Seelsorgelehre

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Seelsorgelehre
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utb 2147

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Jürgen Ziemer

Seelsorgelehre

Eine Einführung für Studium und Praxis

4., neu bearbeitete und erweiterte Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht

Dr. theol. Jürgen Ziemer ist Professor em. für Praktische Theologie an der Universität Leipzig.

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Ehret/Trew: Plantae selectae, Nürnberg 1750–1773.

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen/

Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.

www.v-r.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der

vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: Ruhrstadt Medien AG, Castrop-Rauxel

UTB-Band-Nr. 2147

ISBN: 978-3-8463-4319-7 (UTB)

Inhalt

Abkürzungsverzeichnis

Vorwort

Einleitung: Seelsorge – erste Verständigungen

Literatur

1. Leben im Ungewissen – Zu den Kontexten heutiger Seelsorgepraxis

1.1 Lebensbedrohlicher Sicherheitsverlust

1.2 Modernisierung des gesellschaftlichen Lebens – soziologische Aspekte

1.3 Herausforderungen im vereinten Land

1.4 Auf dem Wege zu einer neuen Moral?

1.5 Kirchen im Wandel

Literatur

2. Seelsorge in der Geschichte

2.1 Die Gegenwart der Ursprünge

2.1.1 Die Seele und die Geschichtlichkeit der Seelsorge

2.1.2 Biblische Ursprünge und Maßstäbe

Literatur

2.2 Wandlungen des Seelsorgeverständnisses

2.2.1 Seelsorge als Kampf gegen die Sünde (Alte Kirche)

2.2.2 Seelsorge als Beichte (Mittelalter)

2.2.3 Seelsorge als Trost (Luther)

2.2.4 Seelsorge als Hirtendienst (Schweizer Reformation)

2.2.5 Seelsorge als Erbauung (Pietismus)

2.2.6 Seelsorge als Bildung und Lebenshilfe (Aufklärung)

2.2.7 Seelsorge und Seelsorgelehre im 19. Jahrhundert

Literatur

3. Seelsorge und Seelsorgelehre in der Gegenwart

3.1 Poimenische Herausforderungen

3.2 Hauptströmungen der Seelsorgelehre im 20. Jahrhundert

3.2.1 Seelsorge als Verkündigung im Gespräch (kerygmatische Seelsorge)

3.2.2 Seelsorge als Beratung (Seelsorgebewegung)

3.2.3 Seelsorge als biblische Therapie (evangelikale Seelsorge)

Literatur

3.3 Pastoralpsychologie als Grunddimension in der gegenwärtigen Seelsorgelehre

3.3.1 Pastoralpsychologie – Verständigungen über den Begriff

3.3.2 Konturen pastoralpsychologischer Seelsorgelehre

3.3.3 Themen der Diskussion um Pastoralpsychologie

3.3.4 Worauf kommt es an? Konturen für die Zukunftsentwicklung einer pastoralpsychologisch orientierten Seelsorge (Zusammenfassung)

Literatur

3.4 Differenzierungen der Seelsorgelandschaft im 21. Jahrhundert

3.4.1 Profilierungen des pastoralpsychologischen Seelsorgekonzepts

3.4.4.1. Tiefenpsychologische Seelsorge

3.4.1.2 Systemische Seelsorge

3.4.2 Alternative Seelsorgekonzepte

3.4.2.1 Alltagsseelsorge

3.4.2.2 Geistliche Begleitung

3.4.2.3. Seelsorge als Lebensberatung

3.4.3 Seelsorge als Antwort auf gesellschaftliche Herausforderungen

3.4.3.1 Feministische Seelsorge

3.4.3.2 Interkulturelle Seelsorge

Literatur

4. Konturen eines theologischen Seelsorgeverständnisses

4.1 Seelsorge als Praxis des christlichen Glaubens (grundlegende Aspekte)

4.2 Seelsorge als Befreiungsgeschehen (emanzipatorischer Aspekt)

4.3 Seelsorge als Orientierungsarbeit (ethischer Aspekt)

4.4 Gemeinde als Ort der Seelsorge (ekklesiologischer Aspekt)

4.5 Seelsorge als solidarische Praxis (diakonischer Aspekt)

Literatur

5. Seelsorge als psychologische Arbeit

5.1 Welche Psychologie braucht die Seelsorge?

5.1.1 Psychotherapiekonzepte im Überblick

5.1.2 Kriterien für eine poimenische Rezeption

 

5.2 Psychologische Aspekte von Seelsorge

5.3 Proprium christlicher Seelsorge?

Exkurs: Charaktertypen

Literatur

6. Das Gespräch in der Seelsorge

6.1 Was ist ein seelsorgliches Gespräch?

6.1.1 Die Form des seelsorglichen Gesprächs

6.1.2 Die Sprache des Gesprächs und die Sprachen der Seelsorge

6.1.3 Die Struktur der seelsorglichen Beziehung

6.2 Seelsorgliche Verhaltensweisen im Gespräch

6.2.1 Verstehendes Verhalten

6.2.2 Annehmendes Verhalten

6.2.3 Ermutigendes Verhalten

6.2.4 Authentisches Verhalten

6.3 Der Weg des Gesprächs

6.4 Interventionen im seelsorglichen Gespräch

6.5 Das seelsorgliche Gespräch als geistliches Geschehen

6.6 Störungen im Gespräch

6.7 Weitervermittlung in besonderen Fällen

Literatur

Exkurs: Kurzzeitseelsorge

7. Der seelsorgliche Beruf

7.1 Wer übt Seelsorge?

7.2 Wer bin ich als Seelsorgerin?

7.3 Seelsorgliche Kompetenz

7.4 Ausbildung zur seelsorglichen Arbeit

7.4.1. Lernfelder einer Seelsorgeausbildung

7.4.2. Seelsorgeausbildung im Theologiestudium

7.4.3. Ausbildung und Fortbildung für seelsorgliche Praxis

7.5 Supervision und Seelsorge für Seelsorgerinnen und Seelsorger

7.6 Seelsorgliche Schweigepflicht

Literatur

8. Lebensthemen in der Seelsorge

8.1 Wer bin ich? – Auf der Suche nach Identität

8.1.1 Wahrnehmungen im Umkreis der Identitätsfrage

Exkurs: Zur Diskussion um den Identitätsbegriff

8.1.2 Von den Schwierigkeiten selbst zu sein (psychologische Aspekte)

8.1.3 Theologische Vertiefung

8.1.4 Seelsorgliche Praxis

Literatur

8.2 In Beziehungen leben

8.2.1 Wahrnehmungen

8.2.2 Diagnostische Aspekte: Kommunikationshindernisse

8.2.3 Theologische Vertiefung

8.2.4 Seelsorgliche Praxis

Literatur

8.3 Auf der Suche nach Sinn

8.3.1 Die seelsorgliche Wahrnehmung der Sinnfrage

8.3.2 Humanwissenschaftliche Aspekte zur Sinnfrage

8.3.3 Theologische Aspekte

8.3.4 Seelsorgliche Praxis

Literatur

8.4 Mit Ängsten leben

8.4.1 Wahrnehmungen der Angst – phänomenologische Aspekte

8.4.2 Sichtweisen der Angst – anthropologische Aspekte

8.4.3 Angst im biblisch-theologischen Verständnis

8.4.4 Mit Angst leben – seelsorgliche Aspekte

Literatur

8.5 Mit eigener Schuld umgehen

8.5.1 Begegnungen mit Schuld in der Seelsorge

8.5.2 Anthropologische Aspekte

8.5.3 Theologische Aspekte zum Schuldverständnis

8.5.4 Zur seelsorglichen Praxis

Exkurs: Beichte und Seelsorge

Literatur

8.6 Glauben lernen

8.6.1 Begegnungen mit der Glaubensfrage in der Seelsorge

8.6.2 Psychologische Aspekte

8.6.3 Kriterien lebendigen Glaubens (theologische Aspekte)

8.6.4 Seelsorge als Gespräch über den Glauben

Literatur

9. Seelsorge in unterschiedlichen Lebenssituationen

9.1 Seelsorge in verschiedenen Lebensphasen

9.1.1 Grundlegende Aspekte für die Lebensaltersseelsorge

9.1.2 Seelsorge mit Kindern

Exkurs: Schulseelsorge

9.1.3 Jugendliche und junge Erwachsene

9.1.3.1 Seelsorgliche Einstellung

9.1.3.2 Seelsorgliche Themen

9.1.4 Mittleres Lebensalter

9.1.5 Der alte Mensch

Exkurs: Eine besondere Aufgabe: Seelsorglicher Umgang mit Demenzkranken

Literatur

9.2 Der kranke Mensch in der Seelsorge

9.2.1 Krankheit und Kranksein – anthropologische Aspekte

9.2.2 Biblisch-theologische Aspekte

9.2.3 Der seelsorgliche Umgang mit kranken Menschen

Exkurs: Psychische Krankheiten in der Seelsorge

9.2.4 Seelsorge an Sterbenden

Exkurs: Zur ethischen Problematik der sogenannten Sterbehilfe

Literatur

9.3 Seelsorge im Trauerfall

9.3.1 Die Wahrnehmung der Trauersituation

9.3.2 Zur Psychologie der Trauer

9.3.3 Das Evangelium in der Trauersituation

9.3.4 Zur seelsorglichen Praxis

Literatur

9.4 Seelsorge in Krisensituationen

9.4.1 Seelsorge als Krisenhilfe

9.4.1.1 Humanwissenschaftliche und theologische Aspekte zur Krisensituation

9.4.1.2 Seelsorge als Krisenintervention

9.4.2 Seelsorge und Trauma

9.4.3 Seelsorge bei Suizidhandlungen

9.4.3.1. Grundlegende Aspekte zur Suizidalität

9.4.3.2 Zur seelsorglichen Praxis bei Suizidhandlungen

Literatur

10. Institutionalisierungen seelsorglicher Arbeit

10.1 Psychologische Beratungsstellen

Literatur

10.2 Spezielle Seelsorgedienste

 

10.2.1 Krankenhausseelsorge

10.2.2 Gefängnisseelsorge

10.2.3 Seelsorge in der Bundeswehr (Militärseesorge)

10.2.4 Notfallseelsorge

10.2.5 Kur- und Urlauberseelsorge

Literatur

10.3 Mediengestützte Seelsorge

10.3.1 Telefonseelsorge

10.3.2 Internetseelsorge

Literatur

Adressenverzeichnis

Bibelstellenregister

Sachregister

Personenregister

Abkürzungen


BThZBerliner Theologische Zeitschrift, Berlin
DPCCDictionary of Pastoral Care and Connseling, ed. R. J. Hunter, Nashville 1990
EGEvangelisches Gesangbuch
EKLEvangelisches Kirchenlexikon, 31986ff.
HbSHandbuch der Seelsorge, hg. von Wilfried Engemann, Leipzig 2007
Herbst, SeelsorgeHerbst, Michael: beziehungsweise: Grundlagen und Praxisfelder evangelischer Seelsorge, Neukirchen 2012.
Klessmann, SeelsorgeKlessmann, Michael: Seelsorge, Neukirchen 2008, 41012
Morgenthaler, SeelsorgeMorgenthaler, Christoph: Seelsorge, Gütersloh 2009
PrThPraktische Theologie. Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Kirche Gütersloh (früher: Theologia practica)
PThPastoraltheologie. Monatsschrift für Wissenschaft und Praxis in Kirche und Gesellschaft, Göttingen
PThIPastoraltheologische Informationen
RGGDie Religion in Geschichte und Gegenwart 11998ff.
ThLZTheologische Literaturzeitung, Leipzig
TRETheologische Realenzyklopädie, Berlin 1976ff.
WALuther, Martin: Werke. Weimarer Ausgabe
WzMWege zum Menschen. Monatsschrift für Seelsorge und Beratung, heilendes und soziales Handeln, Göttingen
ZdZDie Zeichen der Zeit, Berlin, ab 1991 Leipzig
ZEEZeitschrift für Evangelische Ethik, Gütersloh
ZThKZeitschrift für Theologie und Kirche, Tübingen

Vorwort

Es gibt gewiß keinen Mangel an Literatur zur Seelsorge. Da mag es riskant erscheinen, sich mit einer neuen Seelsorgelehre herauszuwagen. Gibt es in diesen Fragen etwas mitzuteilen, das nicht schon geschrieben wurde? Und falls doch: was und wem wird es nützen? Die pastoralpsychologische Herangehensweise in Seelsorge und Seelsorgeausbildung hat uns Skepsis gegenüber theoretischen Gesamtentwürfen gelehrt. Die Gefahr eines Verlustes an Wirklichkeit und Dynamik ist unübersehbar, und seelsorgliche Kompetenz, das ist unbestreitbar richtig, erlernt niemand durch die Lektüre von Lehrbüchern. Diese können jedenfalls das notwendige Erfahrungslernen nicht ersetzen.

Gleichwohl kann, wie ich zuversichtlich hoffe, seelsorgetheoretische Literatur doch auch im Blick auf die Praxis von Wert sein: propädeutisch als Vorbereitung auf seelsorgliches Handeln und seelsorgliches Lernen und praxisbegleitend als Hilfe zur kritischen theologischen und humanwissenschaftlichen Reflexion von Seelsorgeerfahrungen.

Auch aus Bedürfnissen heraus, die sich im Rahmen akademischen Lehrens ergeben, erschien es mir naheliegend, die relevanten Stoffe einer Seelsorgelehre einmal aus meiner eigenen Sicht im Zusammenhang darzustellen. Die vorliegende Einführung wendet sich an Studierende und darüber hinaus an diejenigen, die in der seelsorglichen Praxis tätig sind. Es geht dabei bewußt um eine „Einführung“; das bedeutet, dass bei der Behandlung einzelner Themen eine Auswahl getroffen werden mußte und dass dem Elementaren zu Ungunsten des Spezielleren ein Vorrang einzuräumen war. Vielleicht findet das Buch so auch bei denen Interesse, die in säkularen Bereichen als Therapeutinnen, als Sozialarbeiter oder wie auch immer für die „Seelen“ von Menschen zu sorgen haben.

Die Grundausrichtung der vorliegenden Einführung ist pastoralpsychologischer Natur.

Gleichzeitig will ich jedoch versuchen, Anregungen aus der neu in Gang gekommenen poimenischen Diskussion aufzunehmen.

Erfahrungen in und mit der pastoralpsychologischen Seelsorgeausbildung hatten für mich selbst entscheidende Bedeutung. Hans-Joachim Wachsmuth zuerst und dann später Wybe Zijlstra (†) und Hans-Christoph Piper, sowie Hermann Andriessen und Reinhard Miethner waren mir unschätzbare Anreger und Begleiter. Die eigene Seelsorgelehre erwuchs weiter aus dem, was ich Studierende zu lehren hatte und was ich mit ihnen lernte. Einen wichtigen Hintergrund für die Darstellung der Seelsorge bilden die eigenen Besuche auf Krankenstationen und seelsorgliche Gespräche bei vielen verschiedenen sich bietenden Gelegenheiten. Ob aus solchen Erfahrungen heraus ein auch für die Praxis brauchbarer Entwurf entstanden ist, müssen die Leserinnen und Leser selbst entscheiden.

Während der Ausarbeitung des Buches habe ich viele Hilfe erfahren. Beim Schreiben des Manuskripts haben mich Renate Jurisch und Dorothea Schliebe unterstützt, bei dessen Durcharbeit halfen Astrid Kühme und Kathrin Jell mit wichtigen Hinweisen und Korrekturen. Letztere hat sich zudem bei der Herstellung der Register und bei den Korrekturarbeiten verdient gemacht. Werner Biskupski hat das Manuskript kritisch gegengelesen, und Friedrich-Wilhelm Lindemann gab mir sehr wichtige Hinweise zur Gestaltung des Psychologiekapitels. Ihnen allen sei ganz herzlich gedankt. Ein ganz besonderer Dank gebührt Michael Böhme, der nicht nur für ein verlagsgerechtes Typoskript gesorgt hat, sondern mir auch darüber hinaus jederzeit ein hilfreicher und freundschaftlicher Gesprächspartner war.

Ich danke dem Verlag dafür, dass er in einer Zeit nicht gerade boomenden Seelsorgeinteresses dieses Buch in sein Programm aufgenommen, sowie Frau Renate Hübsch für die entgegenkommende Weise, mit der sie das Manuskript betreut hat.

Nicht zuletzt danke ich meiner Frau. Sie hat mit ihrem Verständnis für die behandelten Gegenstände wie für den Autor mehr Anteil am Werden dieses Buches, als sich in Worten sagen läßt. Ihr sei es gewidmet.

Vorwort zur 4. Auflage

Seit dem Erscheinen der ersten Auflage dieser Seelsorgelehre sind 15 Jahre vergangen. Inzwischen hat sich in unserem Land, im gesellschaftlichen und religiösen Leben der Menschen vieles verändert. Die Arbeit der Kirchen und insbesondere das Verständnis und die Praxis ihrer Seelsorge sind davon nicht unberührt geblieben. Wenn dieses Buch noch einmal in neuer Auflage erscheinen sollte, bedurfte es dazu intensiver Überarbeitung des gesamten Textes. Dazu haben mich dann eine überwiegend positive Resonanz der Leser wie auch konstruktive Hinweise kollegialer Kritik ermutigt.

Auf ein paar der größeren Veränderungen sei hingewiesen:

–In der Einleitung waren Präzisierungen zur genaueren Bestimmung von „Seele“ und „Seelsorge“ notwendig.

–Die Beschreibung der kontextuellen Situation heutiger Seelsorge musste naheliegender Weise an vielen Stellen aktualisiert werden (1).

–Auch die Darstellung der „Seelsorgelandschaft“ in der Gegenwart war neu zu überdenken und zu erweitern (3.3. und 3.4).

–Das theologische Kapitel ist fast völlig neu geschrieben worden (4).

–In anderen Abschnitten waren Ergänzungen einzufügen: z.B. über die Sprache der Seelsorge und Kurzzeitseelsorge (6), über Taufe, Schulseelsorge (9.1.1), Seelsorge mit Demenzkranken (9.1.5), Seelsorge und Trauma (9.4.2)), über Spiritual Care und Internetseelsorge (10).

–Bei den „Lebensthemen“ wurde ein Unterkapitel über Angst neu hinzugefügt (8.4).

–Aktuelle Literatur ist in allen Kapiteln eingearbeitet worden, allerdings ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

Unvermeidlich war, dass auf diese Weise der Umfang des Buches wuchs und die Seitenzahlen sich verschoben. Das ist vor allem für den wissenschaftlichen Gebrauch ärgerlich. Trotz aller Änderungen ist aber diese Seelsorgelehre in ihrer Gesamtanlage und weithin auch in ihrem Textbestand die gleiche geblieben. Mein poimenischer Grundansatz hat sich nicht wesentlich verändert und ebenso wenig die feste Überzeugung, dass geübter und gelebter Seelsorge auf dem Zukunftsweg unserer Kirchen und Gemeinden unbedingt eine Priorität gebührt.

Bei der manchmal doch recht aufwändigen Erarbeitung dieser Neuauflage war es gut, gelegentlich auf fachlich-freundschaftlichen Rat zurückgreifen zu können. Ich danke dafür Werner Biskupski und Friedrich-Wilhelm Lindemann und ebenso meiner Frau, die auch die mühevolle Registerarbeit mit mir teilte. Herrn Moritz Reissing schließlich sei herzlich gedankt für Unterstützung und Hilfe bei der Herstellung des neuen Drucksatzes.


Leipzig, im Sommer 2015Jürgen Ziemer

Eine Zeit nach seinem Tode sagte ein Freund:

„Hätte er zu wem zu reden gehabt, er lebte noch.“1

Einleitung: Seelsorge – erste Verständigungen

1. Seelsorge ist vielen heute ein fremdes Wort geworden

Natürlich hat man von Seelsorge schon einmal gehört. Und es gibt eine ungefähre Vorstellung davon. Seelsorge ist nicht unbekannt, aber doch fremd. Vielen Zeitgenossen klingt das Wort etwas altertümlich und vielleicht auch exklusiv. Es gehört für sie zur Sprache einer Sonderwelt.

Obwohl nur bedingt ein religiöses Wort2, wird es doch schnell dieser Sphäre zugeordnet. Vermutlich würde man es von sich aus auch gar nicht in den Mund nehmen; denn wer es aktiv gebraucht, gibt sich zu erkennen. Auch Gemeindeglieder verwenden das Wort Seelsorge eher selten. Andere Begriffe wie „Gespräch“, „Beratung“ oder „Aussprache“ – im Grunde fast Synonyme für „Seelsorge“ – erscheinen unverfänglicher. Die Verknüpfung mit dem religiös-kirchlichen Kontext scheint dabei nicht so unausweichlich gegeben. Das Wort „Seelsorge“ hat Anteil an der Fremdheit von Glauben und Kirche in unserer Welt?3

2. Das Wort Seelsorge löst oft ambivalente Empfindungen aus

Auch unter Christen hat „Seelsorge“ einen unterschiedlichen Klang. Sie wird einerseits hoch geschätzt und auf der anderen Seite zugleich skeptisch beurteilt. In Auseinandersetzungen über das zukünftige Profil von Kirche und Gemeinden hat die Seelsorge meist einen hervorgehobenen Stellenwert. Viele Kirchenvorstände wünschen sich mehr seelsorgliche Aktivitäten in der Gemeinde, und bei Pfarrwahlen hat die Eignung der Bewerberinnen und Bewerber für die Seelsorge einen bedeutsamen Auswahlwert.4 In vielen Fällen wird aber gar nicht klar, inwieweit Menschen auch für sich selber ein seelsorgliches Angebot in Anspruch nehmen würden. Zuweilen findet sich die (unbewusste) Einstellung: Seelsorge ist sehr wichtig, aber ich hoffe, dass ich selbst sie nicht brauche. Was Seelsorge wirklich ist, liegt ja nicht so deutlich zu Tage, wie wenn es um Predigt oder Konfirmandenunterricht geht. Seelischer Hilfe zu bedürfen, erscheint zudem eher peinlich, ein Zeichen von Schwäche – sei es psychischer, sei es geistiger, sei es lebenspraktischer Art. Bei Seelsorge gehen die Gedanken zuerst an andere, die Beistand brauchen: Kranke, Zweifelnde, Sterbende, in Not Geratene. Manchmal haftet dem seelsorglichen Handeln gar ein Geruch des Weichen, Fürsorglichen, des Freundlich-Betulichen oder auch des Frömmlerischen an. Konkrete Erfahrungen müssen nicht unbedingt dahinterstehen. Das gilt auch angesichts der häufig zu beobachtenden Furcht vor einem moralisierenden Ermahnungston in der Seelsorge. Dem muss nicht widersprechen, dass mitunter gerade ein solches Verhalten einem Seelsorger nahe gelegt wird: „Herr Pfarrer, mit unserem Sohn sollten Sie mal ein seelsorgliches Wort reden!“

Die Ambivalenz gilt im Blick auf die Seelsorge auch für Pfarrerinnen und Pfarrer selbst. Der große Reiz dieser Arbeit und die Hoffnung, hier wirklich für die Menschen erreichbar und alltagsrelevant tätig zu werden, wird konterkariert von Zweifeln: Worauf lasse ich mich da eigentlich ein? Wie ernst muss diese Aufgabe wirklich genommen werden? Begebe ich mich da nicht auf ein viel zu offenes Feld? Kommen hier auf mich Erwartungen zu, die ich gar nicht erfüllen kann?

3. Seelsorge ist etwas zutiefst Menschliches

Gegenüber allen Voreinstellungen und Vorurteilen, so verständlich sie sein mögen, ist zunächst festzuhalten: Seelsorge ist eine unverzichtbare und grundlegende Weise menschlichen Miteinanderseins. Ob sie professionell im Rahmen einer kirchlichen Berufstätigkeit oder spontan als Reaktion unmittelbaren Betroffenseins ausgeübt wird, ist hier erst einmal von untergeordneter Bedeutung. Es ist einfach menschlich, sich gegenseitig zu raten und Rat zu holen. Und es ist menschlich, jemanden zu haben, dem man zu vertrauen vermag, dem man sein Herz ausschütten kann, dem man sich zumuten darf. Seelsorge hängt mit der menschlichen Fundamentalerfahrung zusammen, dass wir Angewiesene sind, dass wir nicht immer allein zu Rande kommen – weder seelisch, noch emotional, noch glaubensmäßig, noch lebenspraktisch. Wir brauchen Menschen, denen wir uns anvertrauen können; manchmal ist es gut, wenn sie nicht aus dem eigenen Umfeld kommen.

Seelsorge ist etwas zutiefst Menschliches, aber sie ist deswegen nichts weniger als selbstverständlich. Selbstverständlich ist viel eher, sich aus dem Wege zu gehen, sich fremd zu bleiben, andere sich selbst und ihren eigenen Problemen zu überlassen oder an die für Gesundheit und Wohlfahrt zuständigen Institutionen zu verweisen. Rolf Zerfaß hat als ein Modell für den menschlichen Aspekt von Seelsorge die Erfahrung von „Gastfreundschaft“ empfohlen. Gastfreundliche Seelsorge gibt dem anderen Raum, sie nimmt seine Bedürfnisse wahr, ohne ihn damit gleich zu vereinnahmen. Sie gibt und empfängt zugleich. Gastfreundliche und darin eben „menschliche“ Seelsorge „wagt es, sich fremden Menschen anzuvertrauen, weil sie die überraschende Erfahrung macht, dass uns bis heute im Fremden Gott begegnet.5

4. Seelsorge ist „Sorge um die Seele“

Dass Seelsorge etwas zutiefst Menschliches ist, erfüllt sich schon in dem, was der Begriff selber sagt: sie ist „Sorge um die Seele“. So banal diese Auskunft erscheinen mag, so ist sie doch gleichwohl auslegungsbedürftig. Denn: was ist eigentlich „die Seele“? Wer von ihr spricht, hat eine ungefähre Ahnung, aber im Zusammenhang einer Seelsorgelehre muss man doch etwas genauer werden.

„Seele“ erscheint uns zunächst als etwas Gegensätzliches zum „Leib“. Über Jahrhunderte haben sich gläubige Menschen an der von der griechischen Philosophie begründeten Vorstellung getröstet, dass es außer dem sterblichen Leib noch etwas Anderes gibt, das bleibt und um das zu sorgen sich lohnt. Bei näherem Zusehen freilich zeigt sich, dass in der Bibel von der Seele keineswegs in Abgrenzung zum Leib gesprochen wird, sondern im Zusammenhang mit ihm. Das hebräische Wort für „Seele“ heißt nefäs und hat eine leibnahe Bedeutung: Atem, Schlund, Leben; es steht für ganz vitale Lebensregungen: Hunger, Durst, Begehren, Liebe, Dankbarkeit, auch Klage, Zorn und intensives Sehnen. Oft sind es die tiefer gehenden Gefühle, die uns den Weg zur Seele weisen. Das Wort „Seele“ kann auch für das stehen, was wir in psychologischer Terminologie heute das „Ich“ oder das „Selbst“ nennen6, etwa wenn der 103. Psalm mit der Selbstaufforderung beginnt. „Lobe den Herrn, meine Seele“! Im Neuen Testament steht das griechische Pendant für die Seele „psyche“ an vielen Stellen faktisch für „Leben“, für das Leben des „ganzen“ Menschen (z.B. Mk 8, 35, Mt 6, 25). In biblischer Sicht gehören also Leib und Seele zusammen. Der Leib ist nicht „ganz“ ohne Seele, die Seele nicht ohne Leib.7

Aber noch einmal: Was ist dann die Seele? Eine Funktion unseres Körpers? Ein Produkt des Gehirns, wie es uns manche Neurowissenschaftler nahe legen?

Die Seele ist keine materielle „Substanz“, losgelöst von unserer körperlichen Existenz. Sie bezeichnet vielmehr eine grundlegende Beziehung der Person und des Leibes.8 Sie ist der „Ort“, wo Gottes Zuwendung zu uns und unsere Hinwendung zu ihm Ereignis werden: „Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott.“ (Ps 43, 3). Seele ist Beziehung auf etwas, das uns leibhaft nahe ist und das zugleich über uns hinaus weist. Hier wird deutlich, wer von der „Seele“ spricht, berührt die religiöse Dimension. Das darf natürlich nicht so verstanden werden, dass nur im konfessionellen Sinn gläubige Menschen auf ihre Seele und auf Seelsorge hin ansprechbar wären. Die Seele dürstet, sie „hat“ nicht, sie ist Sehnsucht und Suchen. Und da sind gläubige von weniger gläubigen Menschen oft nicht weit entfernt. Die Seele ist, was Menschen als „Tiefe“ ihres Seins spüren, wohin ihr Herz neigt. Seelsorge, die für die Seele sorgt, fragt nach dem, was für die je eigene Seele wesentlich ist und so spricht sie den Menschen, schlicht gesagt, „persönlich“ an. Darüber freut sich die Seele, wie Augustin sagt, und: „Sie nährt sich von dem, woran sie sich freut.“9. Es ist die Freude darüber, als ungeteilt sein zu dürfen, was ich bin: leiblich, geistig, religiös. Die Seele als „Ort der Freude“ ist so auch der „Ort des Gewissens“10, an dem das Ich sich seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen bewusst wird.

5. Seelsorge ist unverzichtbares kirchliches Handeln

Gerade wenn wir mit Zerfaß Seelsorge unter anderem als Erfahrung von „Gastfreundschaft“ beschreiben wollen, wird deutlich, dass sie auch als eine Weise verstanden werden kann, in welcher Menschen das Evangelium begegnet. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass Luther im dritten seiner „Schmalkaldischen Artikel“ zum Ausdruck gebracht hatte, dass das Evangelium neben Wort und Sakrament auch „per mutuum colloquium et consolationem fratrum“11, also durch wechselseitiges Gespräch und geschwisterliche Tröstung erfahren werde. Indem Menschen miteinander sprechen und füreinander aufmerksam werden – helfend, stärkend, herausfordernd, ratend, ermutigend – erfahren sie auch etwas von der Menschenfreundlichkeit Gottes in Christus, die in einer Gemeinde Gestalt gewinnt.

„Seelsorge findet sich in der Kirche vor…“, heißt es in diesem Sinne am Beginn einer der einflussreichsten Seelsorgelehren des 20. Jahrhunderts12 Dieser Satzanfang muss sowohl deskriptiv wie normativ verstanden werden. Kirche ist nicht Kirche ohne Seelsorge und sie kann es nicht sein. Wir haben als diese nicht zu überlegen, ob wir Seelsorge wollen oder nicht. Seelsorge als die Realisierung einer helfenden Beziehung zwischen Menschen, die sich im Horizont des Glaubens geschwisterlich verbunden wissen, gehört zur Auftragsgestalt der Kirche – nicht mehr und nicht weniger als der Gottesdienst, die Verkündigung oder der Unterricht. Damit sollten freilich Menschen außerhalb der Kirche von Erfahrungen seelsorglichen Handelns bewusst nicht ausgeschlossen werden. In der Seelsorge und durch sie könnte kirchliches Handeln gerade als grenzüberschreitend in Erscheinung treten.

6. Seelsorge ist eine Brücke zur entkirchlichten Welt

Längst ist die Welt, die uns täglich umgibt, weithin säkular geworden, und viele Menschen sind den Kirchen entfremdet. Was in ihnen gesprochen wird, ist vielen religionslos gewordenen Zeitgenossen nicht mehr ohne weiteres verständlich. Und auch von denen, die zur Kirche gehören, gibt es viele, die mit den überlieferten Worten des Glaubens für sich nicht mehr viel verbinden können.13 Und doch ist ein Interesse da, das was die „Seele“, das was „unbedingt“ angeht, zu kommunizieren. Der Seelsorge könnte in dieser Situation eine echte Brückenfunktion zur Welt zukommen. Sie ist eine Möglichkeit, Menschen ganz unmittelbar anzusprechen, ohne Vermittlung durch Formen oder Formeln des kirchlichen Lebens. Seelsorge ist Kommunikation über seelische Fragen, ohne besondere religiöse Voraussetzungen dafür zu fordern. In Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“, einem unverkennbar nachchristlichen Roman, gibt es den Vorschlag für die Einrichtung eines „Weltsekretariats der Genauigkeit und Seele“ – von Ulrich, dem „Romanhelden“ zunächst „aus Spaß“, später immer ernsthafter erwogen. Dahinter steht das noch ganz unsichere Gefühl, es sei etwas nötig, „damit die Leute, die nicht in die Kirche gehen, wissen, was sie zu tun haben.“14 Es geht bei „Genauigkeit und Seele“ keineswegs nur um Moral, sondern um die den Menschen zuwachsenden Fragen, die durch Wissenschaft allein nicht zu beantworten sind. Seelsorge als „Dialog um Seele“ kann Menschen in ihrem Bemühen um Selbstreflexivität und Tiefe begleiten. Sie ist ein echter Dienst an den Menschen. Und wenn Seelsorge diesen an den verschiedenen Orten, wo sich das nahe legt, ausübt, dann nimmt sie eine Brückenfunktion wahr. Sie sollte es tun ohne aufdringlich-missionarische Absichten. Vielleicht jedoch eröffnet sie so dann auch wieder ein Zurückfragen nach dem, was sie zu ihrem Tun autorisiert.15