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Weil Schottlands Herz für die Freiheit schlägt

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Weil Schottlands Herz für die Freiheit schlägt
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Bettina Reiter

Weil Schottlands Herz für die Freiheit schlägt

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort

Geschichtlicher Hintergrund:

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

Impressum neobooks

Vorwort

© Copyright der Neufassung 2017 Bettina Reiter

Lektorat/Titel: Edwin Sametz

Titelbilder: Fotolia

© korionov/Fotolia.com, © gdvcom/Fotolia.com und © arhar/Fotolia.com

Titelbildgestaltung: © Bettina Reiter

Website der Autorin: www.bettinareiter.at

Alle Rechte liegen bei der Autorin.

Sämtliche Texte sowie das Cover sind urheberrechtlich geschützt.

Eine Nutzung in jeglicher Form (Fotokopie, Mikrofilm, Verbreitung, Textauszug, Vervielfältigung oder anderes)

ist ohne die schriftliche Genehmigung des Rechteinhabers/Urhebers nicht zulässig und daher strafbar!

Liebe Leserinnen und Leser,

nachfolgend möchte ich Ihnen gerne meinen Roman vorstellen,

insbesondere Jodie Wallace und viele andere, die in meinem Buch mitspielen.

Dazu müssen wir aber nach Schottland ins 13. Jahrhundert reisen,

denn da beginnt Jodies Geschichte …

Ich habe den Mut zu glauben,

den Mut zu kämpfen,

aber vor allem habe ich den Mut zu sterben.“

Geschichtlicher Hintergrund:

Kampf um die Freiheit - Schottland gegen England

Im Jahr 1286 verunglückt König Alexander III. von Schottland. Da seinem Tod auch jener seiner Söhne vorausgegangen ist, gibt es keinen Nachfolger - nur seine dreijährige Enkelin, die ebenfalls verstirbt. Deshalb entbrennt ein Streit um die rechtmäßige Thronfolge und es gibt viele Anwärter. Unter ihnen Robert the Bruce und John Comyn III. - doch durch die Uneinigkeit im Land droht ein Bürgerkrieg. Um ihn abzuwenden, wird König Edward I. von England - auch bekannt als „Hammer der Schotten” und „Longshanks” (´Langbeinˋ, da er für damalige Zeiten eine stattliche Größe hatte) - mit der Schlichtung des Problems betraut. Dieser begrüßt die günstige Gelegenheit, um seine Macht auszuweiten, und spricht sich unter dem Aspekt der Erbfolge für John Balliol als König aus - der schlussendlich den Thron besteigt.

König Edward I. glaubt mit Balliol einen Verbündeten zu haben, da er ihn protegiert hat. Als der englische König jedoch einen Krieg gegen Frankreich anzettelt, verlangt er vom schottischen König Unterstützung. Diese Forderung ist u. a. der Auftakt zum Unabhängigkeitskrieg zwischen Schottland und England. Ein harter Kampf, bei dem insbesondere William Wallace und Andrew de Moray zu König Edwards I. größten Feinden werden. Aber auch Robert the Bruce spielt im Kampf um Schottlands Freiheit eine wesentliche Rolle.

Prolog

Elderslie, 11. September 1284

„Das Leben eurer Brut“, brüllte George von Mar, „oder deine Frau wird mir zu Willen sein, Wallace. Es ist deine Entscheidung.“

Margarete zitterte am ganzen Leib. Fünf Männer standen ihr mit brennenden Fackeln gegenüber und taxierten ihren Körper mit glasigen Augen. „Kriecht in die Hölle zurück, aus der ihr gekommen seid! Allesamt“, stieß sie wutentbrannt aus. „Besonders du, George!“

Grinsend trat der verhasste Mann einen Schritt auf sie zu. Die Hitze der Fackel brannte in Margaretes Gesicht, doch das war nichts gegen die Abscheu, die seine Gegenwart in ihr hervorrief. „Seit wann so kratzbürstig?“, säuselte er mit alkoholgeschwängertem Atem. „Früher warst du entgegenkommender - oder besser gesagt - Wachs in meinen erfahrenen Händen. Erinnerst du dich? Damals, als du noch Margarete de Crauford genannt wurdest.“

„Wag es ja nicht, meine Frau anzurühren!“ Drohend hob Margaretes Mann die Faust. „Du Schwein hast ihr schon genug angetan.“

„Angetan?“, wiederholte George und lachte dreckig. „Ach Alan, siehst du nicht, dass sie sich geradezu nach mir verzehrt?“ Das Knistern der Fackel verstärkte die bedrohliche Situation. Angstvoll blickte Margarete zum Haus. Hinter den Fenstern war es dunkel. Lediglich aus der weit offenen Eingangstür fiel schwaches Licht heraus. Bitte, lieber Gott, lass meine Kinder schlafen, flehte sie innerlich. „Aber langsam reißt mir die Geduld“, wurde George ungehalten. „Ich muss nicht betteln. Wir sind in der Überzahl und in Zeiten wie diesen fragt niemand danach, weshalb euer Haus niedergebrannt wurde, warum eure Kinder an Stricken baumeln und ihr wie Vieh aufgeschlitzt darunter liegt.“

„Komm schon, George“, wandte sein Busenfreund Patrick the Bruce ein. „Die Hure ist das Gerede nicht wert. Erledigen wir die Sache und verschwinden. Mitternacht ist längst vorbei. Also, worauf wartest du?“

„Darauf, dass meine offene Rechnung beglichen wird. Wallace hat mir etwas gestohlen“, wetterte George. Alarmiert starrte Margarete auf das Licht, das plötzlich hinter Jodies Zimmerfenster aufflammte. Ihr Zittern verstärkte sich. „Ich will dich nicht zurück, Margarete“, sprach George weiter, „selbst wenn du darum betteln würdest. Aber wenn ich mit dir fertig bin, wird dich dein Mann nie wieder berühren können, ohne dass du dabei an mich denkst.“

„Dann tu, wonach dir ist!“, rief Margarete panisch aus, weil sie Jodies kleine Gestalt die Treppe vom ersten Stock herunterkommen sah. „Aber nicht hier.“

„Margarete!“ Alan erstarrte. „Das ist nicht dein Ernst.“

Weinend deutete sie zur Pforte, wo jetzt ihre siebenjährige Tochter im dünnen Nachthemd stand. Die zarte Silhouette verschwamm vor Margaretes Augen. „Jodie“, flüsterte sie dann, „kümmere dich um sie.“

„Aber ich …“

„Bitte! Tu es einfach, Alan.“

„Jetzt geht es nicht um Jodie, sondern um dich!“, brüllte ihr Mann plötzlich.

„Himmel, was bist du nur für ein kaltschnäuziger Vater“, unterstellte George ihm und schüttelte den Kopf. „Und so einen Trottel hast du mir vorgezogen?“ Wie Schraubstöcke umschlossen Georges Finger Margaretes Oberarm. Kraftvoll zog er sie an sich. Nie würde sie den letzten Blick ihres Mannes vergessen, bevor sie in Richtung Stall geschubst wurde. Den Schrei ihrer Tochter, die zu ihr laufen wollte. Alans harte Worte, als er Jodie befahl, auf ihr Zimmer zu gehen, um sich dann auf einen der Männer zu stürzen. Kurz schloss sie die Augen. Hörte Alans schmerzvollen Ausruf, der ihr ins Herz schnitt. Spürte den einsetzenden Regen wie Nadelstiche auf ihrer Haut. Zischend verlöschten die Fackeln. Da war Jodies Wimmern. Ihr eigenes, angstvolles Keuchen. Dann hob sie die Lider. Ihr Blick war starr auf die Stalltür gerichtet. Auf das, was vor ihr lag. Sie wusste, nach diesem Opfer würde sie nicht mehr dieselbe sein, weil sie sich bereits jetzt wie eine Fremde in ihrem eigenen Körper fühlte …

1. Kapitel

Es roch modrig. Jodie kauerte wimmernd an der kalten Kellerwand. Völlige Dunkelheit umgab sie, denn es gab kein Fenster. Der Vater hatte sie hier eingesperrt, als sie zu ihrer Mutter laufen wollte. Noch immer schmerzten ihre Arme von seinem harten Griff.

Etwas raschelte. Jodie begann zu zittern und dachte an die Ratten, die hier unten hausten. An die lauten Rufe, die schon seit geraumer Zeit verstummt waren. Warum holte sie niemand? Wo waren ihre Brüder? Ihre Eltern? Und was hatten diese Männer mit ihrer Mutter getan? Wieso hatte sie der eine regelrecht zum Stall bugsiert?

Jodie schluchzte auf, weil ihr die Angst die Kehle zuschnürte. Die Angst, dass etwas Schreckliches geschehen war. Nie zuvor hatte sie ihren Vater so böse erlebt. Er war sogar auf die Männer losgegangen. Noch jetzt saß der Schock tief in ihren Gliedern, weil die Männer brutal auf ihn eingeschlagen hatten. Doch ihr Vater hatte sich losgerissen und war zu ihr gerannt. Und jetzt saß sie hier und hatte keine Ahnung, was los war. Gleichzeitig hatte sie jegliches Zeitgefühl verloren.

Jetzt raschelte es dicht neben ihr. Jodie rutschte beinahe hysterisch zur anderen Seite, bis sie an eine Kiste stieß. Darin lagerten Kartoffeln. Also musste sie sich in der Nähe der Tür befinden. Atemlos tastete sie über die Kisten. Auf einmal spürte sie etwas auf ihrer Haut. Spinnweben? Im nächsten Moment krabbelte etwas über ihre Hand. Panisch schlug sie um sich, rappelte sich hoch und stolperte im nächsten Moment über eine Kiste. Hart schlug sie am Boden auf, doch sofort war sie wieder auf den Beinen. Vorsichtig machte sie einen Schritt nach dem anderen und streckte einen Arm aus, bis sie ein Hindernis spürte. Ihre Hände glitten darüber. Die Tür. Da war die Tür!

 

„Papa“, rief sie, „hol mich hier raus!“ Sie klopfte gegen das sperrige Holz. Unzählige Male, bis sie irgendwann regelrecht dagegenhämmerte. Dazwischen horchte sie, doch es rührte sich nichts. Nur dieses Rascheln war zu hören. „Bitte“, flüsterte Jodie und ihr Kopf sank gegen die Tür. „Hol mich endlich aus dem Keller.“

Erschöpft setzte sie sich auf den Boden und weinte, bis sie keine Tränen mehr hatte. Bisher war ihr Vater immer für sie dagewesen. Wieso kam er jetzt nicht? Schreckliche Bilder taten sich vor ihrem geistigen Auge auf. Sie sah ihren Vater am Boden liegen, voller Blut. „Nein“, hallte ihre eigene Stimme wider, „Papa holt mich bald und dann wird alles gut.“

Allmählich wurden Jodies Lider schwer. Sie schlief ein, bis sie von einem Schrei geweckt wurde, der ihr durch Mark und Bein ging. Es war der Schrei ihres Vaters. Wund, wie der eines Tieres.

Jemand nestelte am Schloss. Vielleicht waren Minuten vergangen. Vielleicht sogar Stunden. Jodie rieb sich über die brennenden Augen und konnte sich nicht bewegen. Unvermittelt traf sie die Tür ins Gesäß.

„Aua!“, rief sie aus und rieb sich die schmerzende Stelle.

„Warum liegst du auch hier herum?“ Ihr dreizehnjähriger Bruder Malcolm trat mit einer Kerze in der Hand herein. Jodie stand schnell auf.

„Vater hat mich eingesperrt.“ Sie eilte an ihm vorbei, denn sie wollte nichts als raus aus dem dunklen Verlies. Malcolm folgte ihr. „Sind die Männer fort? Hast du Vater gesehen? Oder Mutter?“

„Äh, nein. Aber von welchen Männern sprichst du?“

Die schrecklichen Bilder kamen zurück. „Von denen, die uns überfallen haben“, half Jodie ihm auf die Sprünge, während sie die Stufen hinaufeilte.

„Hast du etwas getrunken? Was für ein Überfall denn?“

„Heute waren Männer hier, Malcolm.“ Sie beschleunigte ihre Schritte. „Ich bin vom Geschrei wach geworden und nach draußen gegangen. Mutter …“ Jodie konnte nicht weitersprechen, weil sie oben war und vom Tageslicht geblendet wurde, das durch die offene Eingangstür fiel. Sie kniff die Augen zusammen und blieb stehen. Malcolm prallte gegen sie.

„Kannst du nicht aufpassen?“, schimpfte er. „Und von wegen Geschrei. Ich habe geschlafen wie ein Murmeltier.“

Jodie ließ ihn stehen und öffnete die Küchentür. Aus dem Topf über der Feuerstelle stieg dampfender Rauch in die Höhe.

„Wo sind Mutter und Mary?“

Malcolm blies die Kerze aus und zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Gerade waren sie noch da. Wie üblich wollte ich dich dann wecken, aber du warst nicht in deinem Bett. Deshalb habe ich dich gesucht. Aber wieso bist du denn so hysterisch?“

„Wo ist Vater?“, überging sie seine Frage und öffnete die Stubentür. Auch hier war niemand.

„Der ist in die Trinkstube gegangen“, hörte sie William hinter sich und wirbelte zu ihm herum. Blass stand er vor ihr und sah aus, als hätte er im Gegensatz zu Malcolm kein Auge zugetan. Aber das war im Augenblick nicht so wichtig wie die Erkenntnis, dass es ihrem Vater gut zu gehen schien.

„Um diese Zeit?“, wunderte sich Malcolm. „Langsam bin ich etwas verwirrt. Jodie spricht von einem Überfall, im ganzen Haus sind alle wie vom Erdboden verschluckt und Vater zieht es schon zur Morgenstunde in die Trinkstube. Was zum Teufel ist los?“

William ballte die Hände zu Fäusten. Seine Gesichtszüge wurden zu einer Grimasse. „Wir sind tatsächlich überfallen worden“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Diese Schweine!“

„Hat man uns beraubt?“, fragte Malcolm erschrocken und legte die Kerze auf den Esstisch.

„Nein“, antwortete William eisig.

„Gott sei Dank.“ Malcolm blickte zur Wand gegenüber dem Kamin. Dort hingen unzählige wertvolle Dolche, die der Vater im Laufe der Jahre gesammelt hatte. „Unser alter Herr hat sie vermutlich alle davongejagt.“

„Vater ist weit entfernt von dem Helden, für den wir ihn bisher gehalten haben.“ William lehnte sich gegen den Kamin, als hätte er keine Kraft mehr und suchte Jodies Blick, die ihn verwundert anstarrte. Nie zuvor hatte er so abwertend über den Vater gesprochen. „Du solltest zu Mutter gehen, damit sie weiß, dass du wohlauf bist.“

„Dazu müsste ich wissen, wo sie ist.“ Jodie ließ ihren Bruder nicht aus den Augen. William, den sie kannte wie ihre Westentasche, war ihr plötzlich fremd. Weil sie zum ersten Mal keine Ahnung hatte, was in ihm vorging.

„Sie liegt in ihrem Bett und ruht sich aus“, gab William Auskunft. „Die Sache hat sie ziemlich mitgenommen.“

Jodie zögerte, bevor sie auf dem Absatz kehrtmachte und die Stufen hinauflief. Das Elternzimmer lag neben ihrem. Ohne anzuklopfen öffnete sie die Tür und trat ein. Bei ihrem Erscheinen ließ Mary die Hand ihrer Mutter los und erhob sich von der Bettkante.

„Jodie“, wisperte die Mutter, deren Lächeln kläglich misslang. Die Augen waren rotgeweint, ihre Haut leichenblass. Sie sah furchtbar aus. Fragend schaute Jodie zu Mary hoch, die ebenfalls aussah, als hätte sie geweint.

„Eure Mutter braucht Euch jetzt, Jodie“, sagte die alte Köchin. „Kümmert Euch um sie und kommt dann zu mir in die Küche. Ich werde eine Hühnersuppe kochen, die Ihr Eurer Mutter nachher bringen könnt.“

Jodie nickte und während sie zum Bett trat, verließ Mary den Raum.

Tränen traten aus den Augen der Mutter, die ihr wortlos die Arme entgegenstreckte. Im nächsten Moment lag Jodie neben ihr im Bett und kuschelte sich an sie. Liebevoll strich ihr die Mutter über das Haar und barg ihr Gesicht darin. „Ich bin Gott unendlich dankbar, dass euch allen nichts geschehen ist“, flüsterte sie mit belegter Stimme.

„Vater hat mich in den Keller gesperrt.“ Jodie schluckte die Tränen hinunter. „Aber ich hatte keine Angst“, schwindelte sie, weil sie ihre Mutter nicht noch trauriger machen wollte.

„Da bin ich froh. Du musst nämlich wissen, dass dich dein Vater nicht bestrafen, sondern beschützen wollte. Aber das hat er dir bestimmt gesagt, als er dich wieder geholt hat.“

„Malcolm hat mich aus dem Keller geholt.“

„Malcolm?“ Jodie spürte, wie sich der Körper ihrer Mutter anspannte. „Aber wo ist dein Vater?“

„In der Trinkstube.“

Das Streicheln endete abrupt. Es dauerte, bis sie in ihrem Tun fortfuhr. „Wir werden das alle gemeinsam überstehen“, versprach sie plötzlich, als müsste sie sich selbst Mut machen.

„Warum waren die Männer hier, Mutter?“, fragte Jodie stotternd und rückte etwas von ihr weg, um sie ansehen zu können.

Die Lippen der Mutter begannen zu zittern. Blanke Angst stand in ihren grünen Augen. „Wir sind glimpflich davongekommen“, erwiderte sie und drückte Jodie fester an sich. „Das ist das Wichtigste. Alles andere wird sich weisen, denn niemandem wird es gelingen, uns auseinanderzubringen. Nicht einmal …“

Im nächsten Moment ließ die Mutter sie los, würgte einige Male, bevor sie sich zur Seite rollte und sich über die Bettkante erbrach.

Das und ihre Worte verfolgten Jodie den restlichen Tag. Weil sie nichts damit anfangen konnte. Ihre Mutter hatte zwar wiederholt beteuert, dass alles in Ordnung sei, doch ihr Zustand sprach keineswegs dafür und die Aussagen verwirrten sie mehr, als dass sie Klarheit schafften. William schien es anders zu gehen, dem sich Jodie am Nachmittag anvertraute. Er wirkte nicht durcheinander. Eher wie jemand, der mehr wusste. Aber trotz hartnäckigem Fragen blieb ihr auch er eine Erklärung schuldig und ging schließlich mit Malcolm zur Jagd. Nur John - der jüngste ihrer Brüder - saß mit ihr am Esszimmertisch, während sie auf den Vater wartete. Doch sie schwiegen sich an. John war anders als Malcolm und William. Deshalb tat sie sich schwer, ihm genauso nahe zu sein. Vielleicht auch deshalb, weil John eifersüchtig auf sie war. In seinen Augen war sie der Liebling ihres Vaters. Ein wenig mochte er damit recht haben, das musste sie zugeben. Wenn sie sich mit den Brüdern zankte, half der Vater meistens zu ihr und nahm sie öfter als die Brüder in seine Arme.

„Jodie ist ein Mädchen und Mädchen behandelt man anders“, pflegte der Vater zu sagen. „Ihr hingegen seid Burschen, die zu harten Männern heranwachsen sollen. Das schafft man aber nicht auf dem Schoß des Vaters, sondern indem man gefordert wird.“ Der Vater lehrte den Brüdern vieles. Wie gern wäre Jodie manchmal zur Jagd mitgegangen, hätte Bogenschießen gelernt oder den Umgang mit dem Schwert. Nur zum Holzhacken nahm der Vater meistens sie mit. Anfangs hatte sie ihm nur zugeschaut, inzwischen durfte sie mit einer zweiten Axt mithelfen. Doch mit dem Ausschluss von der Jagd und anderen Dingen konnte sie besser umgehen als mit der Tatsache, dass Bildung fast ausschließlich den Männern vorbehalten war. Aber es gab Ausnahmen und man hörte immer wieder, dass in manchen Familien auch Mädchen Lesen und Schreiben lernen durften. Doch ihre Eltern hielten am alten Denkmuster fest. So gesehen hätte sie ebenfalls eifersüchtig sein können und zugegeben, sie war es auch ab und an.

Als die Dämmerung hereinbrach, saß Jodie alleine in der Stube. John war auf sein Zimmer gegangen. Ängstlich fixierte sie den Kerzenstumpen. Bald würde die Flamme verlöschen. Mit der herannahenden Dunkelheit kamen die Stunden im Keller zurück. Schatten tanzten über die Wände. Plötzlich glaubte sie ein Rascheln zu hören und schaute auf den Boden, obwohl sie wusste, dass es Einbildung war. Genauso wie die Schreie, die durch ihren Kopf hallten. Ob die der Männer oder des Vaters. Trotzdem hatte sie eine Gänsehaut und versuchte an ihre Mutter zu denken. Am Nachmittag hatte sie immer wieder bei ihr nach dem Rechten geschaut. Die Hühnersuppe hatte sie nicht angerührt. Aber wenigstens schlief sie, obwohl sie sich unruhig hin und her gewälzt, manchmal sogar gewimmert und unverständliche Worte gemurmelt hatte.

Stimmen näherten sich. Jodie sprang von ihrem Platz hoch und eilte in die Halle hinaus. Die Tür öffnete sich. William und Malcolm stapften herein.

„Vater ist immer noch nicht da“, beklagte sich Jodie sofort bei ihnen.

„Wir freuen uns auch, dich zu sehen“, amüsierte sich Malcolm und warf seinen grauen Umhang auf den Stuhl neben der Esszimmertür.

„Macht ihr euch keine Sorgen?“, schimpfte Jodie. Manchmal waren ihre Brüder wie Gesteinsbrocken.

„Gönn ihm die Abwechslung.“ Malcolm drückte sie an sich. Sofort vergaß sie das mit den Gesteinsbrocken. „Vater wird schon kommen und du solltest dich fürs Bett fertig machen, Lowland.“

„Nenn mich nicht immer so“, beschwerte sich Jodie gespielt böse. „Ich bin kein kleines Mädchen mehr.“

„Das halte ich für ein Gerücht, du Zwerg“, mischte sich William ein. Er war zwei Jahre jünger als Malcolm, überragte ihn jedoch bereits um fast zwei Köpfe. Aus William würde ein Riese werden, wenn er nicht aufhörte zu wachsen. Doch wie es aussah, hatte ihm der Jagdausflug gutgetan, obwohl sie wie üblich mit leeren Händen zurückgekommen waren. „Aber Malcolm hat recht. Wir müssen alle etwas zur Ruhe kommen. Du solltest wirklich ins Bett gehen.“

„Ich möchte auf Vater warten“, beharrte sie.

„Bis zu seiner Heimkehr kann es noch Stunden dauern.“ Malcolm ließ sie los. „Ich gehe in die Küche. Die Jagd hat mich hungrig gemacht. Kommst du mit?“, erkundigte er sich an William gewandt, der den Kopf schüttelte.

„Ich werde unsere Schwester nach oben bringen. Ich schätze, sie braucht nach der Nacht im Keller jemanden, der ihre Hand hält.“ William legte seinen Arm um Jodies Schultern. Keiner kannte sie besser als er.

Seite an Seite stiegen sie über die Treppe hinauf. Als Jodie wenig später im Bett lag, saß William im Stuhl neben ihr und schnarchte. Die dunkelbraunen Locken fielen ihm in die Stirn. Er hatte abstehende Ohren, am Kinn eine Kerbe in der Größe eines Pennys, eine Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen und wie es aussah, einen gesunden Schlaf.

Sie beneidete ihn, denn sie bekam kein Auge zu. Irgendwann hörte sie plötzlich lautes Poltern über die Stiege herauf. Dann näherte sich jemand hustend ihrem Zimmer. Ihr Vater war zurück! Erleichtert verließ Jodie das Bett und sauste voller Vorfreude in den Gang hinaus.

Mit torkelnden Schritten kam ihr der Vater entgegen. Die Laterne in seiner Hand baumelte. Jodie wurde unsicher, weil sie ihn in diesem Zustand noch nie gesehen hatte, und blieb stehen. Als er fast bei ihr war, bemerkte sie Blessuren in seinem Gesicht. „Ich bin so froh, dass du wieder da bist, Papa“, wisperte sie und klammerte sich an ihn.

„Lass mich los, Jodie“, lallte er und hielt die Arme etwas vom Körper weg, als hätte sie eine ansteckende Krankheit. Verletzt löste sie sich von ihm und trat einen Schritt zurück, weil er bedenklich schwankte.

 

„Was ist mit dir?“

Ihr Vater sank an die Wand. „Was mit mir ist?“, höhnte er und lachte plötzlich unkontrolliert. „Nichts“, meinte er, „was soll schon mit mir sein?“ Er neigte sich etwas zur Seite. Jodie befürchtete, dass er hinfallen würde. Mit beiden Händen fasste sie nach seinem Arm, um ihn notfalls zu halten.

„Du sollst mich loslassen!“, herrschte er sie an und schüttelte sie ab wie ein lästiges Insekt. Jodie stand wie vom Donner gerührt vor ihm. Seine Gestalt verschwamm vor ihren Augen. „Ich schlafe unten“, fügte er ruhiger hinzu und machte kehrt. Sie blickte ihm schluchzend hinterher, als sich plötzlich eine warme Hand auf ihre Schulter legte.

„Geh wieder ins Bett“, hörte sie William sagen. „Und lass Vater seinen Rausch ausschlafen. Morgen ist er wieder ganz der Alte, du wirst sehen.“

In den folgenden Tagen bekam Jodie ihren Vater kaum zu Gesicht, weil die Trinkstube sein zweites Zuhause wurde. Und wenn sie ihm begegnete, war er so sturzbetrunken, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Manchmal wurden sogar Malcolm oder William geholt, um ihn nach Hause zu bringen. Meistens legten sie ihn dann auf die harte Bank in der Stube, die vor dem Fenster stand.

Die Mutter hingegen erholte sich von Tag zu Tag mehr. Zumindest körperlich. Aber dieser Überfall schien auch sie verändert zu haben. Sie, die immer gern gelacht hatte, brachte kaum noch ein Lächeln zustande. Zwar verrichtete sie ihre gewohnten Tätigkeiten, aber jeder Handstrich wirkte kraftlos. So, als würde sie lediglich funktionieren.

Jodie war völlig überfordert und hatte keine Ahnung, wie sie mit der veränderten Situation umgehen sollte. Es lag eine seltsame Spannung in der Luft. Nur ein falscher Laut, und alles würde über ihren Köpfen zusammenstürzen. Und dass der Vater auf einmal so kühl war, machte ihr zusätzlich zu schaffen.

„Komm schon, Lowland. Sei kein Mädchen!“, rief Malcolm zu ihr herüber. Sie saß auf den Stufen der Burg. „Wer schneller oben ist.“

„Es ist der falsche Baum“, wiederholte sie zum dritten Mal und bewunderte ihren Bruder, der behände von einem Ast zum anderen kletterte. Obwohl sie ansonsten jede Wette annahm, die morsche Eiche neben der Familienkapelle war ihr nicht ganz geheuer.

„Angsthase“, zog Malcolm sie auf und verschwand in den dichten Zweigen. „Du hast keine Ahnung, was du versäumst.“

„Ich kann es mir lebhaft vorstellen“, rief sie abwesend und blickte zum Dorf hinunter. Die Burg ihrer Eltern befand sich auf einer kleinen Anhöhe. Der Old Patrick plätscherte daran vorbei, hohe kahle Bäume umsäumten das Grundstück, zu dem auch einige Ländereien in der Umgebung gehörten. Das Dorf lag am Fuße des Hügels. Oft beobachtete sie die Menschen, wie sie im Herbst durch erdige Straßen eilten oder sich am Brunnen trafen. Im Winter emsige Schritte im Schnee hinterließen und im Frühjahr ihre Gesichter lachend der Sonne zuwandten. Der Sommer schien alle endgültig aus dem Haus zu treiben. Besonders in den Vormittagsstunden wirkte das Dorf häufig wie ein Ameisenhaufen. Oft spielten ihre Brüder und sie mit den Kindern bis die Sonne unterging. Beim Gedanken daran musste sie lächeln.

„Sieh an, dir scheinen zur Abwechslung angenehme Gedanken durch den Kopf zu gehen.“ William schlenderte auf sie zu. Mit einem geschulterten Leinenbeutel, den er knapp vor Jodies Füßen auf den Boden hievte. Vermutlich war er wieder im Stall gewesen, wie so oft in letzter Zeit. Oder in der Familienkapelle, die sich gleich daneben befand. „Sieht schwerer aus als er ist“, meinte er grinsend.

„Hast du Malcolm eingepackt, um ihn beim Markt zu verkaufen?“

William lachte schallend und auch Jodie musste lachen. Es tat so gut, obwohl sie sich auf Malcolms Kosten amüsierten. Aber da der älteste Bruder selbst gerne austeilte, würde er es verschmerzen können.

„Dein Witz wird mir fehlen, Jodie.“

Ihr Lachen endete und sie blickte in Williams ernstes Gesicht. „Du willst fort?“ Es war weniger eine Frage als eine Feststellung.

William blickte an ihr vorbei. „Aye. Ich muss raus hier.“

Es war, als würde eine eiskalte Hand nach ihrem Herzen greifen. „Das geht nicht“, entfuhr es Jodie und sie erhob sich langsam. „Du kannst mich nicht alleinlassen, William. Was soll ich ohne dich tun?“

„Malcolm und John sind auch noch da.“

„Aber sie sind nicht du“, flüsterte sie.

Nun schaute er ihr in die Augen. „Ich komme bald zurück, versprochen. Aber ich brauche etwas Abstand.“ Ehe sie sich’s versah, nahm er ihre Hände. „Warte bitte bis ich fort bin, bevor du unseren Eltern Bescheid sagst.“

„Du willst dich nicht von ihnen verabschieden?“

„Nein.“ Seine Lippen wurden zu einem schmalen Strich. „Vater würde es in seinem derzeitigen Zustand ohnehin kaum mitbekommen, und Mutter, na ja, du kennst ihre Überredungskunst.“

„Was ist mit deiner Ausbildung?“

„Von Anfang an hat sie mir keine Freude bereitet. Aus mir wird nie ein Geistlicher werden, Jodie.“, bekannte William mit gesenktem Kopf. „Das ist mir in den letzten Tagen klargeworden. Denn wenn es einen Gott geben würde, hätte er niemals zugelassen, dass … ach, das ist jetzt auch egal.“

„Nein, das ist es nicht“, brach es aus Jodie heraus. „Obwohl Mutter behauptet, dass wir glimpflich davongekommen sind, ist sie ein völlig anderer Mensch geworden. Mit Vater ist dasselbe geschehen und bei dir ist es nicht anders. Doch niemand spricht mit mir darüber oder beantwortet meine Fragen. Auch du weißt mehr als du zugibst“, unterstellte sie ihm. „Was ist wirklich geschehen, William?“

„Glaub mir, manchmal ist es besser, einiges nicht zu wissen. Ich wäre gern an deiner Stelle, Lowland.“ Nie würde sie Williams Blick vergessen, der voller Schmerz war, aber auch voller Hass. „Ich bin der Falsche für dieses Gespräch.“ William küsste sie ins Haar, dann nahm er den Beutel und ging mit ausladenden Schritten Richtung Wald - als könnte er es nicht erwarten, endlich fort zu sein. Am liebsten wäre sie ihm hinterhergelaufen.

In den darauffolgenden Nächten weinte sich Jodie oft in den Schlaf, weil sie William so vermisste. Weil die Mutter weiterhin jeder Frage auswich. Aber am schlimmsten war es, dass der Vater - dessen Besuche in der Trinkstube von heute auf morgen aufgehört hatten - sie wie eine Aussätzige behandelte, wenn sie sich wie früher an ihn schmiegen wollte.

„Hier, damit du nicht so alleine bist.“ Malcolm war unbemerkt in die Kapelle hereingekommen und hielt Jodie eine Holzfigur unter die Nase. Verwundert schaute sie darauf, erhob sich und machte das Kreuzzeichen. „Sie heißt Molly. Ich habe sie selbst geschnitzt.“ Malcolm lächelte stolz und schien neben John der einzige zu sein, der nach wie vor der Alte geblieben war.

„Danke.“ Jodie nahm die Holzfigur und betrachtete sie. Ihr Bruder hatte ihr sogar ein lachendes Gesicht gemalt. „Molly sieht lustig aus“, bemerkte sie und erwiderte Malcolms Lächeln, obwohl ihr Herz von einer seltsamen Wehmut erfüllt war.

„Das wird schon wieder, Jodie.“

„So ähnlich hat William geklungen, bevor er fortgegangen ist.“ Prüfend schaute sie ihm ins Gesicht.

„Mach dir keine Sorgen, Jodie. Ich werde immer bei dir bleiben.“ Unbeholfen klopfte er ihr auf die Schulter, bevor er sie wieder alleine ließ. Fest drückte sie Molly an sich, kniete sich erneut vor die Heilige Madonna nieder und weinte still vor sich hin.

Die Wochen vergingen. Bald färbten sich die Blätter auf den Bäumen. Nebel zog über die Wiesen und Felder. Manchmal regnete es tagelang, begleitet von böigem Wind. An einem dieser tristen Tage hatte Malcolm das Elternhaus verlassen.

John war es, der Jodie darüber informierte und bekam unschuldigerweise ihren ganzen Zorn zu spüren. Sie schrie ihn sogar an und schleuderte Molly von sich. Wie hatte Malcolm das tun können? Obwohl er das Gegenteil versprochen hatte? Sogar in einer Kapelle? War ihm denn gar nichts heilig? Nie zuvor hatte sich Jodie verlassener gefühlt. Wen hatte sie jetzt noch? Keinem schien sie wichtig genug, und alle waren mit sich selbst beschäftigt. Gingen ihre eigenen Wege, so wie William und Malcolm.

Beim Abendessen schaute sie ständig auf die leeren Stühle, während ihr Vater und John darüber diskutierten, wohin Malcolm gegangen sein könnte. Die Mutter saß schweigend daneben und stocherte in ihrem Getreidebrei herum. Erst als sich der Vater enttäuscht über Williams abgebrochene Ausbildung äußerte, schien Leben in sie zu kommen.

„Die beiden sind alt genug, um selbst über ihre Zukunft zu entscheiden“, hielt sie dem Vater entgegen.

„Das mag für Malcolm gelten, aber nicht für William. Immerhin habe ich ein halbes Vermögen für seine Ausbildung ausgegeben.“

„Er hat von klein auf gesagt, dass er eines Tages nur einer Instanz dienen möchte: Seiner Heimat Schottland. William wird unserer Familie auf andere Weise Ehre machen, sei unbesorgt.“