Briefe aus der Ferne

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Gabriele Dietrich

Madurai, Indien



Dr. Gabriele Dietrich, Professorin i. R.; seit 1971 in Indien, seit 1990 indische Staatsbürgerin; Mitgründerin des Centre for Social Analysis in Madurai, wo sie Gesellschaftsanalyse und Feministische Theologie lehrte; Aktivistin in der Frauenbewegung und in der National Alliance of Peoples Movements.



Veröffentlichungen: »Violence is a Failure of Imagination«, in: In God’s Image 21, Nr. 1, 2002; »Loss of Socialist Vision and Options Before the Women’s Movement«, in: Vikalp Alternatives XI, Nr. 1, 2003, S. 27–48.





Bündnisse für eine Gesellschaft des Lebens

Der Verlust der sozialistischen Vision und die aktuellen Optionen der Frauenbewegung



Wenn wir vom »Verlust der sozialistischen Vision« sprechen, meinen wir damit ein weltweites Dilemma. Zugleich müssen wir uns das Problem auf nationaler Ebene vornehmen und in jedem Staat, wo wir tätig sind. Der Verschleiß einer sozialistischen, humanistischen Vision, deren Grundlagen eine gerechte Gesellschaft und Respekt vor dem Leben sind, hat alle Emanzipationsbewegungen ergriffen, auch die anti-brahmanischen und die Dalit-Bewegungen

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 und die Organisationen der Arbeiterklasse. Auch in Bezug auf die Frauenbewegung selbst müssen wir uns einer sorgfältigen Gewissensprüfung unterziehen. An der Oberfläche und auf der offensichtlichsten Ebene haben wir es mit einer Abdankung des Staates aus seiner Verantwortung zu tun. Was als Erzwingung der Weltbankregeln begann, hat sich mit den Bedingungen der GATT und WHO noch vertieft. Unter dem Deckmäntelchen demokratischer Partizipation des Volkes wuchert überall die Privatisierung, sei es im Bildungsbereich oder bei der Verteilung des Wassers. Zugleich fordert die Mechanisierung einen hohen Tribut an Arbeitsplätzen in Landwirtschaft, Bauwesen und anderen Bereichen des informellen Sektors. Die wirtschaftliche und soziale Unsicherheit schießt in die Höhe, während die Kommunalisierung des Politischen jeder demokratischen Substanz unseres politischen Lebens Opfer abverlangt.





1. Der internationale Kontext



Uns in einen internationalen Kontext zu rücken bedeutet nicht, die Verantwortung einer »fremden Hand« zuzuschanzen. Es bedeutet nur, gewissen strukturellen Veränderungen im Gleichgewicht der Kräfte Rechnung zu tragen, die im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts stattgefunden haben und die sich auf unsere innere Zusammensetzung und auf unser Denken auswirken.



Ich möchte mit einer persönlichen Positionsbestimmung beginnen: Ich bin ein Produkt der Studentenbewegung der Sechziger. Wir lebten in der Erwartung, dass sich überall in Lateinamerika sozialistische Revolutionen anbahnten. Sie fanden statt und wurden zerschlagen, in Chile und später in Nicaragua. Unsere einschneidendste Konfrontation war der Kampf gegen den Vietnamkrieg und gegen die Apartheid in Südafrika. Erstaunlicherweise wurden beide Ziele erreicht. Leider lösen selbst so heldische Siege nicht alle Probleme, und sie verblassen nach einer Weile zur Bedeutungslosigkeit, sofern keine ökonomischen Alternativen durchgesetzt werden können. Nach Indien kam ich während des Krieges, durch den Bangladesh entstand. Der entscheidende Slogan indischer Politik war »Garibi Hatao« (die Armut bekämpfen), doch was in den Slumbeseitigungsprogrammen dieser Zeit geschah, war eindeutig »Garib Hatao« (die Armen bekämpfen).

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 Es war eine Ära des Populismus, in der mit Hilfe des Zwanzig-Punkte-Programms der Kapitalismus durchorganisiert wurde, während man in die Präambel der Verfassung »Sozialismus« einschrieb. Kurz zuvor hatte der Kernwaffentest Pokhran I. stattgefunden.

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 Zugleich rief Jayaprakash Narayan

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, dessen hundertsten Geburtstag wir heute feiern, zur »totalen Revolution« auf und beflügelte die junge Generation in Bihar und anderswo, sich einer totalen Umgestaltung zu verschreiben. Doch die entscheidenden Ereignisse, die letztlich zum Scheitern des Sozialismus auf internationaler Ebene führten, hatten da bereits stattgefunden: die Invasion sowjetischer Panzer in der Tschechoslowakei während des »Prager Frühlings« 1969, die Zerstörung des »Sozialismus mit menschlichem Antlitz«. Das geschah zu einem historischen Zeitpunkt, als der Ruf nach einem demokratischen Sozialismus weltweit auf der Tagesordnung stand. Wir können nicht klären, ob so etwas möglich gewesen wäre, denn die Ereignisse am 11. September 1973 in Chile (Bombardierung der Almaida durch US-Flugzeuge) zeugten von einem internationalen Terrorismus, der jede alternative Ordnung um jeden Preis zu verhindern gedachte.

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Wie dem auch sei, Tatsache bleibt: Die Absage an einen demokratischen Sozialismus innerhalb des sozialistischen Blocks selbst läutete die Totenglocke für alle Reformen, die den Sozialismus hätten über­lebensfähig machen können. Der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus nach dem Fall der Berliner Mauer am 10. November 1989 bedeutete nicht nur einen Regimewechsel in den ehemaligen sozialistischen Staaten, sondern führte in vielen Fällen zur Auflösung staatlicher Strukturen und zum Zerfall der Zivilgesellschaft, was diese Gesellschaften in Bürgerkrieg und Verbrechen stürzte, in dauerhaften Krisenzustand, Chaos und Verfall menschlicher Werte. Die Ereignisse in Serbien und im Kosovo bildeten die Spitze des Eisbergs. In manchen vormals sowjetischen Staaten wie Moldawien erreichten Drogenabhängigkeit und extremste Armut ein nie zuvor da gewesenes Ausmaß. Gleichzeitig wurde eine weltanschauliche Leerstelle geschaffen, die alle humanistisch/sozialistischen Wertesysteme in alarmierendem Maßstab aushöhlte.





2. Die weltanschauliche Leerstelle



Es ist nicht übertrieben, festzustellen, dass die Erschaffung einer weltanschaulichen Leerstelle vorsätzlich und programmatisch betrieben wurde. Es war Francis Fukoyama, der direkt in Washington D. C. als Erster in das Horn vom »Ende der Geschichte«

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 stieß. Man erhob Anspruch auf den »endgültigen Sieg« des Kapitalismus, nach dem angeblich die Welt glücklich und zufrieden bis in alle Ewigkeit leben solle. Alle Streitfragen um die Lebensfähigkeit des Kapitalismus wurden für beendet erklärt. Fortan sollte Konflikt grundsätzlich als »clash of civilizations« verstanden werden, um eine Phrase von Samuel P. Huntington

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 zu gebrauchen, der in Konkurrenz zu Fukoyamas Postulat die Behauptung aufstellte, dass es unter den neuen Bedingungen einen Wettkampf der Kulturen anstelle der ökonomischen oder politischen Systeme geben werde. Diese Prophezeiung schien sich nach dem 11. September 2001 zu erfüllen, als die Bush-Regierung mit messianischer Überzeugung eine Kluft zwischen »the West and the Rest« ausrief und sich das Privileg auf die Fahne schrieb, rivalisierende Zivilisationen in Schutt und Asche zu bombardieren. Im Namen von Freiheit und Demokratie kann man so ganze Länder zu »Untermenschen« erklären und entsprechend mit ihnen verfahren. Es oblag Schriftstellern des Subkontinents wie ­Arundhati Roy

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 and Tariq Ali

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, die frappierenden Ähnlichkeiten zwischen der Bush-Regierung und den Jihadis aufzuzeigen.



Doch dies ist ja nur das Dilemma auf internationaler Ebene. Die Tragödie ist, dass im Laufe des letzten Jahrzehnts die Verflüchtigung jeglicher weltanschaulicher Substanz ebenso auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene stattgefunden hat. Mit der Übernahme von New Economy und struktureller Anpassung wurde Stück um Stück jeder Versuch aufgegeben, Antworten auf die Armutsschere zu finden, Ideale von sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit anzustreben oder auch nur grundlegende demokratische Rechte zu etablieren. In der Frage der Wirtschaftspolitik gibt es keine nennenswerten Unterschiede zwischen den politischen Parteien. Die »Familie« der politisch rechtsgerichteten Organisationen in Indien

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 erhält einen Schein von Labourpolitik aufrecht, indem kulturelle Frontorganisationen

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 lautstark von Selbstgenügsamkeit und Eigenständigkeit schwadronieren, während die Regierungspartei und ihre Verbündeten fröhlich die Globalisierungspolitik vorantreiben

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. Zwar äußern sich die marxistischen Parteien bedingt globalisierungskritisch, doch die Investitionspolitik in den von ihnen regierten Staaten unterscheidet sich nicht nennenswert, und ihre bisherigen Bemühungen in Richtung einer Kursänderung waren ausgesprochen schwächlich.



Diese Verflüchtigung von Inhalten betrifft nicht nur das Feld der Ökonomie, sie wirkt sich auch auf andere Felder gesellschaftlicher Emanzipation aus. Ein besonders trauriges Beispiel findet sich in Tamil Nadu

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, wo die verschiedenen Dravidischen Parteien miteinander um die Gunst der Sangh Parivar wetteifern. Von ihrer historischen anti-brahmanischen Programmatik haben sie sich völlig verabschiedet. Wenn man allerdings Mayawathis

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 Aufstieg mit der BJP

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 in Uttar Pradesh betrachtet, wird klar, dass diese Art Machtpolitik keineswegs nur eine Schwäche der Dravidischen Parteien ist.

 



Emanzipatorische Inhalte sind im Spiel der Machtpolitik vom Aussterben bedroht. Es scheint überhaupt keine Verbindung mehr zu geben zwischen den bekannten Werten und den Taten politischer Akteure. Wie einst Paolo Freire vorausschauend diagnostizierte: Die Unterdrückten neigen dazu, sich nach dem Bild des Unterdrückers zu gestalten, da die Erlangung von Freiheit Macht voraussetzt und Macht von denen definiert wird, die sie ausüben. Dieses Dilemma haben wir auch in der Frauenbewegung nicht gelöst. Wir sind dermaßen von der Idee des Empowerment, der Selbstermächtigung vereinnahmt, dass schon das bloße Denken von Alternativen schwierig geworden ist.



Ein interessantes Beispiel für die Aufweichung von progammatischen Vorsätzen war die Absorbierung der Dalit-Organisationen und vor allem des mit Dalits befassten NGO-Sektors in der Anti-Rassismuskonferenz in Durban im September 2001. Zwar war der Versuch, die Gewalt gegen Dalits und die Problematik der Unberührbarkeit innerhalb der UN auf den Tisch zu bringen, ein wichtiger Anlauf und auch von gewissem Erfolg gekrönt. Aber die ganze Debatte um die Frage, ob Kaste mit Rasse gleichsetzbar ist, hat entschieden zu mehr Verwirrung als Klarheit geführt – zumal das, was dort in intellektuellen Kreisen diskutiert wurde, so gut wie nichts mit dem zu tun hatte, worum es den einheimischen Betroffenen ging.

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 Es lenkte ab, lenkte die Hoffnungen der Menschen auf internationale Abkürzungen, wo Probleme des täglichen Lebens und Überlebens nicht gelöst werden konnten.



Wohin diese ganze Übung letztlich führte, zeigte sich zur Gänze erst bei der sogenannten »Bhopal Konferenz« im Januar 2002, die Digvijay Singh, damals Chief Minister des Zentralstaates Madhya Pradesh, großzügig ausrichtete, um den Dalits in unserem Land Auftrieb zu verschaffen. Die konferenzinterne Hochglanzbroschüre versprach den Dalits eine leuchtende Zukunft im Geiste der Emanzipation der Schwarzen in den USA sowie Aussöhnungsmaßnahmen nach dem Modell der »Truth Commission« in Südafrika. Das Ganze lief in Wahrheit darauf hinaus, Dalits für das Globalisierungsprogramm zu ködern, indem man ihnen kleine Kredite zur Unternehmensgründung und Zuteilung von Weideland versprach.

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 Schon die Darstellung und Heranziehung der ­Situation schwarzer Bürgerrechtler in den USA ist hochgradig unrealistisch.

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 Völlig schleierhaft ist, woher Digvijay Singh irgendwelches Land zum Zuteilen nehmen will – in einem Staat, wo bereits bei der gegenwärtig erreichten 95 m-Höhe des Sardar-Sarovar-Staudamms achttausend Adivasi

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-Familien übrig sind, die weder umgesiedelt noch entschädigt wurden. Und was die »Truth Commission« betrifft – dieser mühsame und schier unerträglich schmerzhafte Prozess war eindeutig nur möglich, nachdem die schwarze Mehrheit in Südafrika gewaltlos die Macht übernommen hatte.

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 Wie das in einem von Hindutva

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-Kräften regierten Land denkbar sein soll, ist ein Rätsel. Im Folgenden wird es nötig, einige der Mechanismen von Kooptation unter die Lupe zu nehmen.





3. Fragen kultureller Identität



In den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts sind Fragen kultureller Identität verstärkt in den Vordergrund getreten. Das hatte zum Teil mit der Vorstellung vom »endgültigen Sieg« des Kapitalismus zu tun, welche die ökonomischen Fragen zu entkräften schien. Dennoch müssen wir auch hierbei gewärtig sein, dass viele der in postmodernen Diskursen aufgetauchten Fragen ursprünglich aus den linken Bewegungen gekommen sind. Die uralte Frage Ökonomismus vs. kulturelle Revolution ist nicht einfach auflösbar. In der Frauenbewegung haben wir uns seit den Siebzigern mit der Frage nach der materiellen Grundlage von Patriarchat und gesellschaftlichen Klassen herumgeschlagen. Infolge des Ökonomismus traditionell marxistischer Denkweise, der Klasse und Patriarchat in den Bereich der »Kultur« und damit des »Überbaus« verwies, der sich »nach der Revolution« automatisch auflösen würde, waren wir gezwungen, die Beziehung zwischen sozialen und ökonomischen Verhältnissen wesentlich tiefer auszuloten. Damit einhergehend hat uns der Aufstieg des Kommunalismus genötigt, uns der Frage der Religion sehr viel ausführlicher zu widmen.

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 Die Engstirnigkeit, auf die man in manchen linken Denkweisen traf, zwang Aktivistinnen der Frauenbewegung wie auch Forschende untergeordneter Fachbereiche dazu, sich an die Möglichkeit einer Dekonstruktion und Rekonstruktion kultureller Identitäten heranzuwagen. Es gab einen erhellenden Artikel von Supriya Atekar in EPW

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. Darin liefert sie einen Überblick über einige der Debatten innerhalb der Frauenbewegung, der sich liest wie der totale Aufbruch in die postmoderne Kulturdiskussion. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass die Verfasserin Aktivistin in Kastagari Sangathana war, die von konkurrierenden linken Kadern extreme Gewalt erfahren hatte. In dieser Lage war das, was man ihr als Flucht in die Postmoderne auslegen könnte, ganz klar nur ein Versuch, bei Verstand zu bleiben.



Doch dieselben Diskurse fanden auch auf der internationalen Bühne der akademischen Märkte statt – ebenfalls ein Kennzeichen der Globalisierung. So konnte es dazu kommen, dass »reflexive« Diskurse zu Orientalismus und Postkolonialismus am prächtigsten gediehen, während sich die neokolonialen Wirtschaftsunternehmen auf dem Vormarsch befanden, jedoch im Getöse der postkolonialen Debatten praktisch unbeachtet blieben.

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 Das soll nicht heißen, dass die Ausführungen zu Orientalismus und Postkolonialismus etwa von geringer Relevanz seien. Die damit geschaffenen kulturellen Diskurse waren in der Tat ein Versuch, die aufgezwungenen Politiken der Repräsentation zu durchbrechen, unter denen indische Intellektuelle in der Diaspora litten. Das war schon an sich ein Ansatz, mit der neokolonialistischen kulturellen Hegemonie Schluss zu machen. Gleichzeitig stellten diese Diskurse auch einen Versuch dar, der anderen Identitätspolitik der Diaspora entgegenzuwirken, die unmittelbar in die Ideologie der Hindutva mündet.



Ironischerweise erleben wir im Dickicht all der dekonstruierten und rekonstruierten kulturellen Identitäten, die das vom Postmodernismus so gepriesene »Ende der großen Erzählungen« ausmachen, auch das Wiedererwachen von kulturellem Nationalismus, der sich doch aus der gewaltigsten großen Erzählung von allen speist – von der Saraswati-Zivilisation

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 direkt zum ruhmreichen bevorstehenden Sieg in einem »begrenzten Atomkrieg«. Natürlich kann man diese Ironie nicht einfach dem Postmodernismus anlasten, aber wir müssen uns mit diesem tragischen Zusammentreffen auseinandersetzen, wenn wir nicht vom drohenden Faschismus überrannt werden wollen.



Nach der Zerstörung von Babri Masjid am 6. November 1992

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 wurde offensichtlich, dass Hindutva- und Moslem-Fundamentalismus die Identitätspolitik in der Diaspora heftig strapaziert haben.

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 Doch dies darf unsere Aufmerksamkeit nicht von der Tatsache ablenken, dass die Nation sich im Lauf der Geschichte periodisch immer wieder ein neues Bild von sich machen muss, und dies muss, wie Neera Chandhoke betont hat, auf demokratische Weise geschehen.

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 Dieses Bedürfnis wieder­um entsteht nicht nur als Reaktion auf die schmähliche Ideologie des Hasses auf »das andere«, die Hindutva produziert, oder gar die Politik, Stolz aus Mord zu beziehen, die Narendra Modi nach Ghodra ins Leben rief

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. Es entsteht vielmehr zuallererst aus dem Missstand, dass »die Nation«, die 1947 Unabhängigkeit erlangte, es nicht geschafft hat, die soziale Emanzipation der Frauen, der Dalits, der benachteiligten Kasten, der Moslems und anderer religiöser Minderheiten, der Adivasis und der »Stammesvölker« des Nordostens herbeizuführen.

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Diese soziale Transformation steht noch aus. Die gegenwärtig gefährliche Konstellation ist die, dass den Leuten verhängnisvolle Simplifizierungen angeboten werden – von den Hindutva (wie dass Dalits und Adivasis eingespannt werden, um bei kommunalen Krawallen Moslems zu bekämpfen) oder von der Globalisierung (wie bei der Bhopal-Konferenz von Digvijay Singh). Neera Chandhoke hat zu Recht auf das Zusammenfallen des Hindutva-Aufstiegs mit der IWF-Anleihe von 1991 hingewiesen, die die ganze Zerbrechlichkeit des selbstgesteuerten natio­nalen Projekts sichtbarer machte als je zuvor. Der Nationalstolz – garv se kaho hum hindu hai – wurde an chauvinistischen religiösen Richt­linien entlang rekonstruiert, und zwar genau im selben Moment, als jeder Anschein nationaler Souveränität an die internationalen Finanzinstitutionen verscherbelt wurde. Natürlich geht diese Rekonstruktion für sich genommen auf die Zwanzigerjahre des 20. Jahrhunderts zurück, als gleichzeitig der Indian National Congress seine säkulare neue Linie auszugeben begann. Aber dieses Wiederaufleben eines in den Zwanzigern angelegten »faschistischen Erbes« in den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts konnte man in vielen Ländern beobachten, wenn die Wahlen in Italien, Frankreich und den Niederlanden als Indiz zu nehmen sind. Das Neue an der gegenwärtigen Situation ist das Aufwallen eines chauvinistischen Majoritarismus, der anscheinend immun gegen säkulare Kritik ist und sich nur internationalem Druck beugt. Übrigens hat diese majoritäre Ideologie nicht nur die Kongresspartei ergriffen, deren säkulare Referenzen ohnehin extrem wackelig sind, spätestens seit den Anti-Sikh-Pogromen von 1984. Sie hat sogar die Dravidischen und die Dalit-Bahujan-Parteien ergriffen. Dies geht auch einher mit einem Anstieg von Minderheitskommunalismus, der bei bestimmten Anlässen gefährlich gewaltbereit ausfällt. Noch verstörender ist, dass sogar der Oberste Gerichtshof seine säkularen Referenzen über Bord warf und es ganz aufgab, das Verbreiten von religiösen Feindseligkeiten und Hass durch Hindutva zu unterbinden.

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 Hindutva wird anerkannt und gilt einfach als »way of life«, als Lebensweise, sollen Demokratie und kultureller Pluralismus doch sehen, wo sie bleiben. Vor einiger Zeit erhielt ich einen Artikel mit der Überschrift »Die Wurzeln des Kommunalismus

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: Die BJP zu verurteilen greift zu kurz!«, geschrieben von Genosse A. K. Roy, einem linken Kohlengrubengewerkschafter in Dhanbad, Jharkhand. Überzeugend demonstriert er den Zusammenhang zwischen dem Zerfall der sozialistischen Regimes in Osteuropa und dem Anstieg religiöser und ethnischer Gewalt. Er betont auch den Zusammenhang zwischen Globalisierungspolitik und wachsendem Kommunalismus und Fundamentalismus in unserem Land. Es liegt nicht daran, dass Identitätspolitik an sich etwa notwendigerweise zersetzend wäre. Identitätspolitik kann, wenn sie nicht durch das Ideal sozialer Gerechtigkeit und Respekt vor dem Leben gemäßigt wird, gewalttätig und zersetzend wirken. Und sie kann in eine Survival-of-the-fittest-Ideologie münden, welche aus anderen Gründen breit im Aufwind ist.





4. Technokratischer Sozialdarwinismus in einem begrenzten Ökosystem



Die Widersprüche zwischen der Lehre grenzenlosen ökonomischen Wachstums und den Grenzen des weltweiten Ökosystems wurden erstmals in den frühen Siebzigern vom Club of Rome

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 aufgezeigt. Dieser Widerspruch wurde später mit dem Brundtland-Report

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 übertüncht, der den Terminus »nachhaltige Entwicklung« prägte und suggerierte, man könne mit einer gewissen Umsicht in Umweltfragen ständige Wachstumsraten aufrechterhalten. Inzwischen haben die UN-Umweltkonferenzen von Rio und Johannesburg klar gezeigt, dass das Ökosystem an seine Grenzen gerät. Gleichzeitig weigern sich die USA und andere hochgradig umweltverschmutzende Wirtschaftsnationen beharrlich, das Tokio-Protokoll zu unterzeichnen, ganz egal, was mit Bangladesh oder den Malediven geschieht, wenn die Polarkappen weiter schmelzen. Und die Niederländer haben ja schließlich ihre Deiche.

 



Es ist eine Tatsache, dass der real existierende Sozialismus in Osteuropa mit den USA in einem wachstumsorientierten Industrialismus­paradigma wetteiferte, das die Natur als eine auszubeutende Ressource auffasste und als Becken für giftige Abfälle, ohne jemals die Lehre von der Kapitalakkumulation aufzuwiegen gegen den Raubbau an der Natur und ihre Zerstörung. Die ostdeutschen Ökologen wie Wolfgang ­Harich oder Rudolf Bahro

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 mussten zu Dissidenten werden, obwohl sie felsenfest im historischen Materialismus wurzelten. Diese Logik gipfelte im Wettrüsten, und das Wettrüsten war denn auch ein entscheidender Faktor im Herbeiführen des Zusammenbruchs der osteuropäischen Gesellschaften einschließlich der Vollbesch�

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