Briefe aus der Ferne

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Briefe aus der Ferne
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Frigga Haug (Hg.)

Briefe aus der Ferne

Anforderungen an ein feministisches Projekt heute

Argument

Argument Sonderband Neue Folge AS 304

Übersetzungen von Ulrike Behrens,

Daniel Fastner, Sylvester Fraundorf, Frigga Haug,

Iris Konopik, Else Laudan, Christine Lehmann,

Anja Lieb, Sabine Plonz, Sabine Zürn

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

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sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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unter Verwendung einer Grafik von © James Steidl - Fotolia.com

Satz: Iris Konopik

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

ISBN 9783867549523

Erste Auflage 2010

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Frigga Haug: Einleitung

Die Briefe

Mari Paz Balibrea

Linker Feminismus heute

Abigail Bray

Toni Brinkmann

Wie könnte eine linke feministische Bildungspolitik aussehen?

Christel Buchinger

Fragen an ein linkes feministisches Projekt

Judith Butler

In Prozesse der Prekarisierung eingreifen

Gabriela Cañas

Von Klamotten und Silikon

Cynthia Cockburn

Die feministische Agenda in die Linke tragen – geht das?

Bronwyn Davies und Susanne Gannon

Feminismus und Poststrukturalismus

Gabriele Dietrich

Bündnisse für eine Gesellschaft des Lebens

Hester Eisenstein

Judith Ezekiel

Linker Feminismus und ein Feminismus für die Linke: eine franko-amerikanische Sicht

Rose Baaba Folson

»Ohne Frauen ist kein Programm zu machen«

Harriet Fraad

Eine marxistisch-feministische politische Plattform

Montserrat Galcerán

Was kann linker Feminismus heute bedeuten?

Ingrid Galster

Thesen zu einem linken feministischen Projekt heute

Lena Gunnarsson

Bereit für die Liebe?

Frigga Haug

Feminismus – wer versteht was darunter und was bedeutet er uns?

Rosemary Hennessy

Maria Joó

Nach der Befreiung der Frau. Butler oder Beauvoir in der postsozialistischen Situation?

Larissa Krainer

Praktischer Feminismus – feministische Praxis

Birge Krondorfer

Eine gute Partie?

Jo Labanyi

Die Ethik der Rechte durch eine Ethik der Sorge ersetzen

Christine Lehmann

Überlegungen zu einem modernen Feminismus

Elisabeth List

Links oder sozialistisch?

Isabel Loureiro

Susanne Maurer

»Soziale Phantasie« – Feminismus und Herrschaftskritik heute

Sara Mills

Liv Mjelde

Neue Herausforderungen und neue Anforderungen an die Geschlechterfrage

Maxine Molyneux

Gisela Notz

Zukunft und Visionen für eine feministische Arbeitspolitik

Claudia Pinl

Was heißt feministische Politik heute?

Nora Räthzel

Maria da Consolação Rocha

Die Auswirkungen der neoliberalen Politik auf das Leben der brasilianischen Arbeiterinnen seit den 1990er Jahren

María Ruido und Virginia Villaplana

Notizen zur Debatte um Beziehungen zwischen Kunst und Politik

Helke Sander

Birgit Sauer

Femifest. Ein feministisches Manifest?

Antje Schuhmann

Nation, Staat, Partei: Leerstellen feministischer Veränderung?

Sarah Schulman

Terri Seddon

An einer »Politik des Wir« arbeiten

Lynne Segal

Erneuerungen des Feminismus

Ruth Seifert

Geschlecht und Klasse und der »liberale Friede« in der Nachkriegsrekonstruktion

Gayatri Chakravorty Spivak

 

Sybille Stamm

Anforderungen an ein linkes feministisches Projekt und die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt

Janna Thompson

Gedanken zu einer feministischen Politik

Renate Ullrich

Neuer Feminismus?

Christa Wichterich

Das Projekt linker Feminismus im 21. Jahrhundert. Eine Skizze

Nira Yuval-Davis

Toni Brinkmann: Erste Eindrücke

Frigga Haug: Kein Abschluss

Frigga Haug: Anhang

Fußnoten

Veröffentlichungen von Frigga Haug bei Argument

Einleitung
Gespräch mit Lenin

Warum sollte man ein Buch mit internationalen Stimmen zu einem aktuellen linken feministischen Projekt ausgerechnet mit Lenin beginnen? Soweit man heute überhaupt noch von ihm weiß, so, dass er mit Gewalt und Terror zusammenzudenken ist. Man mag sich noch an seine umstürzende Rolle in der russischen Revolution erinnern, aber auch da wohl kaum an eine besondere Verbindung zur Frauenfrage. Lenin soll zwar gesagt haben, die »Köchin soll den Staat regieren«1, aber genügt dies, dass wir unser Buch über den internationalen politischen Feminismus mit Gedanken über ihn eröffnen?

Zunächst faszinierte mich der Titel »Briefe aus der Ferne«, wie einige seiner Texte zusammenfassend heißen. Ich wollte ihn unbedingt für unser internationales Projekt übernehmen, um so auch den Briefcharakter, den die Texte zumeist haben, hervorzuheben und das Echo einer unklaren Sehnsucht anklingen zu lassen. Da dies aber von Lenin entwendet war, musste ich es extra begründen und machte mich also daran, seine Briefe zu lesen, immer auch mit der Möglichkeit, von meinem Vorhaben abzulassen. Hier aber fand ich Unerwartetes, das die Titelwahl ganz anders fundiert und unsere fertigen Vorurteile herausfordert.

»Wunder gibt es weder in der Natur noch in der Geschichte, aber jede schroffe Wendung der Geschichte, darunter auch jede Revolution, offenbart einen solchen Reichtum an Inhalt, entfaltet so unerwartet eigenartige Kombinationen der Kampfformen und der Kräfteverhältnisse der Kämpfenden, dass dem spießbürgerlichen Verstand vieles als Wunder erscheinen muss.« (7) So schrieb Lenin im März 1917 aus dem Schweizer Exil in ein Russland, in dem soeben eine Revolution ausgebrochen war. Er durchforschte fieberhaft die internationalen Zeitungen, suchte nach Nachrichten über die Vorgänge in Russland, entwarf Ratschläge, ja Anweisungen, die er Briefe aus der Ferne nannte2. Sie mussten »diese verfluchte Ferne« (35) überbrücken, in der er nicht vor Ort der Geschehnisse sein konnte.

Wiewohl unsere Briefe aus der Ferne weder in einer revolutionären Situation geschrieben sind, noch die Schreibenden unbedingt vor Ort sein wollen, geht es auch in unserem Projekt um Ratschläge, diesmal für die Neuaufnahme des feministischen Projekts in Deutschland in einer Gestalt, die allgemein politisch eingreifen will. Dafür sucht es internatio­nalen Rückhalt. Aus je anderer Lage schreiben Frauen aus vielen Teilen der Welt, wie von ihrem Standpunkt betrachtet diese Neuaufnahme heute aussehen müsste. Dass sie sich aufgerufen fühlen und Antwort geben, ist in hohem Maße erstaunlich. Zeugt es doch von ­einem feministischen Internationalismus, wie er seit Abklingen der zweiten Frauen­bewegung kaum mehr möglich schien.

Jetzt zur Lenin-Lektüre: Er hat in seinen drei Briefen immer wieder darauf bestanden, dass alle, Frauen und Männer gleichermaßen und »gleichberechtigt«, in den Prozess der Übernahme der Aufgaben des Staates einzubeziehen seien. »Denn ohne die Frauen zum öffentlichen Dienst, zur Miliz, zum politischen Leben heranzuziehen, ohne die ­Frauen aus ihrer abstumpfenden Haus- und Küchenatmosphäre herauszureißen, kann keine wirkliche Freiheit gewährleistet werden, kann nicht einmal die Demokratie, vom Sozialismus ganz zu schweigen, aufgebaut werden.« (43)

Die Sätze verblüffen auf mehrfache Weise. Man erwartet revolutionäre Radikalität und erfährt sie auf der Seite einer neuen Geschlechter­gerechtigkeit und wundert sich, dass zu so was Kraft und Zeit war, ja dass es zu den dringlichen existenziellen Aufgaben einer neuen Gesellschaft gehören sollte.

Springen wir in die Gegenwart und sehen, dass nicht nur die sozialistische Planwirtschaft, ein Ergebnis der Revolution von 1917, die im März ihre erste Etappe durchschritt, scheiterte, sondern von einem feministischen Standpunkt auch, dass die Einbeziehung des weiblichen Geschlechts als Menschen auf allen Ebenen von Staat und Wirtschaft immer noch ungewisse Zukunft ist.

Tenor der drei Lenin-Briefe ist, die Trennung von Politik und Ökonomie aufzuheben. Als Politik zu begreifen, sich für die Wirtschaft verantwortlich zu fühlen und so zu handeln und vor allem, dies beim Machen zu lernen. Lenin ist in dieser Hinsicht offenbar ein Anhänger des Learning by doing. Demokratie ist für ihn »eine wirkliche Erziehung der Massen zur Teilnahme an allen Staatsgeschäften« (43). Dafür entwirft er ein Modell, das mit dem »demokratischen Instinkt jedes Arbeiters, jedes Bauern, jedes werktätigen und ausgebeuteten Menschen« (41) rechnet: Wenn ein jeder und eine jede zwei Tage im Monat sich der politischen Arbeit widmen würde, müsste dies als normaler Arbeitstag mit entsprechendem »üblichen Lohn« gelten. Die unmittelbare Folge wäre ein riesiges Heer an politisch Verantwortlichen.

Rosa Luxemburg, die von der russischen Revolution im Oktober 1917 begeistert war und ebenso aufgeregt im Exil des Gefängnisses die Nachrichten verfolgte wie Lenin die erste Etappe im März in Zürich, kritisiert in der Folge aufs Heftigste, dass eben die Vorschläge aus dem dritten der drei Briefe, die Einbeziehung der Massen beim Aufbau des Sozialismus, nicht befolgt wurden. Sie wendet sich gegen die Zentralisierung der Regierung anstelle der vielfältigen Einmischung des Volkes und vor allem gegen die Abschaffung gerade derjenigen Formen aus der bürgerlichen Gesellschaft, die zu den Kampfbedingungen gehört hatten:

Lenin und Trotzki haben anstelle der aus allgemeinen Volkswahlen hervorgegangenen Vertretungskörperschaften die Sowjets als die einzige wahre Vertretung der arbeitenden Massen hingestellt. Aber mit dem Erdrücken des politischen Lebens im ganzen Lande muss auch das Leben in den Sowjets immer mehr erlahmen. Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das tätige Element bleibt. (GW 4, 362)

Wir wissen, dass die Pläne Lenins vom Frühjahr 1917 niemals Wirklichkeit wurden. Aber die Spaltung in Sozialismus ohne Demokratie und Demokratie ohne Sozialismus hat beide beschädigt, den Sozialismus im Osten ebenso wie die Demokratie im Westen. Und in jedem Fall bleibt die Beteiligung der Frauen ein ebenso unerledigtes Projekt wie der Sozialismus überhaupt.

So energisch sich der Kapitalismus gegen Revolution und mit Reform durchsetzte, so sehr sind seine Grundlagen in den zwei Jahren der Weltwirtschaftskrise am Ende des ersten Jahrzehnts des dritten Jahrtausends erschüttert. Wieder einmal erscheinen die Frauenfragen gemessen an der Ungeheuerlichkeit von weltweiter Armut, von Hunger, Arbeitslosigkeit, Klimakatastrophe und Krieg als zweitrangig und später anzugehen. Die Krise des Kapitalismus trifft auf eine Linke, die lange schon nicht mehr an die Möglichkeit dachte, dass die marxschen Analysen zum Kapitalismus zutreffend seien und also eine alternative Gesellschaft auf der Tagesordnung stehe. Zersplittert, miteinander verfeindet, aufgerieben und mutlos geworden, sammeln sich dennoch spät jetzt allenthalben Gegenkräfte. Was aber tun die Frauen? Eher noch effektiver als die Arbeiterklasse sind Feministinnen delegitimiert. Sie selbst haben sich den entscheidenden Tritt versetzt, politisch korrekt zunächst sich als Frauen, dann überhaupt, indem sie jedes kollektive Subjekt aus der Geschichte zu streichen empfahlen. »Feminismus ist tot«, war zwar der triumphale Schlussstrich unter eine große internationale Bewegung von rechts und aus dem Mainstream, er traf zugleich auf einen Feminismus, der sich längst aufgegeben hatte.3

Ziehen wir noch ein letztes Mal die leninschen Briefe zu Rate. Bei der Analyse der vielfältig überdeterminierten Situation, in der die »­erste Etappe« der Revolution in Russland wirklich wurde, schärft er wiederholt ein, dass es wesentlich sei, »alle politischen Richtungen und Aktions­methoden« (9) zu studieren; benennt den Betrug und die Entzweiung der Arbeiter, den Hunger und schärft ein, zu erkennen, dass sich völlig verschiedene Ströme, »völlig ungleichartige Klasseninteressen, völlig entgegengesetzte politische und soziale Bestrebungen vereinigten« (13). Jetzt gelte es, klare, von allen verstandene und gewollte einfache Losungen zu finden, die nicht von oben, von außen vorzustellen seien, sondern aus dem vielfältigen Begehren der Unterdrückten kamen: Frieden, Brot und Freiheit.

Das Projekt der Frauenbefreiung

Unsere Situation ist eine andere. Sie ist weniger dramatisch und verlangt doch zugleich großen Mut. Allen Lehren widersprechend, dass es ein Kollektiv-Subjekt Frauen nicht gebe, dass die divergierenden und entgegengesetzten Interessen größer seien als die gemeinsamen, gilt es, das Projekt der Frauenbefreiung neu zu eröffnen. Es ist der Schlüssel für eine alternative Gesellschaft. Bei diesem Aufbruch sind wir nicht allein. Schon gibt es Stimmen, die den Verlust des politischen Subjekts beklagen und zum neuerlichen Aufbruch mahnen.4

In der Regierungspolitik zur Weltwirtschaftskrise wird überaus deutlich, dass diese Gesellschaft nicht vom Standpunkt ihrer Reproduktion gefasst wird, sondern stur und hilflos vom Versuch, alles genau so wiederherzustellen, wie es war – mit Überakkumulation von Gütern und von Kapital, mit Krieg –, und dabei Hunger, wachsende Arbeitslosigkeit und Angst in Kauf nehmend. Vom Reproduktionsstandpunkt sieht man ohne Weiteres, dass die Ressourcen verbraucht werden, dass es für die meisten heißt, den Gürtel, der nicht sonderlich weit war, sehr viel enger zu schnallen, und dass niemand so recht zu wissen scheint, wie alle in diese schwere Lage kamen. Die krisenhafte Entwicklung geht so schnell, dass es sogar schwerfällt, die Verwandlung der eigenen Wünsche zu erinnern. Noch vor wenigen Jahrzehnten ging es um die Verkürzung der Arbeitszeit und Humanisierung der Arbeitswelt; aus der Frauenbewegung kamen die Forderungen nach Anerkennung von Hausarbeit als Arbeit. Dann kam mit dem Neoliberalismus als neue Lösung aller Pro­bleme die vollständige Selbstbestimmung eines jeden als Fortschritt. Die Losung, ein jeder und eine jede könnten Unternehmer sein, und sei es nur ihrer eigenen Arbeitskraft, bleibt eine zynische Verbrämung der Verwandlung so vieler in neue Sklaven und Sklavinnen der Banken, deren Kredite ein neues Leben versprachen: Eigentumswohnungen und Glück durch Konsum. Und jetzt in der Weltwirtschaftskrise geraten die einzelnen Momente täglichen Lebens aus den Fugen. Schon geht es nurmehr darum, überhaupt einen Arbeitsplatz zu haben, egal welcher Qualität. Der Klassenkampf scheint stillgestellt und ebenso der Konflikt mit dem ›Feind im eigenen Bett‹. Dramatisch gehen die Scheidungsraten nach unten. Da man nicht weiß, wie viel schlechter alles wird, scheint es sicherer, vorerst zusammenzubleiben, wie zerstritten auch immer. Die versprengten Einzelnen ducken sich, um vielleicht davonzukommen.

Die Vier-in-einem-Perspektive

Aber dies ist der Moment, sich aufzurichten und die Fragen noch einmal neu zu durchdenken.

 

Vom Standpunkt der Reproduktion der Gesellschaft gewinnen die einzelnen Bereiche des Lebens eine andere Bedeutung. An oberste Stelle rückt das Leben selbst als Zweck und Ziel und also das Verlangen, dass es gut sei. Alle Arbeit, die hierfür direkt geleistet wird, ist selbstverständlich Arbeit, gehört aufgewertet und als soziale Befähigung für alle Geschlechter5 zugänglich gemacht. Sie braucht Raum und Zeit. So wird ein feministisches Projekt einer Linken heute nicht bei der Gleichstellung der Geschlechter in der schlecht verwalteten und barbarischen Gesellschaft beginnen, sondern bei der Arbeit und ihrer Verteilung. Dafür müssen wir als Erstes gegen den bornierten Blick streiten, der nur das als Arbeit zählt, was heute in der Form der Lohnarbeit geregelt ist. Alle Arbeit in der Gesellschaft gehört besichtigt und ihre Verteilung gerecht angegangen. Dafür brauchen wir einen anderen Arbeitsbegriff und eine andere Vorstellung von Gerechtigkeit, die nicht mehr bloße Tauschgerechtigkeit wäre, sondern orientiert ist an ihrem Gegensatz, dass keinem Unrecht geschehe. Besichtigen wir die Gesamtgesellschaft, so gibt es überall Aufgaben im Überfluss, von deren Erfüllung nur ein Teil bezahlt wird und vieles überhaupt ungetan bleibt, weil keine Zeit und keine Kraft vorhanden und weil andere Ziele dominant sind. Das gilt wohl für viele Fragen des Umgangs mit Natur, der menschlichen wie der, die zu unseren Lebensbedingungen zählt. Eine gerechte Verteilung der Arbeit beträfe die Verteilung der Arbeit an den Mitteln des Lebens, die in der heutigen Form der Lohnarbeit ein zum guten Leben ausreichendes Einkommen erbringen muss; dann der Menschheitsarbeit, sich des neuen, des kranken, des alten Lebens und seiner selbst sorgend anzunehmen, heute Reproduktions- oder auch Sorgearbeit, manchmal Familienarbeit geheißen. Beides sind Menschenrechte. Als Menschenrecht soll auch gelten, die eigenen Anlagen zu entfalten. Dies ist sowohl eine Notwendigkeit wegen der schnell sich ändernden Erfordernisse des Lernens, aber auch eine sinnhafte Aufgabe, als schöpferischer Mensch sein Leben als Kunstwerk zu begreifen. Schließlich bleibt die Arbeit der politischen Gestaltung von Gesellschaft im Großen, die wir Politik nennen. Uneingelöst ist in der Abgabe des Politischen an eine spezielle Berufsgruppe mit nachfolgender politischer Entmündigung der Bürger das menschliche Bedürfnis, seine Lebens- und Arbeitsbedingungen zu gestalten. – Dass Politik ein Bedürfnis auch nach Lebenssinn ist, zeigt die wachsende Zahl von »­ehrenamtlich« Tätigen, die sich – fast jeder Zweite in Deutschland – unentgeltlich der Gemeinwesenarbeit verpflichten.

Eine politische Utopie für die Neuordnung der Bereiche des Lebens, die zugleich Anleitung zum alltäglichen politischen Handeln ist, ist die Vier-in-einem-Perspektive.6 Suchen wir daraus die »klare Losung« für politisches Handeln, so wäre es: Das geteilte Leben muss in ein ganzes Leben zusammengebracht werden. Eine gerechte Teilung der gesellschaftlichen Gesamtarbeit und Demokratie jetzt! Es muss um die Verfügung über Zeit gestritten werden. Dafür braucht es eine radikale Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit tendenziell auf ein Viertel des alltäglich tätigen Lebens und einen guten Arbeitsplatz als Menschenrecht wie ebenso die Teilhabe aller an der Arbeit für Mensch und Natur in einem weiteren Viertel. Zeit und Raum für Entwicklung als Menschenwürde und politische Beteiligung von allen. Alle anderen hier nicht diskutierten Bereiche lassen sich in dieser Verknüpfung anordnen.