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Weil Schottlands Herz für die Freiheit schlägt

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Daraufhin erhob sich der Vater und verließ das Esszimmer. Auch die Mutter zog sich zurück. Jodie und John aßen schweigend zu Ende.

„Mein Ausbruch heute Nachmittag tut mir leid“, entschuldigte sich Jodie.

Johns überraschter Blick streifte sie. „Schon gut, ich bin auch zornig gewesen. Wenigstens von mir hätten sie sich verabschieden können. Aber ich war sowieso immer nur der Kleine.“

„Dann sind wir schon zwei.“

„Stimmt.“ John spielte mit dem Löffel. „Eigentlich bewundere ich die beiden. Nie hätte ich mich das getraut. Doch eines Tages werde ich so mutig sein wie sie. Vor allem wie William.“ Unverhohlene Bewunderung sprach aus seinen Worten. „Bis dahin sollten wir zusammenhalten, Jodie.“ Er wurde verlegen. „Mir ist klar, dass ich es nie mit unseren Brüdern aufnehmen kann, aber ich will mein Bestes versuchen. Wenn du also jemanden zum Reden brauchst, bin ich für dich da. Auch wenn ich nur schmale Schultern habe.“

Jodie fasste gerührt nach seiner Hand. „Danke.“

Mit etwas mehr Zuversicht ging sie ins Bett. Trotzdem konnte sie nicht einschlafen. Wie einige Male zuvor schlich sie sich mit Molly in der Hand in die Stube. Ihr Vater verbrachte die Nächte nach wie vor auf der Bank. Leise setzte sie sich auf den Stuhl ihm gegenüber und zog sich das Tuch enger um ihre Schultern. Mit ängstlichem Blick auf den Vater. Jeder geringste Laut riss ihn aus dem Schlaf. Das wollte sie vermeiden. Zu kostbar waren diese Momente, in denen sie ihn für sich alleine hatte. Nur für sich. Und auch in dieser Nacht starrte sie auf seine starken Hände und flehte Gott an, ihr zu helfen. Denn nach nichts sehnte sie sich mehr, als dass ihr der Vater wieder über den Kopf streichen würde, so wie früher.

Er rührte sich. Jodie hielt den Atem an, als er die Augen aufschlug.

„Jodie“, raunte er verschlafen. Wie sanft seine Stimme klang. Auch sein Blick war liebevoll. „Habe ich dir nicht gesagt, dass ich es nicht mag, wenn du mich im Schlaf beobachtest?“ Als kämen mit dem Wachwerden unliebsame Erinnerungen zurück, runzelte er die Stirn.

„Entschuldige, Vater.“ Sie senkte den Kopf und schaute auf ihre Hände im Schoss, die Molly hielten. „Ich konnte nicht schlafen.“

„Weshalb du mich wecken musstest?“

Jodie wischte sich grob mit Tuch über die Augen, hob den Blick und flüsterte: „Ich war ganz leise, Papa.“

„Geh ins Bett“, forderte er und fuhr sich durch das zerzauste Haar. Sie starrte auf seine Hände und schluckte hart. Auf einmal öffnete sich die Tür. John kam verschlafen herein. Mit nassen Beinlingen. Fast jede Nacht nässte er ins Bett.

„Wieder einmal in die Hosen gemacht?“, fragte der Vater seufzend und erhob sich. „Na komm, lass uns Mutter Bescheid sagen.“ John schaute zu ihm auf, wie Jodie es tat.

„Ich könnte John helfen“, bot sie an. „Mutter schläft bestimmt schon.“

Der Blick ihres Vaters war nicht zu deuten. „Ach Jodie“, murmelte er und hob seine Hand, als ob er ihr über den Kopf streichen wollte. Doch bevor es dazu kam, verließ er mit John den Raum.

Es war Ende Oktober. Jodie schichtete hinter der Burg das Holz in der Remise auf. Trotz der Anstrengung waren ihre Finger klamm. Immer wieder pustete sie in ihre Hände, aber das half nicht viel. In den letzten Tagen hatte es unaufhörlich geschneit. Mit dem viel zu frühen Wintereinbruch war auch klirrende Kälte gekommen.

„Meine Güte, John“, schallte die Stimme des Vaters zu ihr. „Du sollst das Holz spalten und nicht streicheln. Weiß der Himmel, ob aus dir jemals ein richtiger Mann wird. Da hackt ja Jodie besser Holz als du.“

Sein Lob ging ihr runter wie Öl, weil sich an der Kluft zu ihrem Vater trotz der vielen Wochen nichts geändert hatte. Aber seit jenem Abend war sie nie wieder zu ihm in die Stube gegangen.

„Nein, so wird das nichts. Du darfst die Axt nicht wie einen Kamm halten, Junge.“ Vor kurzem hatte John seine Eitelkeit entdeckt und machte vor allem um seine Frisur viel Aufhebens. Sie kannte niemanden, bei dem sie so perfekt saß. „Jodie, komm her“, rief der Vater.

Sie ließ das Scheit fallen und eilte zu ihm. Als er ihr die Axt reichte, kam Stolz in ihr hoch. Obwohl es ihr an Ausdauer und Kraft fehlte, im Zielen war sie unschlagbar. Jodie hob die Axt in die Höhe, ließ sie nach unten sausen und spaltete das Scheit mit einem Schlag.

Der Vater nahm die zwei Hälften und warf sie auf den bereits ansehnlichen Haufen. „Siehst du, John, genauso macht man das.“

Jodie lächelte ihren Vater an, aber seine Miene blieb starr. Doch als er ihr die Axt aus der Hand nahm, legte er seine Hand kurz auf ihre Schulter.

„Kein Wunder, dass Jodie zuschlägt wie ein Mann“, meldete sich John zu Wort und schniefte. Seit Tagen kämpfte er mit einem hartnäckigen Schnupfen. „Sie durfte dir ja ständig helfen.“

„Eifersüchtig?“, belustigte sich der Vater.

John machte ein Gesicht, als hätte er sich in die Zunge gebissen. „Ich bin doch keine Frau.“

„Dein Wort in Gottes Ohr.“ Jetzt lächelte der Vater, und Jodie fühlte die Kälte nicht mehr. Zuversicht erfüllte sie, dass Malcolm recht gehabt haben könnte. Vielleicht würde tatsächlich alles gut werden.

„Du lernst es sicher noch“, sprach sie John Mut zu. „Ich konnte es auch nicht von einem Tag auf den anderen.“

„Siehst du“, wandte sich John an den Vater. „Kein Meister fällt vom Himmel.“

„Schon gut, Sohn.“ Er tätschelte Johns Wange. „Wie weit bist du eigentlich in der Remise, Jodie?“ Der Vater rieb seine Hände aneinander.

„Fast fertig.“

„Dann lass es gut sein für heute. Den Rest können wir morgen erledigen. Es wird Zeit, dass wir etwas zwischen die Zähne bekommen.“

Einträchtig wateten sie durch den Schnee und saßen kurz darauf am Küchentisch. Zu Mittag aßen sie manchmal hier. Vor allem im Winter, weil kein Raum so warm war wie die Küche. Mary goss Suppe in die Schüsseln und stellte eine nach der anderen vor sie hin. Fast gleichzeitig griffen sie zu ihren Löffeln und begannen zu essen. Dabei schielte Jodie immer wieder zu ihrem Vater. Manchmal fing sie seinen nachdenklichen Blick auf, doch er senkte ihn sofort.

„Falls noch jemand Hunger hat, es ist genügend da.“ Mary schaute wohlwollend von einem zum anderen.

„Ich könnte einen weiteren Happen vertragen.“ Der Vater deutete auf die fast leere Schüssel. „Du hast dich wieder einmal selbst übertroffen, Mary.“

Die Köchin grinste. Kurz danach stellte sie die aufgefüllte Schüssel auf den Tisch.

Der Vater schob sie näher zu sich und widmete sich seiner zweiten Portion. „Wo ist eigentlich Margarete?“, erkundigte er sich zwischen zwei Bissen.

„Sie hat sich in ihr Zimmer zurückgezogen, Sir“, unterrichtete Mary ihn. „Soviel ich weiß schreibt sie einen Brief an Euren Schwager Ronald.“

Jodie spürte wieder den Wunsch in sich, lesen und schreiben zu können. Ob sie die Mutter fragen sollte? Abgesehen von der Bildung würden sie endlich mehr Zeit miteinander verbringen, so wie sie es beim Holzhacken mit dem Vater tat. Irgendwie schien er gelöster und ihr ging es ebenfalls besser. Außerdem schadete es keinem Mädchen, wenn es mehr konnte als von ihm erwartet wurde.

„Was ist mit Euch, Kinder? Mögt Ihr Nachschlag?“ Mary stemmte die Hände in die Hüften. Johns und Jodies Schüssel waren inzwischen leer.

„Für eine zweite Ladung habe ich keine Zeit“, lehnte John ab.

„Wieso? Möchtest du weiter Holz hacken?“ Der Vater lachte verhalten, bevor er sich den Löffel in den Mund schob. Dann schluckte er und ließ den Löffel sinken. „In letzter Zeit habe ich mich ziemlich gehen lassen.“ Mit jedem Wort war der Vater leiser geworden, bevor er den Blick hob und Jodie ansah. Fast so wie früher. Nur mit dem Unterschied, dass Bedauern in seinen braunen Augen lag.

„Hier riecht es nach Schweiß“, meldete sich John zu Wort und vertrieb diesen schönen Moment. „Ob das Jodie ist? Außerdem würde es mich nicht wundern, wenn sie Läuse hätte. Bei dem verfilzten Haar.“

„Wieso bist du so gemein?“, patzte sie ihn an, obwohl sie den Grund für seine Beleidigung ahnte. Es passte ihm vermutlich nicht, dass der Vater bei seiner Aussage nur sie angesehen hatte.

„Wer hart arbeitet, riecht nach Schweiß. Warum du nach Rosenblüten duftest, solltest du umgehend hinterfragen, Junge.“ Der Vater tauchte den Löffel in die Suppe. Sein Goldring am kleinen Finger blitzte auf. „Und Läuse hattest du öfter als deine Geschwister, wenn ich dich daran erinnern darf.“

„Immer hilfst du zu Jodie“, maulte John und sandte ihr einen grimmigen Blick.

„Das stimmt nicht. Ich helfe dem, der ungerecht behandelt wird. Und wiederum muss ich deinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen: Wie oft habe ich Malcolm und William ausgeschimpft, weil sie sich einen Spaß mit dir erlaubt haben?“

John nahm eine gerade Haltung an. „Die zwei haben alles zurückbekommen“, behauptete er, aber alle am Tisch wussten es besser.

Zwischen den Brüdern war es regelmäßig zu Raufereien gekommen, aus denen John chancenlos hervorging. Andererseits hatten sich auch Malcolm und William nichts geschenkt, weil sich Malcolm oft darüber geärgert hatte, dass William der Größere und Stärkere war. Dann wiederum waren die zwei wie Pech und Schwefel gewesen. John hatte es schwer, seinen Platz unter den Brüdern zu finden. Kein Wunder, dass er sich anderen Dingen zuwandte. Trotzdem hatte Jodie keine Lust, dass er seine schlechte Laune an ihr ausließ.

„Alan.“ Plötzlich stand die Mutter mit aschfahlem Gesicht in der offenen Tür. Auf die übliche Haube hatte sie verzichtet. Strähnen lösten sich aus ihrem hochgesteckten kastanienbraunen Haar. „Könntest du bitte kommen?“

Der Vater legte den Löffel ab und stand auf. „Ist etwas geschehen?“

 

Statt zu antworten, drehte sie sich um und ging davon. Der Vater eilte ihr nach. John und Jodie sahen sich fragend an.

Mary sandte einen Blick nach oben. „Herr im Himmel, lass diesen Kelch an uns vorübergehen“, sprach sie inbrünstig aus. „Kredenze ihn jedem anderen, nur nicht uns.“

„Was redest du da für dummes Zeug?“, fragte John kopfschüttelnd.

Marys Blick war undefinierbar. „Ich bete immer, wenn ich das Gefühl habe, dass sich über diesem Haus etwas zusammenbraut.“

„Was soll sich denn …“

„Du bist was?“, wurde John vom Gebrüll des Vaters unterbrochen.

„Jesus Maria“, Mary machte das Kreuzzeichen. „Als hätte ich es geahnt.“

Jodie hielt nichts mehr in ihrem Stuhl. Als sie in die Halle kam, standen sich die Eltern wie Kampfhähne vor der Kellertreppe gegenüber.

„Wie konnte das geschehen?“, brüllte der Vater.

Die Mutter schluchzte auf. „Bitte quäle mich nicht weiter, Alan.“

„Wer hier wohl wen quält“, höhnte er. „Dabei habe ich gedacht, dass wir das Schlimmste hinter uns hätten.“

„Du bist so selbstgerecht!“ Die Mutter schlug sich die Hände vor das Gesicht und weinte hemmungslos.

Jodie lief zu ihr hin, legte einen Arm um ihre Taille und schaute zum Vater hoch. „Bitte, Papa, hört auf zu streiten“, bettelte sie.

„Misch dich gefälligst nicht ein.“ Der Vater fasste nach Jodies Arm. „Mach, dass du in dein Zimmer kommst. Das hier geht nur deine Mutter und mich etwas an!“ Heftig zerrte er sie von der Mutter weg, als Jodie plötzlich stolperte und im nächsten Augenblick polternd über die Kellertreppe hinunterfiel. Unten krachte sie gegen die Tür. Ein greller Schmerz fuhr durch ihre Beine und ihren Rücken.

„Was hast du getan, Vater?“, hörte sie John rufen.

Dann wurde ihr schwarz vor Augen.

2. Kapitel

Dezember, 1294 - zehn Jahre später

„Verdammt!“ König Edward schlug mit der Faust auf den wuchtigen Schreibtisch. Papierrollen fielen auf den Boden. Das Tintenfass kippte um. Sein Bruder Edmund, der ihm gegenüber saß, sank tiefer in den Sitz. „Verflucht sollst du sein!“, steigerte sich Edward weiter in seinen Jähzorn gegen Frankreich hinein und ahnte gleichzeitig, dass sein Bruder den Ausbruch auf sich selbst münzen würde.

„Es tut mir leid, dass ich dir keine bessere Nachricht überbringen konnte.“ Edmunds mitfühlende Stimme machte ihn noch wütender.

„Ich verabscheue die Franzosen.“ Edwards Stimme überschlug sich fast. „Wie viel Energie habe ich darauf verwendet, Aquitanien und vor allem die Gascogne aus dem Lehnverhältnis zu lösen. Ich könnte unseren Vater erwürgen, wäre er nicht schon längst tot. Wie konnte er die Ländereien dem französischen König überlassen? Ausgerechnet ihm?“ Wieder traf seine Faust den Schreibtisch. „Den monatelangen Aufenthalt in der Gascogne hätte ich mir sparen können!“

„Du sprichst, als wäre alles umsonst gewesen. Vergiss nicht, dass du durch deine Anwesenheit zumindest deine Stellung festigen konntest“, zwitscherte Edmund wie ein besänftigendes Vöglein.

„Hör auf. Wir wissen beide, dass ich wieder ganz am Anfang stehe.“ Edward stöhnte unwillig auf. „Ich wünschte, Eleonore wäre jetzt hier.“ Seine Frau war vor vier Jahren gestorben. Mit ihr eine kluge Beraterin und treue Gefährtin. Ihr Tod hatte ihm zugesetzt, und erst vor einigen Monaten hatte er sich dazu durchgerungen, wieder zu heiraten. Blanche von Frankreich sollte es sein. Nicht nur aufgrund ihrer vielgerühmten Schönheit, auch politisch konnte er bei dieser Verbindung aus dem Vollen schöpfen. Blanches Halbbruder Philipp hatte sich einverstanden erklärt, sich aber zwei Rechte vorbehalten: Die Gascogne sollte vollständig in französische Hände gegeben werden, und ein Waffenstillstand wurde gefordert. Natürlich hatte er dem vorerst zugestimmt, dann war sein Bruder Edmund nach Frankreich gereist, um Blanche zu holen.

„Niemand konnte ahnen“, fuhr Edmund fort, „dass man uns Blanche schmackhaft macht, obwohl sie Rudolf von Böhmen versprochen ist.“ Er verzog das Gesicht, bevor er sich vorsichtig zurücklehnte. Vermutlich die üblichen Rückenschmerzen. Sein zinnoberrotes Überkleid hatte schon bessere Tage gesehen. Schweiß stand auf seiner wächsernen Stirn. Sie hatten nur das gewellte schulterlange Haar gemeinsam, den Vollbart und die dunklen Augen. Ansonsten waren sie grundverschieden wie ihre Beinamen: Edmund wurde seit seiner Beteiligung am Kreuzzug ´Crouchbackˋ genannt, er aufgrund seiner imposanten Körpergröße ´Longshanksˋ. Etwas, worauf Edward stolz war. Im Gegensatz zu seinem linken Oberlid, das nach unten hing und seine Sicht einschränkte.

„Zu allem Überfluss bieten sie mir Margarethe an.“ Edward konnte es immer noch nicht fassen und stieß ein trockenes Lachen aus. „Eine Zwölfjährige! Sie mag im heiratsfähigen Alter sein, aber sie ist in Frankreich aufgewachsen und vermutlich völlig unreif. Die dortige Erziehung ist mit der unseren nicht zu vergleichen. Blanche hätte dieser Kleinen wenigstens Liebreiz vorausgehabt.“ Das mittägliche Rindfleisch mit Kräuterbrei lag ihm plötzlich schwer im Magen. „Also was soll ich mit ihr? Spielen? Sie erziehen? Ich bin über fünfzig und will eine Frau. Mit Kindern bin ich dank Eleonore zur Genüge gesegnet.“

„Möchtest du meinen Rat hören?“

„Lass mich raten: Ich soll mich mit Frankreichs lächerlicher zweiter Wahl zufriedengeben und den Schwanz einziehen?“

„Ob Blanche oder Margarethe, in beiden Fällen hättest du Vorteile“, sprach Edmund ihm ins Gewissen. „Außerdem soll Margarethe ihrer Schwester in nichts nachstehen, weder in Schönheit noch in Reife. Man nennt sie sogar die ´Blume von Frankreichˋ.“

„Und wenn schon. Die Franzosen neigen seit jeher zu maßloser Übertreibung.“ Der Stuhl flog nach hinten, als sich Edward erhob. „Vermutlich ist Margarethe hässlich wie die Nacht. Oder hast du sie gesehen und kannst das Kompliment bestätigen?“

Jetzt wirkte Edmund wie ein Häufchen Elend. „Nur von Weitem konnte ich einen Blick auf sie erhaschen … allerdings trug sie einen Schleier vor dem Gesicht.“

„Einen Schleier?“, erboste sich Edward. „Und trotzdem willst du sie mir schmackhaft machen? Du bist ein elender Dummkopf!“ Speicheltröpfchen besprenkelten den Tisch. Sein Bruder wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. Edward zog herrisch an seinem roten Umhang, auf den er gestiegen war. Auf einmal war ihm heiß, gleichzeitig fror er. Fluchend durchmaß er mit kraftvollen Schritten den düsteren Raum. „Ich wünsche, dass du ein Schreiben verfasst.“ Edward baute sich vor dem großen Fenster auf und verschränkte die Arme im Rücken. „Mit folgendem Inhalt: Der König von England lehnt nicht nur eine Verlobung mit Margarethe ab, sondern erklärt Frankreich hiermit den Krieg.“ Der tiefe Atemzug seines Bruders verunsicherte ihn kurz. „Der Brief soll umgehend aufgesetzt werden. Je eher dem französischen König klar wird, mit wem er sich angelegt hat, desto besser. Danach wirst du den königlichen Rat informieren. Ich erwarte die Lords im Ratssaal.“

„Obwohl ich deinen Ärger verstehe, bitte überlege dir diesen Schritt. Du weißt um die Finanzen unseres Haushalts. Zu viele Kriege haben bereits ein großes Loch in Englands Staatskasse gerissen.“

„Zerbrich dir nicht meinen Kopf“, fuhr Edward ihm über den Mund. „Ich habe vor, die Zölle zu erheben, insbesondere jene der Wolle. Außerdem wird künftig die Hälfte aller kirchlichen Einnahmen in die königliche Schatzkammer fließen. Der Reichtum unserer Obrigkeiten ist ohnehin kaum zu ertragen.“

„Der Papst wird dem nicht zustimmen.“

„Wer braucht den Papst? Der Klerus wird mir aus der Hand fressen, sobald ich bei Nichtbefolgung mit Ächtung drohe.“

„Du wagst dich weit hinaus, Bruder. Aber dein Wort in Gottes Ohr.“

„So sei es. Ach ja, noch etwas: Lass Schottlands König Balliol herzitieren. Vordergründig, um mir über die Steuern Rechenschaft abzulegen. Sobald er hier ist, werde ich ihm von der Wendung mit Frankreich berichten. Der schottische König soll an meiner Seite kämpfen.“

„Was, wenn sich Balliol sträubt? Wie dir bekannt sein dürfte, ist er dir längst nicht mehr so wohlgesonnen wie bei seiner Thronübernahme. Es brodelt in Schottland.“

„Wie dir bekannt sein sollte, ist es im Tower kaum auszuhalten. Solltest du mich also weiterhin mit Nebensächlichkeiten plagen, kannst du dir einen Kerker mit Balliol teilen.“.

Edmunds Stuhl knarzte über den Marmor. Als Edward das leise Schließen der Tür hörte, entspannte er sich. Der Blick auf seinen sandfarbenen Palast tat sein Übriges. Majestätisch erhob sich das Schloss auf Thorney Island, wie er das Gebiet noch immer nannte, obwohl es inzwischen als Westminster bekannt war. Früher ein Sumpfgebiet, durch das sich die Themse schlängelte.

Unwillkürlich dachte Edward an die rauschenden Feste in der Westminster Hall, an die vielen Siege, die er dort gefeiert hatte. Auch Frankreich würde er besiegen und die Schotten weiterhin in Schach halten, deren König vor acht Jahren bei einem Sturm in Kinghorn ums Leben gekommen war. Zuvor waren alle seine Kinder verstorben. Vielleicht ahnte der König seinen baldigen Tod voraus, denn zwei Jahre zuvor hatte er durchgesetzt, dass ihm seine Enkelin auf den Thron folgen sollte. Mit drei Jahren war sie schließlich zum Oberhaupt Schottlands ernannt worden, als Siebenjährige hatte man sie in ihr neues Herrschaftsgebiet geschickt. Bei der Überfahrt erlag sie nahe den Orkney-Inseln jedoch einer schweren Krankheit.

Diese Abdankung erzürnte Edward noch jetzt, weil sie das Scheitern eines perfekten Plans bedeutet hatte. Es war ihm nämlich gelungen, die Hochzeit zwischen seinem Sohn und der schottischen Thronerbin zu arrangieren. Doch es gab andere Mittel und Wege, um sich dieses Land anzueignen. Immerhin hatte man ihn bereits zu Lebzeiten der Thronerbin in Schottlands Interessen eingebunden, und da es vierzehn Anwärter auf den Thron abgesehen hatten, war er mit der Schlichtung betraut worden. Glücklicherweise stand Balliol gemäß der Erbfolge an erster Stelle, ein Verbündeter Englands. Aber selbst dieser Trottel ahnte nicht, dass er bei Weitem mehr wollte, als nur uneingeschränkter Lehnherr von Schottland zu sein. Das Volk war scheinbar schlauer als dessen König, denn die Widerstände gegen England mehrten sich. Aber das war eher amüsant als beunruhigend. Sein Vasall Balliol würde Schottland zu Englands Vasall machen, ob die Schotten wollten oder nicht. Und wieder einmal würde er bekommen, wonach ihm der Sinn stand. Balliol tanzte nach seiner Fiedel. Ebenso wie Robert the Bruce, der Zeter und Mordio geschrien hatte und Balliols ärgster Widersacher in der Streitfrage um den Thron war. Wie ein kleines Kind fühlte sich Bruce übergangen und war ihm bei kleineren Aufständen einige Male in den Rücken gefallen. Um ihn mundtot zu machen, hatte er ihn nach Irland geschickt sowie sämtliche Schulden erlassen. Einzig Comyn bereitete ihm Kopfzerbrechen, der manchen Aufstand initiiert hatte. Selbst Anwärter auf den Thron, verfolgte Comyn dieses Ziel jedoch nur halbherzig. Allerdings engagierte er sich sehr für König Balliol. Sicherlich auch, weil er mit ihm verwandt war. Doch Balliol würde den lästigen Comyn im Bedarfsfall sicher zur Raison bringen können.

„Störe ich?“

Edward fuhr herum. „Was für eine überflüssige Frage, Elizabeth.“ Und ob du störst!

Kaum ausgesprochen, trat sie ein. Lieber hätte er weiter an seine Erfolge gedacht, als sich zu unterhalten. Doch Elizabeth war die Tochter des Earls von Ulster, der zu seinen engsten Vertrauten gehörte. Wohl oder übel musste er sich ihr deshalb widmen, da der Earl einer der reichsten und mächtigsten Männer Englands war und hin und wieder seine Privatschatulle füllte.

Elizabeth verbeugte sich und erlaubte einen tiefen Einblick in ihr Dekolleté. Die milchige Haut wölbte sich an pikanter Stelle hervor. Das, und die scharlachrote Farbe des seidenen Stoffes, verlieh ihr etwas Verruchtes.

„Habt Ihr Euch Eurem Vater zuliebe in Rot gekleidet?“, erkundigte sich Edward mehr aus Höflichkeit, als dass es ihn interessiert hätte. „Wie geht es meinem Freund, dem Roten Earl?“

„Gut, soweit mir bekannt ist, Sire. Leider komme ich kaum dazu, seine Briefe zu lesen.“ Sie näherte sich und Edward fragte sich im selben Atemzug, womit sie wohl beschäftigt war? Mit dem Nichtstun? Man tuschelte im Allgemeinen, dass sie bis mittags schlafen und sich gerne den einen oder anderen Becher Wein gönnen würde. Allerdings war sie bisher in seinem Beisein nicht durch Trunkenheit aufgefallen. „Welchem Umstand verdanke ich die Ehre Eures Besuchs?“ Edward stellte sich hinter seinen Schreibtisch.

 

„Robert the Bruce.“ Sie zog einen Schmollmund. „Wann kehrt er endlich zurück?“

Edward taxierte sie. Elizabeth war eine Frau, vor der man sich in Acht nehmen musste. Vor allem, wenn sie etwas wollte. Und wie es schien wollte sie Robert the Bruce, um jeden Preis. Was dieser Zwanzigjährige an sich hatte, dass ihm die Frauen in Scharen hinterherliefen, wusste er nicht. Doch Elizabeths Absicht kam ihm gelegen. Einen derartigen Machthunger hatte er selten bei einer Frau erlebt. Ihr verlockender Busen, der arrogante Ausdruck in den blauen Augen und ihr aristokratisch anmutendes Gesicht regten ihn zusätzlich an. Vom hüftlangen Blondhaar ganz zu schweigen. Eine makellose Schönheit, und nicht zum ersten Mal dachte Edward darüber nach, sie in sein Bett zu zitieren. Aber da sie momentan nur Augen für Bruce hatte, wäre ein Befehl dieser Art unklug gewesen. Elizabeth ließ sich ungern zu etwas zwingen und er brauchte sie noch.

„Was hat Bruce, das ich nicht habe?“, konnte sich Edward die Frage dennoch nicht verkneifen.

„Darauf wollt Ihr nicht wirklich eine Antwort.“

„Weshalb? Habt Ihr Angst um Euren schönen Kopf?“

Elizabeths Augen verengten sich. „Womöglich.“

„Also muss ich annehmen, dass Eure Antwort wenig schmeichelhaft für mich wäre?“

„Ihr kennt das ja selbst, mein König. Alles Neue hat seinen Reiz. Wir beide hingegen sind uns zu vertraut.“

„Gut gelogen, Elizabeth.“ Ihr Augenaufschlag hatte etwas Laszives. „Ich werde Robert the Bruce Eure Vorzüge wärmstens empfehlen“, versprach Edward mit Doppelsinn. „Und wenn er mich das nächste Mal aufsucht, sorge ich dafür, dass Ihr eine Weile mit ihm allein seid. Aber Ihr kennt die Hürde, die Ihr ohne meine Hilfe schaffen müsst.“

„Seid unbesorgt, ich nehme es mit jeder Frau auf.“

„Das glaube ich Euch aufs Wort. Als Lohn für meinen Einsatz hoffe ich, dass Ihr Robert in meine Richtung lenken werdet. Ein Feind weniger käme mir mehr als gelegen.“ Ihr Lächeln vertiefte sich und ihm zeigten sich strahlend weiße Zähne. „Wenn das alles war, Elizabeth, ich muss in den Robing Room.“

„Habt Ihr eine Sitzung mit dem Kronrat einberufen?“, erkundigte sie sich und nun wurde ihr Lächeln spöttisch. „Zieht England in den Krieg? Gegen die Schotten?“ Ihre Überheblichkeit, die in den Worten lag und die auch ihr Gesicht beherrschte, stieß ihn ab wie sie ihn gleichzeitig anzog. Keine Frau am Hof war so wie sie.

„Weder das eine noch das andere“, wiegelte Edward härter als gewollt ab. „Statt Euch um Englands Interessen zu kümmern, solltet Ihr lieber darüber nachdenken, wie Ihr Robert nachhaltig becircen wollt. Übrigens, ich rechne jeden Tag mit ihm.“

Bei jedem Schritt knirschte der Schnee unter Jodies Füßen. Schneidender Wind fuhr durch die Schichten ihrer Kleider, während sie auf die Eingangspforte ihres Elternhauses zuging. Wie jeden Nachmittag hatte sie einen Spaziergang durch den Park gemacht und über vieles nachgedacht. Über ihr Leben, das keines war, woran ihr Hinken sie bis ans Ende ihrer Tage erinnern würde. Auch bei Malcolm waren ihre Gedanken wieder gewesen, der bei einer Schlacht am ´Loudon Hillˋ in East Ayrshire vor zwei Jahren gefallen war. Niemand hatte geahnt, dass er sich schottischen Truppen anschließen würde. Ich werde immer bei dir bleiben. Heute wusste Jodie, was ihr damals entgangen war. Malcolm hatte sein Versprechen gehalten. Er war bei ihr geblieben, auf seine Art. Deswegen hatte er Molly für sie geschnitzt.

Tränen traten aus ihren Augen. Wie sehr sie Malcolm vermisste! William nicht weniger. Er war damals zwar nach einem Jahr nach Hause zurückgekehrt, doch lange hatte er es nicht ausgehalten. Zum einen hatte es ständig Streit mit dem Vater gegeben, zum anderen wollte William Schottland bereisen, was er in den letzten Jahren ausgiebig tat.

Ein knarrendes Geräusch schreckte Jodie hoch.

Die Mutter trat aus dem Haus und zog sich das graue Tuch enger um die Schultern. „Komm endlich herein, sonst erfrierst du noch.“

„Gleich“, erwiderte Jodie und fühlte sich wieder um dieses bisschen Freiheit beraubt. Seit Jahren kettete die Mutter sie regelrecht ans Haus. Inzwischen hatte sie das Gefühl, das Leben einer Einsiedlerin zu führen, sofern man von ihrer Familie und dem Personal absah.

„Nicht gleich, sondern jetzt“, beharrte die Mutter und fuhr sich ordnend über das inzwischen ergraute Haar. „Nun mach schon, Kind“, fügte sie sanfter hinzu.

„John darf in die Trinkstube und William durch Schottland ziehen, ich hingegen nicht einmal vor das Haus“, murrte Jodie und setzte sich in Bewegung.

„Das stimmt nicht ganz. Du bist draußen. Außerdem ist es nur zu deinem Besten.“

„Ja, ich weiß.“ Missmutig stieg Jodie die fünf vereisten Treppen hoch. „Du meinst es nur gut.“

„Jodie Wallace, reiß dich zusammen. Du hast keinen Grund zur Klage.“

„Was diskutiert ihr hier draußen herum?“ Der Vater tauchte hinter ihrer Mutter auf. „Geh hinein, Margarete. Du solltest inzwischen wissen, dass jegliches Diskutieren mit deiner Tochter zwecklos ist.“ Deiner Tochter. Verletzt hielt Jodie seinem Blick stand, während die Mutter ins Haus ging.

Sie standen sich gegenüber. Ihr Vater überragte Jodie um einen halben Kopf. Das kinnlange Silberhaar kräuselte sich an den Spitzen. Wie immer wirkte sein faltiges, bartloses Gesicht verkniffen. „Du bist undankbar“, warf er ihr vor und blickte zum Stall hinüber. Seine Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen, bevor er sich wieder auf sie konzentrierte. Plötzlich fühlte sich Jodie wie das kleine Mädchen von damals, das in der Eingangspforte stand und hilflos dabei zusehen musste, wie dieser Mann ihre Mutter Richtung Stall bugsierte. Im nächsten Moment wähnte sie sich wieder im Keller. Sah sich selbst, wie sehr sie um die Liebe des Vaters bettelte oder sich in den Schlaf weinte.

„Du hast deine Mutter gehört. Also komm ins Haus“, holte der Vater sie in die Wirklichkeit zurück.

„Ich musste gerade an den Überfall denken“, entfuhr es Jodie, bevor sie es verhindern konnte.

Seine Züge froren ein. „Wie oft denn noch? Deine Mutter und ich wollen nicht darüber reden. Kannst du das nicht endlich respektieren?“ Mit gespreizten Fingern fuhr er sich durch das Haar. „Was genau willst du denn hören, Jodie? Wie die Sache abgelaufen ist? Meine Güte, wir könnten genauso gut alle tot sein. So gesehen sind wir glimpflich davongekommen, was dir deine Mutter schon tausendmal versichert hat. Es gibt deshalb keinen Grund, die Sache aufzuwärmen. Nebenbei gesagt wundere ich mich immer wieder darüber, wie viele Flausen dir William in den Kopf gesetzt hat.“

„Er hat nichts damit zu tun.“

„Dass ich nicht lache! Mein Sohn hat sich schon immer in Dinge eingemischt, die ihn nichts angehen und war bereits als Halbwüchsiger ein Rebell.“ Immerhin nannte er ihn seinen Sohn. „Im Augenblick stehst du William in nichts nach. Wo ist bloß die kleine Jodie geblieben, die sich mit dem zufrieden gab, was man ihr zugestand?“

Jodie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. „Und wo ist der Vater geblieben, der mich geliebt hat?“, flüsterte sie und schluckte hart. „Seit diesem unseligen Überfall vermisse ich ihn mehr als du ahnst. Sogar nach meinem Treppensturz hast du mich wie Luft behandelt.“ Sie zögerte. „Wieso kannst du mich nicht mehr lieben, Papa?“

„Hör auf“, kam es schmerzerfüllt zurück, als würde sie an einer Wunde reißen.

Tränenblind starrte sie ihn an. „Das kann ich nicht. Weil ich kein Kind mehr bin, sondern eine erwachsene Frau.“ Als stünde William hinter ihr, straffte Jodie ihre Schultern. „William hat mich nie gegen dich aufgehetzt. Aber er weiß etwas, soviel ist sicher, allerdings behielt er es all die Jahre für sich. Vermutlich vertraut er darauf, dass ihr das Richtige tun werdet, du und Mutter. Dass ihr mir erzählt, weshalb du mich wie eine Schuldige ansiehst und mich Mutter vom Rest der Welt abschottet. Was habe ich verbrochen?“