Dies wird eine verdammt lange Nacht werden, denn ich habe noch kein einziges Leben gesammelt und ohne Erfolge kann ich unmöglich in meine Welt zurückkehren. Ich passiere die als Tisch fungierende Kiste und streife mit meinem Schwanz die darauf liegenden Unterlagen, wodurch ein Blatt locker herunterfällt, direkt neben mich. Frustriert bleibe ich stehen und wende mich schließlich den Notizen zu. Auf ein paar Minuten mehr oder weniger kommt es jetzt auch nicht mehr an. Micks geschwungene Handschrift ziert das Blatt und ich lasse meine Augen darüber schweifen.

Der Hoffnungsschimmer

 

Eiseskälte weht durch die verschmutzten Gassen,

diese Stadt scheint von allem Guten verlassen.

Egal wohin ich seh, egal wohin ich auch geh,

überall tun sie sich gegenseitig weh.

Hauen sich einander ihre Schädel ein

Schrecken nicht zurück vor groß oder klein.

Niemand ist in dieser Stadt noch sicher

Jeder ist sein eigener Vollstrecker und Richter.

Wer nicht schnell genug ist, wird niedergemacht.

Wer nicht stark genug ist, wird ausgelacht.

Was ist aus dieser Stadt nur geworden?

Ich fühle mich, als sei alles verloren.

Tränen laufen über meine Wangen,

ich bin in meiner eigenen Gefühlswelt gefangen.

Fühle mich falsch an diesem Ort.

Möchte eigentlich nur noch fort.

Heraus aus der nicht enden wollenden Dunkelheit

Die mich zu verschlingen droht von Zeit zu Zeit.

Doch je mehr Tage und Nächte verstreichen,

desto mehr spüre ich ein Teil von mir entweichen.

Tränen füllen und spülen meine Augen,

es fällt mir schwer an das Gute zu glauben.

Doch tief in mir drin, fest verborgen,

ist ein Funke Hoffnung noch nicht verloren.

Der Hoffnungsschimmer trägt deinen Namen

Auch wenn ich diesen noch nicht kann erahnen.

So will ich dich suchen und auf dich warten

Und in dieser grausamen Stadt verharren.

Ich bin voller Zuversicht, du tust es auch

Und hoffe, dass du mich genauso brauchst.

Zusammen werden wir die Gefahren bestehen

Und gemeinsam in die Zukunft gehen.

Die Freude auf dich, ist riesengroß.

Wenn ich dich finde, lass ich dich nie mehr los.

Will dir alles, was ich habe, schenken

Und mich nie mehr von dir wenden.

Deswegen bitte ich dich, gib nicht auf

Egal wo du bist, vertraue darauf,

Lass dich von der Hoffnung leiten

Und dich in meine Arme treiben.

Regungslos stehe ich da und starre auf das handgeschriebene Gedicht. Mein Verstand scheint wie leergefegt und ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Mein ganzer Körper zittert leicht und mir fröstelt. Mein Herz tanzt wie wild durch meinen Brustkorb, ohne einen richtigen Takt zu finden. Unverändert stiere ich auf das Blatt und lasse meine Augen immer wieder über die einzelnen Zeilen gleiten. Ein ungekanntes Gefühl der Sehnsucht macht sich in mir breit wie eine unaufhaltsame Krankheit. Mir wird flau im Magen und ich muss leicht würgen. Als draußen ein lautloser Blitz die trostlose Nacht erhellt, kann ich mich aus meiner Paralyse reißen und ich komme langsam wieder zu Sinnen. Sichtlich verwirrt sehe ich mich um. Ich begreife einfach nicht, was mit mir geschieht.

Mit wankenden Pfoten laufe ich zum Fenster und meine Schritte werden immer schneller. Ich muss hier raus, einfach nur noch weg! Alles hinter mich lassen. Die Wohnung, das Gedicht und vor allen Dingen diesen ahnungslosen Menschen …

Kapitel 11

Mick:

„Hey, kommst du? Mach hinne, nicht schon wieder Überstunden ackern, Junge!“, ruft mir Thomas spaßig, jedoch mit ermahnendem Unterton zu. Ein missmutiges Grinsen huscht über mein Gesicht. Ich ziehe noch schnell die Schrauben fest, dann räume auch ich mein Werkzeug auf die Seite.

„Keine Sorge, ich bin gleich soweit!“

„Gut, aber dalli, dalli! Wir sind schon in der Dusche!“

Ich höre, wie er die Tür zur Umkleidekabine schließt, und seufze auf. Obwohl ich damit gerechnet habe, dass der Kater heute Morgen nicht mehr da sein wird, trifft mich die Tatsache dennoch ziemlich tief. Ich weiß, wie kindisch das Ganze ist, doch meine Gefühle kann ich nicht ändern. Der Gedanke, dass er jeden Tag vorbeikommen würde und – ich schüttle schnell meinen Kopf. So einsam kann ich doch gar nicht sein, dass ich mich verzweifelt an eine streunende Katze klammere, oder etwa doch?

Diesen neu eingeschlichenen Charakterzug muss ich ganz schnell wieder loswerden, denn damit tue ich mir keinen Gefallen. Habe ich in all den Jahren nichts gelernt? Sich ab und an allein zu fühlen, ist ja schließlich nichts, was einen umbringt oder dauerhaft schädigt. Da haben andere schon größere Probleme und Sorgen. Also kein Grund, den Kopf hängen zu lassen. Schnell klappe ich meinen Werkzeugkasten zu und verstaue diesen in meinem ausgebeulten Schließfach. Vielleicht tut mir dieser Abend mit meinen Kollegen ganz gut. Ich habe zwar nicht sonderlich Lust, mich bei ihrer Kneipentour dazuzugesellen, allerdings kann etwas Abwechslung aus dem Alltagstrott nicht schaden. Außerdem tragen solche Abende dazu bei, das Betriebsklima und den Zusammenhalt zu fördern.

Ich krame meine Kleider aus dem Spint und begebe mich schließlich zu meinen Kollegen in den Umkleidebereich, der für uns sieben Mann viel zu eng ist. Eilig streife ich mir meine schmutzigen Arbeitsklamotten hinunter und lasse diese erst einmal an Ort und Stelle liegen. Ich hasse es, hier zu duschen, und meide es, so oft ich kann.

„Hey Mick! Jetzt musst du dich aber ranhalten, wir sind schon fast fertig!“

Ich verziehe meine Mundwinkel zu einem Lächeln und verschwinde mit einem ‚Geht klar‘ in den kleinen Duschraum, der insgesamt drei Duschköpfe beherbergt. Die Luft ist unangenehm feuchtkalt und ich stelle mich schnell unter eine Dusche und drücke gefühlte Stunden auf den klemmenden Knopf, bis endlich mit einem lauten Brummen das frostige Wasser auf mich niederprasselt wie ein kleiner, harter Regenschauer. Automatisch zuckt mein Körper im ersten Moment zusammen, bis er sich an die Temperatur gewöhnt hat, dann beginne ich hastig den hartnäckigen Dreck von meiner Haut zu schrubben, die sich schmerzlich rötet. Ungeachtet dessen reibe ich weiter, bis die Arbeitsspuren verschwunden sind und wasche im Schnellverfahren meine Haare. Die anderen haben die Kabine schon verlassen.

Behände schnappe ich mir mein Handtuch und eile – noch während ich mich notdürftig abtrockne – zurück in den Umkleideraum. Nur noch Jürgen sitzt dort auf der wackeligen Holzbank und bindet sich gerade seine Schuhe zu.

„Das ging jetzt aber fix. Die anderen sind schon draußen“, äußert er sich kurz und widmet sich dann wieder seinen Schnürsenkeln. Indessen streife ich mir in Rekordzeit meine Wechselklamotten über und frisiere meine nassen Haare. Ohne zu warten oder noch etwas zu sagen, verlässt Jürgen den Raum und ich sehe ihm kurz nach. Ich kann mir schon denken, wie dieser Abend verlaufen wird, doch vielleicht bin ich ja auch einfach nur ein Pessimist, der vom Gegenteil überzeugt werden möchte. Flink ziehe ich meine Schuhe an und springe nach draußen. Der Männerabend kann beginnen.

***

„Hey, seht ihr die Schnalle da hinten? Die ist auch top, zumindest ihre Glocken!“

Zustimmendes Gelächter bricht am Tisch aus, doch ich kann nur ein gezwungenes Lächeln zustande bringen. Dieses Gerede über das andere Geschlecht, als würde es sich hierbei um Schlachtvieh auf dem Markt handeln, mochte ich noch nie. Das Begaffen und Angraben im Konkurrenzkampf, nur um zu sehen, wer welche und wie viele rumbekommt … nein danke. Ich weiß nicht, ob bei mir schlichtweg etwas schiefgelaufen ist, denn immerhin scheinen es alle so zu machen. Mit mir muss also folglich was nicht stimmen. Ich seufze lautlos auf und versuche, meine Konzentration auf die belanglosen Gespräche meiner Arbeitskollegen zu bündeln. Was ich jetzt alles machen könnte, wenn ich nicht hier sitzen würde ...

„Seht ihr die Blonde da hinten? Die steht total auf mich! Ich sag euch, die leg ich heut noch flach! Jede Wette!“

„Niemals, Junge! Guck doch, die lächelt mich an!“

„Quatsch, die zwinkert mir doch schon die ganze Zeit über zu!“

„Junge, bild dir doch nichts ein! Die steht auf richtige Männer!“

„Ich wette mit dir um nen Fuffi, dass ich die heute Nacht noch knalle!“

„Haha! Hört euch das an! Robert wird heute pleite! Also gut. Versuch dein Glück, die Wette gilt, ich bin dabei!“

Mit Feuereifer werden nun Wetten abgeschlossen. Keine Ahnung, für wen oder was ich genau wetten soll, allerdings erledigt sich die Frage von selbst, denn ich werde erst gar nicht gefragt. Gelangweilt nippe ich an meiner Cola, sehe mich in der verrauchten Kneipe um und versuche dabei, nicht allzu desinteressiert zu wirken. Irgendwie ist es ständig dasselbe. Ein Grund dafür, dass ich mich gerne vor solchen Abenden drücke. Vielleicht ist der Altersunterschied zu hoch? Immerhin sind meine Kollegen alle über dreißig und ich habe die zwanzig noch nicht erreicht.

Mein Blick schweift über die poröse, rauchig graue Betonmauer, über die zahlreich überfüllten Tische in der kleinen Lokalität, auf denen sich Bierflaschen und Whiskeygläser stapeln. Überall das gleiche Bild: unzählige Männer gemischter Altersklassen, die massenweise Alkohol in sich rein schütten und sich am Anblick der halbnackten Frauen an der Theke erfreuen, die sich mit hungrigen Blicken in der besoffenen Männerhorde umsehen. Augenpaare suchen und finden sich. Neugefundene Paare tauschen flüchtige, nichtssagende Worte miteinander aus, begrapschen sich prüfend gegenseitig, um dann für ganze fünf Minuten auf den besudelten Toiletten, im Auto oder um die nächsten Straßenecken zu verschwinden. Manche kommen mit einem dämlich grinsenden Gesichtsausdruck wieder in die vernebelte Kneipe, andere sind vorerst gesättigt und besuchen den Ort erst in ein paar Tagen wieder. Ein ständiger Kreislauf zur Befriedigung der Instinkte. Absolut nicht meine Welt. Ich fühle mich völlig fehl am Platz. Wo bleibt die Romantik, die Liebe?

Während das immer gleiche Schauspiel seinen Lauf nimmt, sehe ich zu, wie mein angetrunkener Kollege forsch und selbstsicher zum Objekt der Wette marschiert. Ich höre den Rest meiner Arbeitskollegen hämisch lachen und nippe nochmals an meiner Cola, als ich in die Seite angestoßen werde. Jürgen sieht missbilligend auf mein Getränk und schüttelt verneinend den Kopf. Ich kann mir denken, was jetzt kommt, und meine Befürchtungen werden sogleich bestätigt.

„Micky, das kann jetzt nicht dein Ernst sein, oder? Was säufst du denn da die ganze Zeit? Du brauchst was Richtiges! Was für Männer und nicht so ein Pussygetränk!“

Schnell schiebe ich mein Glas in Sicherheit und lächle ihn gespielt und seelenruhig an.

„Später vielleicht. Für den Anfang soll das erst einmal reichen.“

Jürgen verdreht genervt die Augen und holt mit seinen Händen zu einer theatralischen Gestik aus.

„So wird das nie was, Junge. Schau dir doch mal all die heißen Bräute an! Die wollen einen richtigen Kerl! Mit ner Cola kommst du da nicht weit!“

Ich grinse leicht und zeige in Roberts Richtung, der von der Blondine im knappen Outfit gerade eine schallende Ohrfeige erntet.

„Scheint so, als hätte das bei ihm nicht gerade geholfen!“

Meine Kollegen brechen in schallendes Gelächter aus und Robert schlängelt sich seinen Weg durch die angeheiterte Menschenmasse zurück an unseren Tisch. Die gesamte Aufmerksamkeit richtet sich nun wieder auf ihn, doch schon nach kurzen Wortfetzen kann ich gedanklich dem stupiden Gespräch nicht mehr folgen. Zu niedrig ist meine Konzentration, zu tief meine Lustlosigkeit an dem heutigen Abend. Teilnahmslos sitze ich am Tisch und beobachte das rotierende Trauerspiel der verschiedenen Leute, die sich alle schon längst aufgegeben zu haben scheinen.

***

Meine Augen brennen von dem Zigarettenqualm, der sich in der ganzen Kneipe breitgemacht hat und diese einhüllt wie eine zweite Haut. Selbst die taumelnden Körper sind nur noch unscharf wahrzunehmen und es fällt mir schwer, einen Hustenreiz zu unterdrücken. Ich bin der Einzige, dem es so geht. Wahrscheinlich hilft der Alkohol über die Situation hinweg oder tötet die Sinne Stück für Stück ab. Vielleicht hätte ich doch etwas Alkoholisches trinken sollen.

Ich reibe mir kurz meine juckenden Augen und werfe einen Blick auf meine Armbanduhr. Fast 22 Uhr. So langsam kann ich mich davonmachen. Ich habe es lange genug ausgehalten und meine Pflicht somit erfüllt. Meine Kollegen haben ihren Alkoholpegel schon längst überschritten und nehmen mich ohnehin nicht mehr wahr. Es macht also keinen Unterschied, ob ich bleibe oder gehe.

Ich leere hastig mein Glas und muss husten, als ich mich verschlucke. Da meine Arbeitskollegen momentan zu sehr mit Flirten und Prahlen beschäftigt sind, beschließe ich, sie dabei nicht zu stören und mich ohne Verabschiedung zu entfernen. Ich weiß, dass sie mir das nicht krummnehmen werden. So war es bisher immer gewesen. Denn auch wenn ich mich damals unzählige Male verabschiedet habe, am nächsten Tag wusste davon sowieso keiner mehr etwas.

 

Entschlossen stehe ich auf, schnappe mir meine Jacke und Umhängetasche. Dann bahne ich mir vorsichtig meinen Weg durch die taumelnde und grölende Masse in Richtung Ausgang, der in diesem Augenblick so verlockend zu sein scheint wie das himmlische Tor zum Paradies. Geduldig schiebe ich achtsam die Leute auf die Seite, obwohl alles in mir schreit, einfach nur so schnell wie möglich aus dieser Räucherkammer zu entkommen. Dabei achte ich sorgfältig darauf, besonders den Frauen nicht in die Augen zu schauen, da ich keine falschen Signale aussenden möchte. Ich habe die Tür fast erreicht, als sich plötzlich eine Blondine im roten Minikleid, das gerade mal das Nötigste verdeckt, vor mich stellt und den Ausgang versperrt. Ihre rotgeschminkten Lippen lächeln mich verschmitzt und etwas schmollend zugleich an und ihre grasgrünen Augen mustern mich von oben bis unten wie einen Gratishappen. Ich kann mir nicht helfen, aber irgendwie kommt sie mir bekannt vor.

„Entschuldigung, kennen wir uns irgendwoher?“, frage ich etwas unbeholfen und könnte mir im selben Moment in den Hintern treten, als mir klar wird, dass meine Frage wie ein einfallsloser Anmachspruch klingt. Ihre großen Lippen verziehen sich gespielt böse und sie fährt sich mit einer Hand durch ihr gewelltes, hüftlanges Haar, wobei mein Blick unweigerlich auf ihren übertriebenen Ausschnitt und auf ihre üppigen Brüste fällt. Peinlich berührt starre ich zur Seite, doch sie dreht mein Gesicht mit ihrer rechten Hand zu sich, sodass ich sie ansehen muss.

„Na hör mal. Da versuche ich, dich den ganzen Abend zu betören, und du würdigst mich nicht mal eines Blickes! Stattdessen kommen deine dämlichen Kameraden und labern mich plump von der Seite an! Und jetzt kannst du dich nicht einmal erinnern, wer ich bin? Ich bin wirklich entsetzt! Dabei habe ich mir so viel Mühe gegeben und das tu ich echt nicht für jeden! Das kannst du mir glauben.“

Sie zwinkert mir verführerisch zu, um dann gleich darauf eine gekünstelte Unschuldsmiene aufzusetzen. Jetzt wird mir auch bewusst, woher ich sie kenne: die Frau mit der schallenden Ohrfeige für Robert. Ein leichtes Grinsen huscht bei der Erinnerung über mein Gesicht.

„Tut mir leid. Heute ist nicht so ganz mein Tag …“

„Aber er könnte es werden.“

Sie tritt auf mich zu, so nahe, dass uns nur noch ein paar Zentimeter trennen, und fährt mir spielerisch mit ihrem Zeigefinger über meinen Oberkörper zu meinem Hosenbund. Mir wird flau im Magen. Wie bringe ich das jetzt, ohne sie zu beleidigen, über die Bühne? Vorsichtig aber bestimmend hebe ich ihre Hand fest und schiebe sie leicht von mir.

„Es tut mir leid, aber ich schätze, daraus wird nichts. Seien Sie bitte nicht sauer, Sie sind eine sehr attraktive Frau, allerdings … ich, ähm …“

„Süßer, ich heiße Jessy. Du musst mich also nicht siezen, immerhin trennen uns höchstens fünf Jahre, die ich älter bin als du.“

Sie grinst mir amüsiert entgegen und kommt mir gefährlich nahe, wobei ihre Hände nach meinen greifen. Durch ihre Absatzschuhe ist sie fast so groß wie ich selbst und sie braucht sich nicht zu strecken, als sie ihre Stirn an meine lehnt und flüstert: „Du bist wohl einer von der schüchternen Sorte. Die trifft man nicht oft und vertrau mir, Süßer, du hast überhaupt keinen Grund so zurückhaltend zu sein!“

Sie beißt mir verspielt in die Lippen und ihre linke Hand wandert auf meinen Hintern, wo sie herzhaft hineinzwickt. Ich zucke automatisch zusammen und schiebe sie nun etwas unsanfter als beabsichtigt von mir. Ihre Gesichtszüge scheinen im ersten Moment zu entgleisen, dann fasst sie sich wieder und schaut mich auffordernd an.

„Das hat damit nichts zu tun. Ich bin nicht der, den Sie … den du suchst. Sorry, aber eigentlich hättest du das schon merken müssen, als ich deine Blicke vorhin nicht erwidert habe“, gebe ich etwas schroff zurück, doch meine Geduld ist nun wirklich aufgebraucht. Ihre Miene verfinstert sich.

„Oh nein. Sag jetzt bloß nicht, dass du einer von denen bist?“

Irritiert blicke ich die Blondine an, doch noch bevor ich nachhaken muss, ergänzt sie von selbst: „Na ein Schwuli! Einer vom anderen Ufer! Verdammt, warum muss immer ich Pech haben? Das ist so ungerecht!“

Sie blickt mich weiterhin an, als erwarte sie, dass ich ihr widerspreche. Ich atme einmal tief durch, ehe ich ihr so selbstverständlich wie möglich antworte.

„Doch, ich steh auf Kerle. Da kann man nichts machen. Schönen Abend noch!“

Noch als ich mich hastig an ihr vorbeischlängle, sehe ich, wie ihre Kinnlade entsetzt nach unten klappt und sie mir mit weit aufgerissenen Augen ungläubig nachschaut.

Geschafft! Ich atme die frische Nachtluft ein, die mir in diesem Moment vorkommt wie die pure Erlösung selbst und blicke erleichtert in den sternenbehangenen Himmel, der mich leuchtend willkommen heißt. Erleichtert strecke ich meine vor Müdigkeit fast tauben Glieder, ein angenehmes Prickeln durchzieht meinen Körper. Dann mache ich mich auf den Weg zur nächsten Straßenbahnhaltestelle. Beim Gedanken an die eben erlebte Szene mit dieser Jessy kann ich nur den Kopf schütteln. Wie können sich Frauen nur so billig hergeben und sich selbst zu Lustobjekten herabstufen? Ich muss zugeben, dass mich ihre Anmache nicht ganz kalt gelassen hat, zumindest schien mein Körper es gar nicht mal schlecht zu finden, aber es geht einfach gegen meine Prinzipien. Abgesehen davon stehe ich nicht auf Frauen mit üppigen Brüsten und losem Mundwerk.

Ganz ehrlich war ich ja nicht gewesen, trotzdem habe ich auch nicht gelogen. Immerhin kann ich nicht leugnen, dass ich gegenüber Männern nicht abgeneigt bin, obwohl meine Erfahrungen in der Richtung recht spärlich sind. Mein Liebesleben sieht überhaupt seit einem Jahr ziemlich dürftig aus. Sicher, schnelle Nummern für eine Nacht gibt es etliche und auch ich habe es ein paarmal versucht, doch hinterher habe ich mich immer leerer gefühlt als vorher. Ausgelaugt. Orientierungslos. Unzufrieden.

Dann bleibe ich lieber allein. Es wird besser so sein. Alles, was geschieht, hat seinen Grund. Zumindest habe ich mir das bisher immer eingeredet.

Nachdenklich gehe ich durch die recht belebten Straßen bis zur Haltestelle. Ein Blick genügt, um zu sehen, dass ich die Bahn vor ein paar Minuten verpasst habe. Die nächste fährt erst in einer knappen Stunde wieder.

„Tja … das ist etwas lang“, murmle ich gähnend vor mir hin und sehe mich nach einem geeigneten Café um, was sich um diese Zeit als recht schwierig erweist. Am Marktplatz werde ich wohl die meiste Auswahl haben und Zeit habe ich ja zur Genüge. Ich schlendere gemütlich die kaputte Straße entlang und werfe ab und an einen Blick in die schlichten Schaufenster, immer meine Umgebung im Auge behaltend. Eine Gruppe von ungefähr sieben Männern fällt mir direkt auf, da sie sich in einer dunklen Ecke schlagartig sammeln und das Unheil liegt förmlich in der Luft. Einer der bunt gemischten Bande mit einer Glatze, die im Licht der matten Laternen schimmert als wäre sie poliert starrt die ganze Zeit wie fixiert nach rechts. Ich folge seinem Blick und erkenne, dass sie es höchstwahrscheinlich auf zwei junge Frauen abgesehen haben, die gerade den Fehler begehen und in eine Seitengasse einbiegen. Die Männergruppe setzt sich sofort mit großen Schritten in Bewegung, den beiden Opfern hinterher.