Briefe aus der Ferne

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Literatur

Laclau, Ernesto, u. Chantal Mouffe (1991): Hegemonie und Radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus. Wien.

Woodhead, Linda (2008): »Secular Privilege, Religious Disadvantage«, in: British Journal of Sociology 59.1, S. 53–58

Gabriela Cañas
Madrid, Spanien

Gabriela Cañas ist als Journalistin auf gesellschafts­politische Themen spezialisiert; seit 1981 gehört sie zur Redaktion der spanischen Tageszeitung El País; 2002 wurde sie mit dem Journalistinnenpreis des Red Europea de Mujeres Periodistas (Verband europäischer Journalistinnen) ausgezeichnet.

Von Klamotten und Silikon15

Körperkult setzt sich durch, und Frauen übernehmen die Rolle des Hypersexualisierten (des Sexsymbols), die man von ihnen erwartet angesichts der Schwierigkeiten, sich in einer durch das Gewicht von Geld und männlichen Werten aus dem Gleichgewicht geratenen Gesellschaft zu behaupten.

Es ist schade, dass Frauen sich nicht wie die Männer eine kleine Auswahl an Uniformen zugelegt haben, um jegliche ideologische Last zu vermeiden, die immer noch auf weiblicher Kleidung liegt. Die Sache ist von derartiger Tragweite, dass der Versuch, ein weibliches Kleidungsstück, den Ganzkörperschleier, zu verbieten in den letzten Monaten eine lange und erbitterte Debatte ausgelöst hat, an der Männer genauso teilgenommen haben wie Frauen (ein Phänomen, das es extra zu untersuchen gälte).

In dieser aufgeheizten und leidenschaftlichen Debatte wurden zwei Auffassungen vertreten: die Verteidigung der Würde der Frau und die Ungereimtheiten der westlichen Gesellschaft und Kultur, die geneigt ist, diejenige zu verfolgen, die sich übertrieben bedeckt, und diejenige zu tolerieren, die genau das Gegenteil tut.

Zur Würde der Frau haben sich auch die radikalsten Imane zu Wort gemeldet, um für die freie Wahl (?), den Schleier zu tragen, einzutreten. Die westlichen Ungereimtheiten sind dabei jedoch mit einem Schleier bedeckt worden, der noch undurchdringlicher ist als die Burka. Die Burka ist nicht die entscheidende Frage, aber vielleicht eine grobe Falle zur Ablenkung von der eigentlichen Frage. Vielleicht ist es aber auch nur so, dass viele von uns verblüfft all die Einzelheiten des öffentlichen Auftretens und Verhaltens von Frauen beobachten, die uns einen Hinweis darauf geben, dass wir uns in einer gewissen Lähmung befinden, was den Kampf für die Frauenbefreiung betrifft.

Beispiele gibt es viele, und alle zeigen, dass die westliche Frau offensichtlich Sklavin ihres Körpers und des von ihr geforderten hypersexualisierten Stereotyps ist. Diese Sklaverei beruht auf denselben Vorurteilen, mit denen der Ganzkörperschleier verteidigt wird. Es geht in beiden Kulturen um den Körper der Frau als Objekt männlichen Begehrens, egal, ob er vor anderen versteckt oder umgekehrt zur Schau gestellt wird, um männliches Gefallen zu finden.

Während sich junge Frauen Samstagnacht frech als Lolitas aufmachen und andere mit Magersucht kokettieren, werden sie von ihren Freunden in Gossensprache auf ihre Funktion als Sexualwesen reduziert. Die gängige Mode verlangt leichte Kleidung als ausdrückliche sexuelle Einladung an Männer, die deutlich mehr anhaben. Schauspielerinnen bearbeiten ihren Körper mit Diäten und Skalpell. Fotomodelle machen den größten Eindruck, wenn sie den Laufsteg nutzen, um intime Einblicke zu gewähren, und erfolgreiche berufstätige Frauen verbringen ihren Tag auf Stöckelschuhen, die zwar ihren Rücken kaputt machen, aber Symbol von Eleganz und Weiblichkeit sind.

Martha Nussbaum, Philosophie-Professorin an der Universität Chicago, erinnert in einem kürzlich in der New York Times erschienen Artikel daran, dass die Burka als erniedrigendes Gefängnis betrachtet wird, und fragt: »Und was ist mit dem erniedrigenden Gefängnis der Schönheitschirurgie?« Vielleicht erscheint uns das als ein übertriebener Vergleich, aber ich fürchte, es gibt nur wenige Frauen in unserer Konsumgesellschaft, die die sozialen Erwartungen ans Frauenbild nicht als Zentnerlast empfinden, welche sie neben ihrer Doppelbelastung als berufstätige Hausfrau auch noch zu Sklavinnen ihres Körpers macht.

Folglich widmet sich eine Mehrheit mit Verbissenheit dem verrückten Wettlauf mit den natürlichen Altersanzeichen und widmet sich dem stetigen Kampf gegen Fettpölsterchen (die dort sind, wo sie natürlicherweise sein sollen), gegen das Alter, gegen schlaffe Haut und graue Haare, um nur einige Schlachtfelder zu nennen, die sich ohne Unterlass auftun und natürlich die Frage der Kleidung einschließen, die ununterbrochen erneuert werden muss und niemals ausreicht für das aktive Leben, das die große Mehrheit führt.

Einige soziologische Studien zeigen, dass Frauen, die am meisten auf ihr Äußeres achten, diejenigen sind, die eine gewisse Stellung im Beruf erreicht haben, und nicht die ohne Berufsarbeit, die dafür mehr Zeit hätten. Das hat damit zu tun, dass ein entsprechendes Äußeres geradezu unverzichtbar für den sozialen Erfolg einer Frau ist. Die systematisch von Männern kontrollierten Medien legen die Stereotypen unserer Zeit fest. Wenn man sich einfach nur die Gesichter anschaut, die gewöhnlich auf dem kleinen Bildschirm zu sehen sind, reicht das, um das feste Band von Erfolg und Aussehen zu bestätigen. Ein Außerirdischer, der eben erst auf der Erde gelandet ist, würde aus dem Fernsehen sofort schließen müssen, dass Männer Wesen von großer antropomorpher Vielfalt und großer Langlebigkeit sind, während Frauen grazile, bunte Kreaturen sind, die früh sterben, weil man kaum je eine Frau jenseits der vierzig sieht. Leider macht das feste Bild, das wir den Kindern, die ebenso wie der Außerirdische noch nicht lange bei uns sind, präsentieren, diese reale Ungleichheit nur zu deutlich. Das Talent von Frauen, über das auch nach Jahren des Vergleichs akademischer Grade niemand redet, ist als Wert immer noch relativ und nebensächlich. Kaum eine Sängerin macht im Showgeschäft Karriere, wenn sie sich darauf beschränkt, schöne Lieder zu komponieren und treffend vorzutragen. Nur eine suggestive Ausstrahlung macht sie zu einem Star. Auf diese Weise haben wir eine Welt der Schizoiden geschaffen, in der man die jungen Frauen einlädt, wie die Löwinnen zu studieren und sich wie Panther anzuziehen. Denn wenn nicht, wird das Glück ihnen nicht hold sein.

Ende Juni (2010) feierte die Presse die Wahl von Julia Gillard als erste Premierministerin von Australien. Zum ersten Mal in der Geschichte dieses Landes wird eine Frau der Exekutive vorsitzen, die den Wahl­ergebnissen vom Wochenende zufolge nicht lange im Amt bleiben könnte. Und beim Blick in die Welt springt uns die starrsinnige und entnervende Realität an: Sieben Premierministerinnen und zehn Staatschefinnen weltweit. Auf demselben Rekordstand befanden wir uns schon 1995, und seitdem hat sich nichts mehr getan.

Im letzten Jahrzehnt hat sich der Vormarsch der Frauen (der zweifellos enorm ist) verlangsamt, wenn er nicht überhaupt stagniert in einer Gesellschaft, die von diesem Neo-Machismo beherrscht wird, über den schon Amparo Rubiales nachgedacht hat und der uns raffiniert seine Regeln aufzwingt; so mächtig, dass eine Frau fürchten muss, als puritanisch gebrandmarkt zu werden, wenn sie die schamlose Ausbeutung des weiblichen Körpers kritisiert. Die Europäer verdienen 15 Prozent mehr als die Europäerinnen, und der Kommission zufolge gibt es keine Hinweise, dass dieser Graben schmaler wird. Die Verwaltungsräte bilden weiterhin eine Mauer gegen Frauen, es gibt keine Quotenregelung, die an den Märkten greift, die gebieten, wie die Krise gezeigt hat.

Es sieht so aus, als hätten sich die Frauen, müde von so viel sinnlosem Kampf, angesichts seiner Unbesiegbarkeit mit dem Feind verbündet. Der klassische Feminismus hat nicht den Glanz, den die heutigen Zeiten erfordern. Gegen die Ungleichheit bei der Bezahlung und Behandlung von Frauen aufzubegehren ist, als würde man das Ende des Hungers auf der Welt fordern, es ist unattraktiv für die Massenmedien. Sie bevorzugen bei allen Frauenthemen die Stereotypen, in die sich so viele gefügt haben.

Blicken wir in die Geschichte zurück, die wir abgeschlossen haben: Männer haben in allen Bereichen Geschichte gemacht. Die Welt quillt über von Stierkämpfern, Schauspielern, Fußballern, Tennisspielern, Politikern, Gurus neuer Technologien, Unternehmern, Radfahrern …Nur sie scheinen eine große Auswahl an Berufen zu haben, und nur sie scheinen das Monopol darauf zu haben, ihr Land mit Tränen in den Augen und der Hand auf ihrem Herzen zu vertreten.

Damit die Medien einer Frau breiten Raum für positive Darstellungen geben, eifert sie am besten Lady Gaga und ihren schrillen Videoclips, ihrer Leidenschaft für schräge Kostüme und ihrer Diskomusik nach. Sie unterwirft sich nicht nur dem Stereotyp, sie verwandelt es auch noch in Gold. Um die Zeitungsenten über die mutmaßliche Eifersucht der ­neuen Favoritin gegenüber zu widerlegen (die Rivalität der Frauen ist ein alter, aber gültiger Topos), führten beide im Fernsehen einen erotischen Scheinkampf nach Art der Katzen auf. Und machen Kasse.

Wir leben in einer Zeit, die neue Formen gefunden hat, die männlichen Werte zu heiligen. Zeiten, in denen das Ungleichgewicht, verursacht vom Gewicht der Macht, des Geldes und des Testosterons bestehen bleibt, und in der die Frauen, besser ausgebildet denn je, sich nachweislich großen Schwierigkeiten gegenübersehen, ihren Platz zu finden.

Cynthia Cockburn
London, Großbritannien

Dr. Cynthia Cockburn, Professorin der Sozio­logie an der City University London.

 

Veröffentlichungen: Die Herrschaftsmaschine, Hamburg 1988; The Space Between Us: Negotiating Gender and National Identities in Conflict, London 1998; From Where We Stand: War, Women’s Activism and Feminist Analysis. London/New York 2007.

Die feministische Agenda in die Linke tragen – geht das?

Für mich wie für viele Frauen, die in den 1960er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts politisch wurden, war der erste Schritt in Richtung Feminismus eine Marx-Lektüregruppe. Wir entdeckten das Kapital, Band 1, und die Deutsche Ideologie (oder entdeckten sie wieder, falls wir sie schon kannten). Wir lasen mit Bewunderung, kritisierten aber auch mit einem neu erwachten Frauenbewusstsein. Da war Arbeit – aber wo war unbezahlte Arbeit, Ausbeutung von Frauen? Da waren Klassenunterschiede – aber wo war Geschlechterdiskriminierung? Da war die Reproduktion kapitalistischer Klassenverhältnisse – aber wo war die biologische Reproduktion? Diese (Neu-) Lektüre war für viele von uns ein Sprungbrett für die Forschung über Arbeit und Arbeitsprozesse. Sie half auch denen von uns, die wie ich an Geschlecht, Qualifikation und technologischer Entwicklung (Produktivkräften) interessiert waren.

Ein Verständnis von Herrschaft zu entwickeln bedeutete für uns als Feministinnen jedoch mehr, als marxistische Theorie zu erweitern. Wir verlangten die Klärung des Verhältnisses zwischen kapitalistischer Klassenherrschaft und Patriarchat bzw. männlicher Herrschaft über Frauen. Wir Feministinnen trugen interne Kämpfe aus. Sollten wir Kapitalismus als kapitalistisches Patriarchat (patriarchalen Kapitalismus) betrachten, also als ein einziges System mit zwei verschiedenen Auswirkungen? Oder als zwei Systeme in unheilvoller Interaktion (dies nannten wir »dual economy«)?

Diese Fragen blieben unbeantwortet, denn in den späten 1980ern hatte uns der Thatcherismus (Neoliberalismus) im Griff und delegitimierte das Ziel des Sozialismus, die Möglichkeiten der Gemeinschaft und die Vermittlung im Staat. Das war ein schwerer ideologischer Schlag gegen uns. Trotzdem gab es für mich und vielleicht auch für andere in den späten 1980ern gute und vernünftige Gründe, darüber nachzudenken, was Sozialismus für uns bedeutete.

Ich erinnere: 1987 lernte ich auf einer Konferenz in Moskau meine erste wirklich feministische sowjetische Freundin kennen. Wir gingen Arm in Arm, glücklich, einander gefunden zu haben. Gleichzeitig weinten wir über den Schmerz, den wir einander antun mussten. Sie genoss ihren neu entdeckten »Individualismus«, etwas, das vom Sowjetregime erstickt worden war. Ihre Augen glänzten, als sie dieses Wort sagte, während meine sich zu argwöhnischen Schlitzen verengten. Ich nannte mich Sozialistin. Sie verzog das Gesicht. Ich verstand immer besser (was ich natürlich schon vorher gewusst hatte), dass mein Sozialismus in der Zeit von »Glasnost« mehr denn je versprechen, ja garantieren musste, nie, niemals etwas wie Stalinismus zuzulassen.

Zwischen 1989 und 1991 versagte die sowjetische Systemreform und die UdSSR brach unter dem Druck des kapitalistischen Westens zusammen. Ihr Untergang entriss unserem Vokabular die Wörter Sozialismus und Kommunismus und veränderte die Diskussionskultur. Es ist nicht verwunderlich, dass sich zu dieser Zeit in der akademischen, sozialen, kulturellen und politischen Analyse die bekannte poststrukturalistische/postmoderne Wende vollzog. Ich sah die Eleganz und Scharfsinnigkeit dieser neuen Art, Dinge zu beschreiben, und schätzte einige Einsichten, die sie mit sich brachte. Es schien mir sogar, als hätte der Feminismus selbst zur Neuordnung linken Denkens beigetragen. Aber die wesentliche Empfindung war, zum Schweigen gebracht worden zu sein. Nicht nur war Marxismus als große Erzählung abgeschrieben und Materialismus zu einer nebensächlichen Idee geschmolzen. Auch das Patriarchat war zusammen mit dem Kapitalismus und anderen derartigen »Strukturen« abserviert. Der Feminismus veränderte sich radikal. Mancherorts wurde er schnell zum Postfeminismus.

In den letzten Jahren beobachte ich bei einigen Feministinnen das Bedürfnis, den Kampf um ein Verständnis kapitalistischer und patriar­chalischer Herrschaft wieder aufzunehmen, und neuerwachten Respekt für den historischen Materialismus als Methode. Vielleicht ist es eine perverse Art von Appetit, auf alten Knochen herumzukauen, aber was auch immer diese Lust ist, ich teile sie und ich freue mich, wenn ich andere Frauen treffe, denen es genauso geht. Dieser Aufruf, sich zu einem linken feministischen Projekt zu äußern, ist so ein Fall.

Dennoch … Ich sehe mich schon wieder in Opposition zu manchen der neu-alten sozialistisch-feministischen Vorstellungen. In einem Artikel, etwa Mitte der 1980er geschrieben und 1988 publiziert, beklagte ich, dass diejenigen von uns, die sich sozialistische Feministinnen nannten und in der Linken aktiv blieben, unseren Feminismus dafür auf stumm schalteten. Wir forderten zwar von der Linken, Frauenarbeit – bezahlte und unbezahlte – und die geschlechtsspezifischen Weisen der Ausbeutung durch den Kapitalismus zu berücksichtigen. Aber wir versäumten es, unsere Politik des Körpers in die Partei einzubringen – Themen, die Sexualität und physische Gewalt mit einschlossen. Ich schrieb:

Zu den (sehr materiellen) Benachteiligungen und Ängsten normaler Frauen, zu »den objektiven Bedingungen« gehört heute, so würde ich behaupten, eine umfassende und sehr gerechtfertigte Angst vor Männern und Männlichkeit. Männern ausgeliefert, fürchten Frauen um ihre eigene Sicherheit. Sie fürchten das, was Männer ihren Söhnen antun: Teil ihrer Erfahrung ist die Lust mancher Kerle, eine Waffe zu besitzen, ein schnelles Motorrad zu fahren oder in die Armee einzutreten. Und sie fürchten, was Männer ihren Töchtern antun könnten: Tägliche Nachrichten von vergewaltigten und ermordeten Mädchen (und Jungen) treibt die Angst der Frauen um ihre Kinder in die Höhe, sobald diese außer Sichtweite sind. Frauen untereinander sprechen über Männer in der gleichen sorgenvollen Weise, wie sie über Arbeitslosigkeit, Armut und Krankheit sprechen. In ihren Träumen stellen sich diese Frauen ganz sicher eine Welt vor, in der Geschlechterverhältnisse ebenso wie die Kontrolle über Produktion und Distribution anders organisiert sind. Es wird Zeit, dass »materiell« und »materialistisch« erweitert werden um diese objektiven Lebensbedingungen der Frauen aus der Arbeiterklasse und darüber hinaus. (Cockburn 1988: 307)

Auch wenn mein Artikel etwas unvorsichtig war und bei manchen geschätzten Freundinnen Schmerz und Ärger auslöste, habe ich meine grundlegenden Überzeugungen in den seither vergangenen zwei Jahrzehnten nicht verloren. Genau genommen wurden sie gestärkt, als sich mein Forschungsschwerpunkt von »Geschlecht in Arbeitsprozessen« zu »Geschlecht in Militarismus und Krieg« verschob. Die beengenden und ausgrenzenden Effekte der sozialen Konstruktion von Männlichkeit und Weiblichkeit als gegensätzliche Formen sowie die Kontrolle und Beschränkung weiblicher Autonomie durch Männer (nicht einfach Kapitalismus) ist noch immer Realität.

Nehmen wir nur ein paar der Fakten, die im Internet diskutiert wurden. Human Rights Watch in Balutschistan bestätigt, dass kürzlich sechs weibliche Teenager hingerichtet wurden. Sie wurden von Männern ihrer Familie und Gemeinschaft durch Schüsse verwundet und dann lebendig begraben, weil sie sich geweigert hatten, von ihren Eltern gewählte Männer zu heiraten. In der krisengeschüttelten Republik Kongo appellierten 71 Frauen-NGOs an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, Frauen vor Vergewaltigungen zu schützen. Sie zitierten 880 UN-dokumentierte Fälle in einem normalen Monat und schätzten, dass diese ein Zehntel der tatsächlichen Zahl ausmachten. Die Folgen von Vergewaltigungen werden hier wie in vielen anderen Ländern durch das nachfolgende Verstoßen der Opfer durch Ehemänner, Familien und Gemeinschaften noch verschlimmert. Wenn es so scheint, als stammten diese Fälle aus ausgeprägten Patriarchaten, wie sie in westlichen »Demokratien« lange überwunden sind, sollten wir erinnern, dass in England und Wales in den letzten Jahren durchschnittlich zwei Frauen pro Woche durch die Hand ihrer Ehemänner und Partner starben. In den USA wurde eine Frau des Mordes an ihrem Baby schuldig gesprochen. Sie steckte es in die Mikrowelle. Warum? ­Einer Zellengenossin sagte sie, »sie fürchtete, ihr Freund würde sie verlassen, wenn er herausfände, dass das Kind nicht von ihm sei« (Guardian, 30. August 2008).

Diese wenigen, keineswegs einzigartigen Fälle erinnern daran, dass es eine Dimension von Herrschaft in menschlichen Gesellschaften gibt, die sich von ökonomischer Klassenherrschaft und dem Rassismus weißer Vorherrschaft unterscheidet. Es ist die patriarchale, die männliche Herrschaft über Frauen. Wenn ich mich nun wieder in der Linken engagiere, will ich, dass wir mehr tun, als nach den Geschlechtereffekten des Kapitalismus und der Klassenverhältnisse zu fragen, und sogar mehr, als die Dimensionen des Rassismus einzubeziehen. Ich will, dass anerkannt wird, dass das Patriarchat, die systematische männliche Herrschaft, kein Produkt unserer übersteigerten feministischen Phantasie, sondern historische Realität war und immer noch ist. Es funktioniert global, überschneidet sich mit kapitalistischen und weißen, rassistischen Herrschaftsverhältnissen in jedem Land und in jeder bekannten Institu­tion – Aktiengesellschaften, Universitäten, Militär, Kirchen, Synagogen und Moscheen, Stadtverwaltungen und politischen Parteien (die linken eingeschlossen). Jede/r von uns als Individuum, Mann oder Frau, weiß oder schwarz, mit oder ohne Eigentum, ist – unter anderem – durch diese Herrschaftsdimension formiert.

Das bedeutet meines Erachtens, dass wir in unserem Engagement diesmal mehr tun müssen, als die Mehrwerttheorie aufzuarbeiten und die eingesetzte Zeit und deren Entlohnung aufzurechnen, so dass (diesmal) unbezahlte Arbeit, Pflegearbeit, Beziehungsarbeit, persönliche Dienste, Reproduktionsarbeit und Engagement für die Gemeinschaft berücksichtigt werden. Das ist selbstverständlich. Aber diesmal müssen wir zusätzlich eine weitere Dimension menschlicher Beziehungen in unsere Überlegungen einbeziehen, die zuvor, in den 1970ern und 80ern, außerhalb des sozialistisch-feministischen Arbeitsfeldes verbleiben konnte und in den separaten Bereich des radikalen Feminismus fiel. Ich meine Triebbesetzung (Begehren und Hass) und Gewalt (Zwang, Kontrolle und Töten).

Ist es unmöglich, von Männern zu verlangen, dass sie für ihren Anteil an der Fortschreibung patriarchaler Macht Verantwortung übernehmen? Viele Frauen der besitzenden Klasse sind in der Linken aktiv. Sie haben es geschafft, ihr eigenes Verhältnis zur Klassenherrschaft zu erkennen, und kämpfen für dessen Veränderung. Viele Weiße beider Geschlechter haben es geschafft, die rassistischen Strukturen weißer Vorherrschaft zu erkennen, und kämpfen für ihre Überwindung. Ich glaube, es ist nicht undenkbar, dass Männer, als Männer, in fortschrittlichen sozialen Bewegungen die patriarchalen Herrschaftsverhältnisse erkennen und auf ihre Veränderung hinarbeiten können, sowohl analytisch und programmatisch in ihrer politischen Praxis als auch individuell in ihren politischen Beziehungen.