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Weil Schottlands Herz für die Freiheit schlägt

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Seine schallende Ohrfeige traf sie unvermittelt. Jodie taumelte zurück. Entsetzt blickte sie den Vater an, der seine Hand anstarrte, als gehöre sie nicht zu ihm.

„Immerhin“, presste Jodie voller Bitterkeit hervor und lehnte sich erschöpft gegen die Wand, „hast du mich endlich wahrgenommen.“ Plötzlich sah sie Tränen in seinen Augen. Im selben Augenblick wurde ihr klar, dass sie in seiner Welt tatsächlich schuldig war. Welchen Verbrechens auch immer, es musste so schwerwiegend sein, dass er es nicht schaffte, sein eigen Fleisch und Blut zu lieben.

Eine halbe Stunde später stand Jodie immer noch wie versteinert am selben Platz. Ihr Vater war längst ins Haus gegangen. Ohne ein weiteres Wort. Etwas kitzelte in ihrem Gesicht. Erst jetzt bemerkte sie, dass es zu schneien begonnen hatte und sie völlig durchgefroren war. Als sie die Pforte hinter sich schloss, atmete sie tief ein. Es roch wie üblich nach Sandelholz, auch nach Weihrauch, den besonders die Mutter zu dieser Jahreszeit liebte.

Wie still es war. Unsagbar still.

Ihr Frösteln verstärkte sich. Schnell ging sie in die Stube, die sie leer vorfand. Aber wenigstens war es warm im Raum, der gleichzeitig als Esszimmer diente und als einziger beheizt wurde. Die Flammen fraßen sich knisternd durch die Holzscheite.

Sie blickte zu den Dolchen an der Wand. Eine Stelle war heller, die Form der fehlenden Waffe deutlich zu erkennen. William hatte den Dolch mitgenommen. Ob er tatsächlich damit tötete, wie es ihm nachgesagt wurde? ´Outlawˋ wurde ihr Bruder von allen genannt, auf den ein hohes Kopfgeld ausgesetzt war. Aber sollte er die Gräueltaten tatsächlich getan haben, musste es in Notwehr geschehen sein. Ansonsten hätte sie William nie gekannt.

Das Klappern von Töpfen war aus der Küche zu hören. Jodie beschloss hinüberzugehen, weil dieses Alleinsein erdrückend war. Wenige Augenblicke später nickte sie der siebzehnjährigen Muriel zu, bevor sie sich an den zerfurchten Küchentisch setzte. In der Mitte lag frischgebackenes Brot in einem geflochtenen Korb.

„Warst du heute auf dem Markt?“, fragte Jodie, um die Stille zu vertreiben.

„Wer sonst?“, kam es schnippisch von Muriel zurück, die das beschlagene Fenster öffnete. Im Nu erkaltete der dampfige Raum. „Bei diesem Wetter jagt man keinen Hund vors Haus, es sei denn er heißt Muriel Healy. Unsere Mary hat es sich derweil in der Küche gemütlich gemacht und ihren fetten Hintern am Feuer gewärmt.“

Die alte Köchin und Muriel verstanden sich nicht gut. Vielleicht, weil Mary schon seit über zwanzig Jahren für die Eltern arbeitete, Muriel erst seit einem halben Jahr. Obwohl die Magd entgegen ihrer sonstigen Art vor Mary kuschte, fühlte sich diese offenkundig in ihrem Terrain bedroht und führte ein umso strengeres Regiment. Außerdem war Muriel sehr gesprächig, während Mary Klatsch nicht ausstehen konnte.

„Aber bevor Ihr fragt, es gibt kaum Neues.“ Wie ein Dieb blickte Muriel zur Tür. „Der Bauernmarkt war schlecht besucht und die wenigen, die gekommen sind, hatten bei den eisigen Temperaturen sowieso keine Lust zum Plaudern.“ Muriel kam zum Tisch. „Nur die alte Stuart wusste zu berichten, dass eine Todeswelle auf uns zurollt.“

Jodie brach sich ein Stück Brot ab und schob sich den Bissen in den Mund. „Wird es zum Krieg mit England kommen?“, fragte sie kauend und musste an Malcolm denken.

„Der käme mir gelegener als die Hiobsbotschaft der Stuart. Grausige Seuchen sollen im Anmarsch sein.“ Muriel nahm ein Leinentuch vom Wäschestapel auf dem Stuhl neben sich und breitete es auf dem Tisch aus. Sie waren im selben Alter, doch die Magd hatte ihr viel voraus. Vor allem die Möglichkeit, sich frei bewegen zu können.

Jodie schluckte den Bissen. „Was würde ich darum geben, an deiner Stelle zu sein.“ Sie lehnte sich zurück und spürte die harte Stuhlkante in ihrem Rücken.

„Macht Ihr Witze?“ Muriel blickte kurz zu ihr, als wollte sie sich vergewissern, nicht zu frech gewesen zu sein. Aber sie hätte sich einiges leisten können. Zu wertvoll war sie als Gesprächspartnerin, denn die Neuigkeiten vom Markt sorgten für etwas Abwechslung. Auch wenn es Jodie nicht gefiel, dass manchmal sogar über sie getratscht wurde. Viele dichteten ihr eine Geisteskrankheit an. Eigentlich nicht weiter verwunderlich, da man sie im Dorf nie wieder gesehen hatte. Trotzdem störte es sie, obwohl Muriel versicherte, dass sie die Dinge stets richtigstellen würde. „Ihr lebt in einer Burg und habt keine finanziellen Sorgen. Eure Mutter hütet Euch wie ihren Augapfel und Euer Vater ist ein umgänglicher Mensch. Davon abgesehen seid Ihr mit Schönheit gesegnet. Euer langes kastanienbraunes Haar glänzt und eure Haut ist makellos. Auf meinem Gesicht hingegen sprießen Pusteln, als würden sie ein Familientreffen abhalten. Die schmale Nase habt Ihr von Eurem Vater, die grünen Augen von Eurer Mutter. Überhaupt seid Ihr meiner Herrin wie aus dem Gesicht geschnitten. Mitsamt den langen Wimpern, den geschwungenen Lippen und Eurer zarten Gestalt. Und da hadert Ihr mit Eurem Leben? Die Anwärter um Eure Hand müssen ja förmlich Schlange stehen. Ich schätze, Euer Vater hat alle Hände voll damit zu tun, den passenden Mann zu finden.“

Jodie fuhr sich mit beiden Händen über die müden Augen. „Wie soll ich je einen Mann kennenlernen? Dazu müsste ich unter die Leute kommen, einen Ball besuchen dürfen oder etwas dergleichen. Außerdem weiht mich Mutter ohnehin ständig in die Abgründe der Männer ein. Ich werde in diesem Haus als alte Jungfer sterben.“

„Eure Mutter will eben nicht den Erstbesten, sondern dass Ihr glücklich seid.“

„In ihren Augen sind alle Männer Schweine.“

Muriel lachte verhalten. „Das wird Eurem Vater sicher nicht gefallen.“

„Wie meinen Brüdern, die sie jedoch offenkundig liebt.“

„Also können nicht alle Männer schlecht sein.“

„Das habe ich ihr auch gesagt.“

„Was hat sie geantwortet?“

„Dass sie meine Brüder erzogen hat und die drei deswegen zu den Guten gehören. Vielmehr die zwei, die uns noch geblieben sind.“

„William kenne ich nicht und der kleine John ist ziemlich grün hinter den Ohren, wenn Ihr mich fragt. Will den Helden spielen, dabei ist er ein Feigling, sobald es darauf ankommt.“ Die zweideutige Miene warf allerhand Fragen auf, doch Jodie hatte andere Sorgen als dass sie genauer nachgefragt hätte.

„John eifert William nach“, verteidigte sie ihren Bruder stattdessen. „Das hat er schon immer getan. Erst recht seitdem Malcolm gefallen ist.“

„Na ja, irgendwann wird auch John ein paar Ecken und Kanten bekommen und sich nicht mehr in die Hosen machen, sobald ihn etwas erschreckt.“ Jetzt grinste sie. „Manchmal kommt er mir vor wie ein Weib, und ehrlich gesagt, er redet auch so viel wie unsereins.“

„Apropos reden: Hast du aus Mary noch immer nichts herausbekommen?“

Muriels heitere Miene verfinsterte sich. „Sie ist verschlossen wie eine Auster. Aber ich habe langsam ebenfalls das Gefühl, dass diese Mauern ein Geheimnis hüten. Eines, das auch Mary schützt wie ein Grab.“

„Woher dieser plötzliche Sinneswechsel? Bisher hast du mich nur ausgelacht.“

„Eure Mutter und Mary kleben bei jeder Gelegenheit zusammen. Und dann diese wissenden Blicke, die sie ständig tauschen … leider ist es mir nicht gelungen, eines ihrer Gespräche zu belauschen. Mary hat Ohren wie eine Fledermaus.“

„Schade. Ich hatte gehofft, dass es wenigstens dir gelingen könnte.“

Mit eingeschnappter Miene faltete Muriel das Tuch zusammen. „Immerhin habe ich es versucht, aber wenn Ihr schon so neunmalklug seid, dann macht es doch selbst!“

„Jetzt wirst du beleidigend, Muriel.“

„Entschuldigt, ein Überbleibsel meiner schlechten Erziehung.“ Die Magd griff zum nächsten Tuch. „Meine Zieheltern haben ständig in diesem Ton mit mir gesprochen, sofern sie mich nicht geschlagen haben. Ihr hättet es also tausendmal schlechter erwischen können.“

„Was ist mit deinen Eltern?“

„Die kenne ich nicht und wurde von einem Verwandten zum nächsten gereicht. Mehr als ein Arbeitstier bin ich nie gewesen, und so bin ich auch behandelt worden. Erst seitdem ich hier bin können die Wunden heilen, die zahllose Schläge hinterlassen haben. Ich trage saubere Kleidung und bin niemandem Rechenschaft schuldig. Ausgenommen meinem Dienstherrn. Euer Vater ist gut zu mir.“

„Was ich nie in Abrede gestellt habe“, entgegnete Jodie. Natürlich fehlte es ihr an nichts. Sie trug schöne Kleider, hatte zu essen und ein Dach über dem Kopf. Doch dieses Leben war wie in Daunenfedern gepackt. Nichts drang herein, nichts nach draußen. „Mein Vater hasst mich.“ Sie rieb sich abwesend die Wange.

Muriel verschloss das Fenster. „Das bildet Ihr Euch ein.“

„Genauso wie du dir einbildest, dass wir reich sind.“

„Seid Ihr ja.“

„Wir gehören zum Landadel ohne jegliche Titel, noch dazu sind wir verarmt.“

„Trotzdem habt Ihr mehr, als Menschen wie ich je haben werden.“ Jodie zog es vor zu schweigen, denn insgeheim musste sie ihr recht geben. Zumindest in dieser Hinsicht. „Und jetzt muss ich mich sputen.“

Gedankenverloren schaute Jodie der Magd dabei zu, wie sie ein Tuch nach dem anderen zusammenlegte und aufeinanderstapelte. Als Mary zur Tür hereinrauschte, verließ sie die Küche, suchte ihre Kammer auf und betrachtete vom Fenster aus die winterliche Landschaft, bevor sie sich seufzend auf das Bett setzte.

Hellgrüne Brokatvorhänge hingen vor den Fenstern und am Himmelbett. Die Tagesdecke und der Überzug der Truhen, in denen ihre Kleider aufbewahrt wurden, waren aus rotem Brokat. Ein weinroter Teppich lag auf dem Boden, der aus dem Besitz des Großvaters stammte. Auch hier trug alles die Handschrift ihrer Mutter, die das Zimmer eingerichtet hatte. Aber was war mit ihrer eigenen? Mit ihren Wünschen und Träumen? Sehnsüchten?

 

„Deine Mutter braucht dich in der Küche“, hörte Jodie plötzlich die Stimme des Vaters und zuckte zusammen. Dann wandte sie sich um. „Lass sie nicht warten.“ Mit einer Kerze in der Hand stand er in der Tür. Bei jedem Atemzug flackerte die Flamme. Er wirkte erschöpft.

„Ich komme.“ Sie blieb, wo sie war.

„Das mit der Ohrfeige … ich wollte das nicht. Aber deine ständigen Fragen und Unterstellungen …“

„Unterstellungen?“, unterbrach sie ihn kaum hörbar.

„Lass uns nicht wieder damit anfangen“, bat er leise, bevor sich die Tür schloss.

Der Vollmond leuchtete am Himmel. Sein milchiges Licht hob die wenigen Möbelstücke im Schlafzimmer aus dem Dunkel. Alans gleichmäßiges Atmen war zu hören, trotzdem wusste Margarete, dass er nur so tat als würde er schlafen. Ebenso, wie sie es all die letzten Jahre getan hatte, damit er ihre Pflichten nicht einforderte. Sicherlich, einige Male war es dazu gekommen, doch im Großen und Ganzen ließ Alan sie in Ruhe. Dabei war er früher ein unersättlicher Liebhaber gewesen.

„Heute hat mich Jodie schon wieder mit ihren Fragen gequält“, drang es leise durch den Raum. Trotzdem erschrak Margarete, als hätte Alan geschrien und nicht geflüstert. Und doch, seiner Stimme hatten die Vehemenz und Härte gefehlt, die er üblicherweise an den Tag legte, sobald er über Jodie sprach. Aber vermutlich war er einfach nur müde.

„Unsere Tochter ist erwachsen“, sagte Margarete. Begleitet von einem mürrischen Ton verlagerte Alan sein Gewicht. Sie starrte auf seinen breiten Rücken. „Wunderst du dich tatsächlich, dass sie sich deine Lieblosigkeit immer weniger gefallen lässt?“ Tränen stiegen in ihre Augen. „Du kannst unserer Tochter nicht ewig die Schuld geben.“

„Ausgerechnet du machst mir Vorwürfe?“, kam es prompt zurück. Von wegen müde! „Du, die ihr ständig vor Augen hält, wie schlecht Männer sind. Die sie einsperrt wie ein Tier. Um sie vor jeglichen Übergriffen zu schützen.“

„Lieber das, als sie spüren zu lassen, dass man sie am liebsten forthaben will.“

„Wäre Jodie nicht gewesen, hättest du dich nie dazu hinreißen lassen.“

Ihr Herz zog sich zusammen. Alan hielt an dieser Aussage fest wie an einem Strohhalm. „Ich tat es unserer aller Kinder wegen.“

„Aber Jodie gab den Ausschlag.“

Diese Vorwürfe - tagein, tagaus - die das Ungeheuerliche ständig an die Oberfläche zerrten. Mitsamt den Bildern, die sie ohnehin seit damals verfolgten. Wie sehr sie George von Mar hasste! Er hatte ihr Leben zerstört. In einer einzigen Nacht. Nein, vielmehr in einer einzigen Stunde.

Blutjung war sie gewesen, als sie ihm einst auf einem Ball begegnet war. Geblendet vom Auftreten und dem jugendlichen Charme des Earl of Atholl. Ihre Eltern waren erfreut gewesen, dass er ihr den Hof machte. Sie selbst nicht weniger. George hatte Einfluss, war einer der reichsten Männer Schottlands und ein begehrter Junggeselle gewesen. Kein Mädchen auf dem Ball hätte ihm widerstanden. Nicht anders war es ihr ergangen. Noch am ersten Abend hatte sie sich hinter einer Eiche zu ihrem ersten Kuss hinreißen lassen. Ein Kuss, der sie zu den Wolken hinaufgetragen hatte. Aufregend und neu war ihr das Leben plötzlich erschienen und sie hatte sich fürchterlich erwachsen gefühlt.

Eine Woche später hatte George sie in ihrem Elternhaus aufgesucht und seinen Neffen mitgenommen. Es war ein fröhlicher Nachmittag, und wie üblich war George zuvorkommend und höflich gewesen. Das änderte sich allerdings, als er sie eines Abends besuchte und alleine vorfand. Ihre Eltern waren ausgegangen …

Seine Küsse waren fordernder geworden, wie seine fast brutalen Berührungen. Deshalb hatte sie es mit der Angst zu tun bekommen und ihn mit der Ausrede zurückgewiesen, dass ein Beischlaf vor der Ehe Sünde wäre. Aber George hatte sie ausgelacht. Er war kein Mann, der ein Nein akzeptierte. In dieser Nacht hatte er sie zum ersten Mal vergewaltigt!

Danach zog sie sich zurück. Sobald er zu Besuch kam, sperrte sie sich in ihrem Zimmer ein. Ihre Eltern waren ratlos gewesen, sogar zornig auf sie und über ihre Abweisung George gegenüber. Bis sie es eines Tages nicht mehr ausgehalten und ihnen von seiner Tat erzählte hatte. Von der Panik, schwanger zu sein. Daraufhin hatte ihr Vater George bei seinem nächsten Besuch wie einen Hund davongejagt. Solltest du dich jemals wieder herwagen, werde ich dich eigenhändig umbringen, hatte er ihm gedroht. Wie mutig er gewesen war!

Das Vermögen des Vaters war im Vergleich zu Georges lachhaft, trotzdem hatte er sich schützend vor sie gestellt. Ebenso wie die Mutter. Das würde sie ihren Eltern nie vergessen, die leider kurz nach ihrer Hochzeit mit Alan starben. Bis dahin hatte George nie wieder etwas von sich hören lassen. Sogar ein befürchteter Racheakt war ausgeblieben. Aber als er damals plötzlich mit seinen Komplizen bei ihrer Burg auftauchte, war ihr bewusst geworden, dass er seine Rache nur aufgeschoben hatte. Um sie dort zu treffen, wo sie am verletzlichsten war: In ihrem Zuhause. Vor Alans Augen, und mit Sicherheit hätte er auch vor den Kindern nicht Halt gemacht. Georges Plan war aufgegangen. Er wollte ihr Leben vergiften und hatte es geschafft.

Bis zu diesem Zeitpunkt war sie glücklich gewesen. So unsagbar glücklich. Denn als Alan in ihr Leben getreten war, geriet Georges erste Vergewaltigung allmählich in den Hintergrund. Vom ersten Augenblick an hatte sie sich in Alan Wallace aus Ayrshire verliebt, dessen Berührungen sie genossen und dem sie sich voller Leidenschaft hingegeben hatte.

Doch diese Leidenschaft, sein Begehren, ihr gemeinsames Lachen - es war alles verschwunden. Jede Zärtlichkeit, jeder Kuss. George hatte mit der neuerlichen Vergewaltigung im Stall sein Ziel erreicht, aber anders als gedacht. Nicht sie dachte ständig an ihn. Alan war es, der die Tragödie nicht mehr aus dem Kopf bekam, die wie ein Geschwür in ihm wucherte. Mitsamt der Schwangerschaft, die sie festgestellt hatte, bevor Jodie über die Kellertreppe gestürzt war. Während ihre Tochter mit zwei gebrochenen Beinen im Bett gelegen hatte, ließ sie sich von einer Engelmacherin das Kind wegmachen. Danach hatte sie wochenlang unter den Nachwirkungen gelitten, an hohem Fieber und Schmerzen. Selbst da hatte es ihr Mann nicht der Mühe wert gefunden, ihr zur Seite zu stehen. Im Grunde war diese Ehe nur noch eine Farce.

„Weißt du, was ich mich manchmal frage?“ Alan drehte sich zu ihr um.

„Nein.“

„Was hast du empfunden, als George … ich meine …“

Scharf sog sie den Atem ein. „Du willst mir jetzt nicht allen Ernstes unterstellen, dass ich es genossen habe?“ Das konnte nicht wahr sein! Fühlte er sich etwa wie ein Betrogener? War es das, was ihn all die Jahre von ihr ferngehalten hatte?

„Immerhin bist du einmal in ihn verliebt gewesen.“

„Bis ich gemerkt habe, was für ein Scheusal er ist. Wie kannst du nur im Entferntesten annehmen, dass ich mich George freiwillig hingegeben hätte? Hast du denn vergessen, was ich dir erzählt habe? Warum es zum Bruch zwischen uns gekommen ist?“

„Du bist meine Ehefrau und trotzdem hat er dich da berührt, wo ich dich berührt habe. Aber dem nicht genug. Der Albtraum ist weitergegangen. Du wurdest sogar schwanger von ihm.“ Seine Stimme war voller Bitterkeit. „Umso mehr bleibe ich dabei: Es hätte andere Mittel und Wege gegeben, um die Sache zu verhindern.“

„Zwei gegen fünf? Was hätten wir beide gegen sie ausrichten können?“

„Wir beide nichts, aber hätte mir jemand aus dem Dorf geholfen, hätten wir die Schweine zum Teufel jagen können.“

„Bin ich jetzt etwa auch schuld daran, dass dir niemand die Tür geöffnet hat?“ Alan war im Dorf unten gewesen, um Hilfe zu holen. Vergeblich.

„Das habe ich nicht gesagt, doch mir wären zig andere Möglichkeiten eingefallen. Nur nicht das, was du getan hast.“

„Ich hasse diesen Mann und empfinde nur Abscheu für ihn“, sagte sie mit bebenden Lippen und Tränen in den Augen. „Alles was zählte war das Leben unserer Kinder.“

„Nichts als leere Drohungen, um ans Ziel zu kommen.“

„George ist kein Mann leerer Drohungen.“

„Stimmt. Er hat sein Wort gehalten und es dir besorgt.“

Alans Worte trafen sie nicht weniger, als hätte er mit einem Messer zugestochen. „Warum fühle ich mich plötzlich wie eine Hure?“ Margarete suchte nach Worten. Seine Augen funkelten im seichten Licht. „Hast du jemals darüber nachgedacht, was Georges Tat in mir auslöste?“

„Ich mache seit damals nichts anderes.“

„Und reimst dir eine ungeheuerliche Geschichte zusammen. Das ist nicht fair, Alan. Das ist einfach nicht fair.“ Margarete setzte sich auf und starrte zum Mond. Dabei sah sie den Stall vor ihrem geistigen Auge. George, wie er sich über sie beugte. Seine Kälte hatte sie gelähmt und sein Lachen war, als hätte ihr jemand die Kehle zugedrückt. Hart und roh war er in sie eingedrungen, jeder Stoß war von immenser Brutalität gewesen. Als er sich in ihr ergossen und seinen schwitzenden Leib von ihr heruntergerollt hatte, war der nächste an die Reihe gekommen. Alle fünf Männer hatten sie vergewaltigt. Alle fünf! George, Roger de Montfort, William Green, Walter Steward und Patrick the Bruce. Bis heute wusste Alan nichts davon und das würde so bleiben, denn dieses Geheimnis musste sie mit ins Grab nehmen. Die halbe Wahrheit hatte bereits genug zerstört - vor allem, was die Kinder betraf.

Margarete seufzte. Wie sehr sie ihre Tochter liebte, und ihre Söhne. Aber auch hier hatte das Schicksal genommen statt zu geben. Herr im Himmel, hatte sie nicht genug gelitten? Hatten ihre Kinder nicht genug ertragen müssen? Allen voran Jodie?

„Wir müssen den Kindern reinen Wein einschenken, Alan. So kann es nicht weitergehen.“ Schon lange trug sie sich mit dieser Absicht. Nicht zuletzt wegen Marys Zureden, die sie nach der Vergewaltigung verarztet und in deren Armen sie sich alles von der Seele geweint hatte.

„Das ist nicht dein Ernst!“, fuhr er sie an.

„Und ob. Gerade Jodie braucht die Wahrheit. Nur dann wird sie verstehen können, weshalb ich sie an mich kette und du voller Kälte bist.“

„Wenn du das tust, dann …“

„Dann was?“, flüsterte sie. „Willst du mich verlassen? Oh Alan, das hast du längst getan. Bisher dachte ich, dass du George nicht aufhalten konntest, würde dich am meisten belasten. Seit heute weiß ich, dass du mir Betrug unterstellst.“

„Ich kann es nicht ändern“, gab Alan zu. „Da sind Bilder in meinem Kopf, die sich nicht verdrängen lassen. Sie machen mich wahnsinnig. Ja, ich fühle mich, als hättest du mich mit George betrogen und frage mich, warum du es zugelassen hast. Gleichzeitig hadere ich mit mir, weil ich es nicht verhindern konnte. Ich drehe mich im Kreis und finde einfach nicht hinaus.“ Margarete verdrängte das aufkeimende Mitleid. Nicht nur er hatte gelitten! „Nach meinem Saufgelage habe ich versucht, wieder auf euch zuzugehen. Besonders auf Jodie. Doch dann bist du schwanger geworden und ich … ich bin schuld, dass unsere Tochter hinkt.“

„Du hast Jodie nicht absichtlich gestoßen, sondern warst aufgebracht“, kam sie ihm entgegen, obwohl er es nicht verdient hatte, aber Recht musste Recht bleiben. „Genau wie ich. Jodie würde das verstehen. Deswegen müssen wir mit ihr reden.“

„Es ist zu spät, dazu ist zu viel passiert. All die Jahre habe ich ihr den Vater vorenthalten. Sie hat mir heute selbst gesagt, wie sehr sie mich gebraucht hätte. Wie könnte sie mir je verzeihen? Ich kann es ja nicht einmal selbst. Und du scheinst bei allem zu vergessen, dass William die Wahrheit kennt. Seine Worte haben mich tief getroffen. Dem will ich mich nicht erneut aussetzen.“

„Lieber steckst du weiterhin den Kopf in den Sand. Ganz unrecht hat William nicht gehabt.“ Sie wusste, dass sie ihn damit verletzte, aber Alan machte sich die Sache viel zu einfach. „Ich muss ertragen, dass du mich wie eine Hure behandelst“, fuhr sie fort, „du musst ertragen, dass dir William vorwirft, nicht wie ein Mann gehandelt zu haben.“

„Wer hätte ahnen können, dass auch er damals Zeuge …“ Alan brach ab. „Wie bewegungslos er vor dem Stall stand.“

Als Alan ihr davon erzählt hatte, wäre sie beinahe durchgedreht und war von der Heidenangst beherrscht worden, dass ihr Sohn mehr gesehen hatte als sie ertragen hätte. Doch nie hatte William ein Wort darüber verloren - bis er zu einem Mann herangewachsen war und das Thema anschnitt. Zu ihrer Erleichterung hatte ihr Sohn allerdings nur nach dem Namen des Mannes gefragt, der sie zum Stall gezerrt hatte.

 

Es hätte keinen Sinn gemacht, ihm den Namen vorzuenthalten. William hätte nicht aufgegeben - das tat er nie. Doch am selben Tag war es zum endgültigen Bruch zwischen ihm und seinem Vater gekommen. Dem voraus ging ein Streit zwischen ihr und Alan. Ihr Mann hatte sie angebrüllt, weil sie Georges Namen genannt hatte. William hatte sie verteidigt und Alan seinerseits heftige Vorwürfe gemacht. Wegen seiner Haltung zu König Edward und wegen Jodie. Dann war William gegangen, und seitdem zog er als Rebell gegen König Edward und voller Hass auf England durch das Land. Sie ahnte, dass ihn sowohl Malcolms Tod antrieb als auch der Übergriff auf sie. Vielleicht hat er außer Georges Namen alle anderen Antworten längst gehabt und deswegen nicht weiter nachgefragt, kam es ihr jäh in den Sinn. „Für einen Neubeginn ist es nie zu spät, Alan. Doch dafür muss man reinen Tisch machen.“

„Meine eigene Wahrheit ist zu lange ein Teil von mir, als dass ich sie ablegen könnte wie eine zweite Haut. Ob du es glaubst oder nicht, ich liebe euch. Dich und Jodie, unsere Jungs. Aber ich bin verbittert geworden und schlage lieber um mich, als dass ich Gefühle zulassen würde. Hart zu sein ist einfacher, auch wenn man sich schäbig fühlt. Doch dann kann man wenigstens nicht mehr verletzt werden.“

„Und verletzt dafür andere? Hörst du dir eigentlich selber zu? Würden alle so denken, wäre es arm um die Menschheit bestellt.“

„Vielleicht ist es besser, wenn Jodie das Haus verlässt.“ Seine Stimme klang selbstquälerisch. „Dann könnte mein kleines Mädchen endlich glücklich werden.“

„Du willst sie fortschicken?“, fragte Margarete, erneut den Tränen nahe.

„Wenn man jemanden liebt - ihn aber nur unglücklich macht - sollte man ihn gehen lassen. Wir beide haben Jodie lange genug eingesperrt.“

„Ihr seid am Zug, werter George von Mar.“ Elizabeth deutete auf das Spielfeld. Sie befanden sich im Vorzimmer zu ihren Gemächern. Anheimelnd brannte Feuer im Kamin. Silberne Rüstungen schmückten den Raum, Lanzen und Schwerter die Wände. Seit jeher umgab sie sich lieber mit nützlichen Dingen als mit weibischem Dekor. Selbst ihre Hofdamen konnte sie kaum ertragen, weil sie sich ständig ausstaffierten, als wären sie zu einem Ball geladen. Das störte sie immens, weil sie Konkurrenz neben sich nicht ausstehen konnte. „George, habt Ihr mich nicht gehört?“ Abrupt hob er den Kopf. „Eure geistige Abwesenheit ist unhöflich. Wärt Ihr nicht mein Freund, müsste ich Euch auspeitschen lassen.“

„Verzeiht, aber meine Ländereien beschäftigen mich.“

„Schwierigkeiten?“ Elizabeth lehnte sich zurück. Der Stuhl knarrte.

„Nicht der Rede wert“, wiegelte er ab. „Im Gegensatz zu anderen Entwicklungen. Wie man hört, verschärft sich die Situation zwischen König Edward und Frankreich.“

„Mag sein, aber in dieser Hinsicht wisst Ihr vermutlich mehr als ich. Außerdem interessiert mich Politik nicht im Geringsten. Trotzdem bin ich neugierig, woher Eure Information stammt.“

„Ich habe meine Quellen.“

„Die Ihr nicht verraten möchtet?“

Lächelnd beugte er sich halb über das Spielfeld und schaute ihr tief in die Augen. „Vielleicht später, wenn Ihr nackt vor mir liegt.“

Ein süßes Ziehen im Unterleib ließ Elizabeth erschauern. George war ein willkommener Gegner im Shatranj-Spiel und ein ebenso willkommener Liebhaber. Obwohl er in die Jahre gekommen war, an Erfahrung hatte er jedem Jüngeren viel voraus. Außerdem mochte sie seine ungestüme Art und die Härte, eine Frau voll und ganz einzunehmen. Zu guter Letzt konnte sie sich dank George die Zeit bis zu Roberts Rückkehr auf angenehme Weise vertreiben. „Nichts als leere Versprechungen. Im Bett wart Ihr nie ein Mann vieler Worte.“

„Ich denke, meine Zunge sagt Euch genug.“

„Über Eure Zunge will ich mich bestimmt nicht beklagen.“ Entspannt griff sie zum Weinbecher.

„Ihr solltet die Trinkerei lassen“, wurde sie prompt bevormundet. Erbost hielt Elizabeth in ihrer Bewegung inne. „Man spricht bereits hinter vorgehaltener Hand darüber.“

„Passt auf, was Ihr sagt, George! Dass wir uns hin und wieder auf demselben Laken wälzen, gibt Euch noch lange nicht das Recht mich zu maßregeln. Sogar mein Vater hält sich aus meinem Leben heraus, oder besser gesagt interessiert er sich erst gar nicht für mich. Ihr tätet gut daran, Ersteres ebenfalls zu beherzigen. Wie ich lebe geht nur mich etwas an.“

George hob beschwichtigend die Hände. „Ich wollte Euch keinesfalls maßregeln.“ Versöhnliche Worte, doch wie üblich schwang etwas Lauerndes in seiner Stimme mit. Auch seine leicht mandelförmigen blauen Augen wirkten listig. Davon abgesehen war er jedoch ein attraktiver Mann mit graumeliertem Haar, einem energischen Zug um den unersättlichen Mund und hochgewachsen. Sogar die unförmige Nase schmeichelte ihm eher als dass sie störte. Vielleicht, weil sie Indiz dafür war, dass er keinem Gegner aus dem Weg ging. Bereits zweimal war sie ihm bei Auseinandersetzungen gebrochen worden. Das machte ihn nur interessanter. „Aber wie man hört, sorgt sich Euer Vater und schreibt Euch jeden Monat. Von wegen er interessiert sich nicht für Euch.“

Sie trank hastig einige Schlucke, bevor sie das Gefäß mit Nachdruck neben das Spielbrett stellte, auf dem einige Spritzer Wein landeten. „Seine Briefe haben nur einen Inhalt: Eine Liste meiner Ausgaben. Abgesehen von Geld interessiert meinen Vater nur sein guter Ruf. Glaubt mir, seine angebliche Sorge ist nichts als eine Farce. Er genießt es, wenn er im Mittelpunkt steht und lässt sich gern von aller Welt bedauern, dass er eine solch undankbare Tochter hat. Ich bin also bloß Mittel zum Zweck.“

„Trotzdem solltet Ihr es Euch nicht mit ihm verscherzen. Schließlich ist Euer Vater Herr über ein beträchtliches Vermögen, das eines Tages Euch gehören soll. Er ist bekannt dafür, dass er mit seinen Feinden nicht zimperlich umgeht.“

„Ihr zählt mich zu dieser Gruppe?“

„Zu dieser oder zu seinen Freunden. Ein Urteil würde ich mir nie erlauben, aber Euer Vater behandelt alle Menschen mit derselben Verachtung, wenn sie ihm in die Quere kommen. Ich schätze, innerhalb der Familie wird er nicht plötzlich zum Lämmchen werden.“

„Ich hätte seinen Charakter nicht besser beschreiben können.“ Elizabeth nahm den König vom Spielfeld und drehte ihn zwischen ihren Fingern hin und her. Bei jeder Bewegung blitzten ihre wertvollen Ringe auf. „Mein Vater hat ein überschäumendes Temperament, was vor allem Mutter zu spüren bekommt. Er brüllt sie an, verdrischt und beleidigt sie.“

„Frauen brauchen eine harte Hand.“

Der König schoss in seine Richtung und traf ihn unter dem rechten Auge. Ein Schmerzenslaut entfuhr George, während sich seine Hände zu Fäusten ballten.

„Wagt nie wieder eine solche Respektlosigkeit meiner Mutter gegenüber!“, herrschte sie ihn an. „Ansonsten werdet Ihr am eigenen Leib erfahren, was es heißt, wenn jemand zurückschlägt. Seitdem ich es getan habe, bin ich für Vater Luft. Ja, seht mich nur verdutzt an. Ich gehöre nicht zu den Frauen, die sich alles stillschweigend gefallen lassen. Vater wird meine Schläge ebenso wenig vergessen wie Mutter und ich die seinen.“

„Ihr habt Euren Vater geschlagen?“ George pfiff durch die Zähne. „Alle Achtung. Ich traute Euch ja viel zu, aber das sprengt jedes Fass.“

„Nun“, erneut genehmigte sie sich einige Schlucke und spürte, wie sich die Wirkung langsam in ihrem Körper entfaltete. „Die Ignoranz meines Vaters hat mich nie gestört. Weder als Kind noch jetzt“, log sie.

„Dann ist es ja gut. Trotzdem möchte ich Euch nicht vorenthalten, dass Euer Vater vorgestern beim König vorgesprochen hat. Angeblich Euretwegen. Der Grund für dieses Gespräch ist mir aber nicht bekannt.“

„Eure Quellen scheinen nicht so zuverlässig zu sein wie Ihr mir glauben machen wolltet.“ Sie lächelte, obwohl ihr zum Weinen war. Der Grund, weswegen ihr Vater König Edward aufsuchte, war ihr egal. Für sie ging es um weit mehr. Stets hatte sie versucht, den Ansprüchen ihres Vaters zu genügen. Nun, da sie aus der Reihe tanzte und nicht mehr unter seinen Fittichen stand, erinnerte er sich plötzlich an sie. War ihm ihr Hang zum Trinken zu Ohren gekommen? Wusste er, dass sie das Zeug noch vor dem Frühstück aus sich herausspie und dass die Spuckschüssel einen festen Platz neben ihrem Bett hatte? Doch was hätte sie anderes tun sollen, als sich jeden Tag zu betrinken? Angesichts dessen, dass sie einen solchen Vater hatte, der ihr eine lieblose und harte Kindheit bescherte?