Seelsorgelehre

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1.3Herausforderungen im vereinten Land

Seelsorge geschieht immer in einem geschichtlichen Kontext am konkreten Ort. Zu den kontextuellen Bedingungen gehören insbesondere die spezifischen Folgeerfahrungen nach der politischen Wende von 1989/90. Ein Vierteljahrhundert nach der deutschen Wiedervereinigung sind die veränderten politischen, kulturellen und sozialen Verhältnisse für die meisten Menschen zur Normalität geworden. Zumal die junge Generation in den neuen Bundesländern ist nicht mehr durch sozialistische Erziehung und einen DDR-spezifischen Lebensstil geprägt. Die Unterschiede im Lebensstandard verringern sich. Das Gefühl einer Zusammengehörigkeit wächst in der „Berliner Republik“, zumal dort wo der Blick zugleich auf Europa ausgerichtet ist. Es gibt große Herausforderungen wie z.B. die Energiewende und die ökonomischen Folgen der Globalisierung, die das ganze Land betreffen. Die Entwicklungsprobleme einzelner Regionen sind längst nicht mehr nur nach dem Ost-West-Schema verteilt.

Nichtsdestotrotz sind teilungsbedingte Verschiedenheiten nach wie vor spürbar und alltagsrelevant. Dass sie stärker im „Osten“ empfunden werden, liegt auf der Hand; denn im „Westen“ blieb nach 1990 aus der Bürgerperspektive alles weitgehend beim „Alten“. Noch gibt es ein – freilich inzwischen verringertes – Ungleichgewicht im Einkommensgefüge, auch ist die Zahl der Arbeitslosen im Osten höher. Erheblich sind nach wie vor die Unterschiede in den Vermögensverhältnissen. Viele, vor allem ältere Menschen in Ostdeutschland erleben ihre Situation noch als ungerecht. Aber wer klagt und sich möglicherweise immer einmal wieder gern seinen „ostalgischen“ Erinnerungen hingibt, möchte deshalb doch keineswegs in die alten Verhältnisse zurückkehren. Ambivalenz ist, mit Klaus Winkler zu reden, in besonderer Weise auch „Grundmuster“22 der ostdeutschen Seele.

Seelsorglich besondere Aufmerksamkeit verdienen einige nach wie vor erkennbare Unterschiede im Habitus, vor allem Selbst- und Kommunikationsverhalten. Westdeutsche verfügen in der Regel über wirksamere Formen der Selbstrepräsentation, achten sorgfältiger auf die Wahrung der Grenzen zwischen beruflicher und privater Kommunikation, sind vielfach auch besser in der Lage, streitbare Auseinandersetzungen zu bestehen.23 Freilich, die Unterschiede sind inzwischen geringer und werden je jünger die Generation desto weniger spürbar.

Nach der 40jährigen Trennungsgeschichte und dem unterschiedlichen Erleben der Jahre nach der friedlichen Revolution (1989) und Wiedervereinigung (1990) tritt nun wieder stärker die gemeinsame geschichtliche Vergangenheit ins öffentliche Bewusstsein. Dazu tragen die Erinnerungen an den Beginn des 1. Weltkrieges (1914) vor 100 Jahren und des 2. Weltkriegs (1939) vor 75 Jahren bei. Angesichts der immer wieder auftretenden Erscheinungen eines gewaltbereiten Rechtsextremismus ist es ein gesamtgesellschaftliches Erfordernis, an die grauenvollen Folgen des deutschen Nationalismus zu erinnern und das Gedenken an die Millionen Opfer der nationalsozialistischen Diktatur wach zu halten. Eine Fülle von Literatur und filmischen Dokumentationen dienen dem und werben für das Erinnern und gegen das Vergessen. In jüngster Zeit beginnt auch eine pastoralpsychologische Auseinandersetzung mit dem Holocaust und den in einzelne Familiengeschichten hineinwirkenden Verstrickungen mit dem nationalsozialistischen System.24 Auch die traumatisierenden Erfahrungen der letzten lebenden Generation des Zweiten Weltkriegs rücken noch einmal in das Blickfeld der Erinnerung.25 Dabei spielen dann in den persönlichen und familiären Auseinandersetzungen auch die ziemlich unterschiedlichen Erinnerungskulturen zwischen Ost und West nach 1945 noch einmal eine wichtige Rolle.

Die Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit hat gewiss heute nicht mehr die Brisanz und Intensität wie noch am Ende der 90er Jahre. Aber sie beschäftigt die Menschen vor allem in Ostdeutschland natürlich weiterhin. Dabei bestätigt sich, was Joachim Gauck 1998 diagnostizierte: „Die Wandlungen des Intellekts vollziehen sich recht schnell. Langsam nur ändern sich Haltung und Mentalität.“26 Dazu passen nach wie vor durchsichtige Selbstrechtfertigungsversuche und beflissene Anpassungsstrategien, und man ahnt, wie viel auch unbewusst in den Schutzraum des Verdrängten heruntersackt. Das ist menschlich und auch normal. In der Seelsorge, die immer auch biographisch arbeitet, spielt das gleichwohl und abseits aller Öffentlichkeit verständlicherweise nicht selten eine bedeutende Rolle. Besondere seelsorgliche Aufmerksamkeit verdienen in diesem Zusammenhang freilich diejenigen, die als Opfer des SED-Regimes bis heute seelisch und oft auch körperlich an den Folgen von Haft, Unterdrückung und psychischer Zermürbung leiden.27

Zu den nun wirklich ungeteilt gesamtdeutschen Befindlichkeiten gehört zweifellos all das, was unmittelbar oder mittelbar mit dem demographischen Wandel zu tun hat. Seit Anfang der 70er Jahre hat sich die Bevölkerungsstruktur in Deutschland kontinuierlich in einer Richtung verändert. Seit dem ist erstmalig die Sterberate regelmäßig höher als die Geburtenrate. Die Alterspyramide mutiert zu einer Art „Alterskelch“, der auf schmalen Füßen steht und sich nur langsam nach oben hin verdünnt. Die Anzahl der sehr alten und zunehmend pflegebedürftigen Menschen nimmt kontinuierlich zu. Die ständig wachsenden Kosten dafür müssen von einer immer kleiner werden Zahl von aktiven Arbeitnehmern erwirtschaftet werden. Der „Generationenvertrag“ droht zu erodieren. Was bisher sicher war, scheint ins Ungewisse zu kippen. Das belastet das Verhältnis der Generationen in der Gesellschaft und steigert Zukunftsängste besonders bei denen, die prekär oder im Niedriglohnsektor beschäftigt sind und nur eine geringe Altersrente zu erwarten haben.

Der demographische Wandel wirkt sich natürlich auch in anderer Weise auf die Lebensverhältnisse der Menschen aus. Die Familienstruktur verändert sich von einer eher horizontalen Struktur (viele Familienglieder in gleichen Generationen) zu einer mehr vertikalen (viele lebende Familienglieder in nacheinander liegenden Generationen). Die längere Lebensdauer führt zu einer erweiterten Jugendphase („Postadoleszenz“) und streckt die Altersphase („Viertes Alter“).28 Generell entstehen neue Herausforderungen an die Familie. Es ist eine gesellschaftliche und auch kirchliche Herausforderung, zur Lebensfähigkeit und Stabilität der Familien in ihren oft sehr unterschiedlichen Konstitutionen einen Beitrag zu leisten.29

Indirekt hängt mit dem demographischen Wandel auch das zusammen, was hier zuletzt als deutsche Befindlichkeit genannt werden soll: das Leben mit Ungleichheit. Das betrifft zunächst natürlich die am deutlichsten spürbaren ökonomischen Unterschiede. Im entwickelten Kapitalismus des 21. Jh. geht die Schere der Vermögen und Einkommen immer weiter auseinander. Das hat eine europäische Perspektive (wo es eine aufsteigende Skala von den ärmsten bis zu den reichen Nationen gibt), aber es hat auch eine innergesellschaftliche deutsche. Der Hinweis darauf, dass es vielen auf der Erde heute viel schlechter geht, stimmt hundertprozentig, hilft aber keinem, der hier am Limit lebt. „Arm sein in einem reichen Land hat eine andere Qualität als arm sein in einem armen Land.“30 Man muss keinen unrealistischen Gleichheitsidealen nachhängen, aber die faktischen Unterschiede überschreiten längst jedes Maß. Schlimmer noch sind die zunehmenden Erfahrungen von Desolidarisierung in unserer Gesellschaft. Armut führt oft in die Vereinzelung. Da wirkt dann die Lieblingsmaxime des Kapitalismus „Wer will, der kann auch!“ vergiftet und wie eine stumme Abschiebung.

Eine andere Sache ist es, mit den kulturellen Unterschieden zu leben. Die Globalisierung wird für uns spürbar: auf den Straßen, in den Restaurants, in den Bildungsinstitutionen, in den Krankenhäusern, auf den Sozialämtern und zunehmend auch in Kirchen und Gemeinden. Menschen unterschiedlicher ethnischer, kultureller und religiöser Identität treffen sich. „Begegnen“ sie einander auch“? Die Fremden leben anders, oft sehr anders. Die Interkulturalität stellt zunehmende Herausforderungen an das Zusammenleben der Menschen dar. Sie muss heute gegen Fremdenhass und offene wie sublime Ausländerfeindlichkeit verteidigt werden. Die zunächst Fremden als „Gäste“ und als Bereicherung unseres Lebens zu begrüßen und sie nicht als Konkurrenten an den Sozialtöpfen der Gesellschaft zu diffamieren – dazu bedarf es gerade in der ostdeutschen Gesellschaft noch vieler Lernprozesse. Eine „kulturell sensible Seelsorge“31, die für die „Fremden“ offen ist, aber auch in die Inlandgesellschaft ausstrahlt, kann hier hilfreiche Dienste des Verstehens und der Integration leisten.

1.4Auf dem Wege zu einer neuen Moral?

Nirgendwo scheinen sich die mit der Modernisierung unserer Gesellschaft einhergehenden Veränderungen so drastisch und für die Einzelnen spürbar auszuwirken wie im ethischen Alltagsverhalten. An vielen Orten – vor allem in konservativen, nicht selten auch in kirchlichen Kreisen – wird keine Gelegenheit ausgelassen, über den Werteverfall und die Normenerosion in unserer Gesellschaft Klage zu führen. Ulrich Beck bringt die kritischen Fragen auf den Punkt: Sind wir eine „Gesellschaft der Ichlinge“? Befinden wir uns auf dem Wege in eine rücksichtslose „Egogesellschaft“?32

Gewiss, es gibt Wahrnehmungen, die in solche Richtung weisen. Und das betrifft nicht nur die bürgerlichen Umgangsformen. Es sind allgemein rezipierte Einstellungsveränderungen wahrzunehmen, die tiefer reichen. Traditionelle Vorstellungen von dem, was moralisch richtig, anständig, wohlerzogen und vielleicht auch „christlich“ ist, haben an Plausibilität erheblich eingebüßt. Die persönliche Selbstverwirklichung und die Wahrnehmung der privaten Lebenschancen stellen für viele Menschen heute einen zentralen Steuerungswert dar. Viele Anzeichen deuten darauf hin, dass wir uns auf eine „narzisstische Gesellschaft“33 zu bewegen. Demgegenüber werden gemeinschaftsbezogene Einstellungswerte im Sozialverhalten oft unterbetont. Solidarität – in einer Zeit lokal wie global zunehmender Knappheiten dringender denn je notwendig – scheint immer seltener zu werden. Steht zu befürchten, dass wir „wohlinformiert über Fernstes und Entlegenstes, zu Analphabeten der sozialen Nächstenliebe werden …“?34

 

Solche pauschalen Vermutungen sind nicht unproblematisch. Anlass zu Klagen über allgemeinen Moralverfall gab es wohl zu jeder Zeit. Wichtiger scheint es zu erkennen, worin die Veränderungen der ethischen Grundeinstellung, der Normbildung und des Normgebrauchs heute begründet sind. Unter den Bedingungen der Individualisierung ist ja der Einzelne in viel höherem Maß verpflichtet, selbstverantwortlich zu entscheiden und zu handeln und sich für die Festigung und Erfüllung seiner Lebenschancen selbst einzusetzen. Die neuzeitlichen Freiheitserfahrungen, die sich im Individualisierungsprozess darstellen, können zugleich als eminente Herausforderungen für den einzelnen Menschen begriffen werden. Wenn Identität nicht mehr primär durch Zugehörigkeit (zu Familie, Kirche, Volk u.a.) erworben wird, sondern vom Individuum selbst erarbeitet werden muss, dann ist es nicht verwunderlich, dass auch im moralischen Verhalten die Akzente anders gesetzt werden. Dieses wird nun viel stärker „selbstbestimmungsabhän ig“, wie Hermann Lübbe35 sagt. Und das Individuum folgt dabei keineswegs immer den bisher allgemein akzeptierten traditionellen Normvorgaben. Der Einzelne sieht sich oft sehr unterschiedlichen Normansprüchen gegenüber, und er muss zwischen ihnen seine Wahl treffen. „Modernität schafft eine neue Situation, in der das Aussuchen und Auswählen zum Imperativ wird“, schreibt Peter Berger.36 Und er sieht das Individuum angesichts der normativen Unsicherheiten, denen es ausgesetzt ist, als einen „nervösen Prometheus“, weil es geradezu „zur Freiheit verdammt“37 ist.

Während Berger vor allem die Anstrengungen der Freiheit betont, die sich für das ethische Subjekt in der Moderne ergeben, werden von Ulrich Beck und seinen Mitstreitern eher deren Chancen wahrgenommen. Im Gegensatz zum allseits üblichen Lamento über den Werteverfall besonders bei jungen Menschen fragt Beck, ob nicht die Moderne als eine Herausforderung zur ethischen Synthese begriffen werden muss. Diese nennt er den „altruistischen Individualismus“, und das bedeutet: Die „Kinder der Freiheit praktizieren eine suchende, eine versuchende Moral, die verbindet, was sich auszuschließen scheint: Selbstverwirklichung und Dasein für andere, Selbstverwirklichung als Dasein für andere“38.

Ob das auch eine zutreffende Realitätsbeschreibung ist, darüber mag man verschiedener Meinung sein. Aber es könnte im Sinne einer positiven Projektion zu einer neuen Sichtweise verhelfen.39

Die Veränderungen im Blick auf das moralische Verhalten bewirken neue Einstellungen zu dem, was unbedingt für wert erachtet wird?40 Statt etwa Pünktlichkeit und Ordnung im traditionell erwünschten Sinne zu erbringen oder alles daran zu setzen, eine gesicherte und vor allem wohl dotierte berufliche Position zu erringen, finden es viele junge Leute heute wichtiger wirklich zu leben, Freundschaften zu pflegen, Zeit füreinander zu haben, Gespräche zu führen, Gefühle auszutauschen. Phantasiereiches und engagiertes Beziehungsverhalten wird für wertvoller erachtet als die Erfüllung herkömmlicher Normen partnerschaftlichen Verhaltens. Sich für die Gesundung und Gesunderhaltung der ökologischen Umwelt einzusetzen, bedeutet vielen mehr als ein politisches Engagement in Parteien und Vereinen?41

Viele Konflikte ergeben sich mit jungen Menschen, weil die neuen Paradigmen ethischen Verhaltens von der älteren Generation nicht respektiert oder gar nicht erst als solche erkannt werden. Es ist wichtig, moralisches Verhalten heute nicht am Erreichen statischer Normwerte aus der Vergangenheit zu beurteilen. Gerade für diejenigen, die im Geiste eines protestantischen Unbedingtheitsideals aufgewachsen sind, ist es schwer, moralisch werthaltige und sozial verantwortliche Verhaltensweisen auch bei denen anzuerkennen, die dabei zugleich ihre eigenen Vorteile mit zu berücksichtigen verstehen. In Wirklichkeit mögen solche Einstellungen ehrlicher sein als mancher Scheinaltruismus, der mitunter Verhaltensweisen einer moral correctness begleitet.

Ein besonders vieldiskutiertes Feld der „neuen Moral“ ist das Verhalten der gegenwärtigen jungen Generation in sexuellen Fragen und im Blick auf Ehe und Familie. Die Einstellungen zur Sexualität sind heute weithin offener und freier als in früheren Generationen; dazu haben nicht unwesentlich die modernen Methoden der Empfängnisverhütung beigetragen. Auch Homosexualität ist in unserer Gesellschaft als Anlage und Lebenspraxis inzwischen anerkannt. Hier klafft freilich in vielen Teilen der Gesellschaft noch ein Graben zwischen rechtlich-offizieller und persönlicher Akzeptanz. Das wird in Familien deutlich, wenn sich unerwartet ein Familienglied als lesbisch oder schwul outet, oder in Kirchgemeinden, wenn es darum geht ob ein gleichgeschlechtliches Paar ins Pfarrhaus ziehen darf. Unterschiedliche Auffassungen stehen sich besonders dann gegenüber, wenn es um die Ehe geht. Die hohe Quote der Ehescheidungen (mehr als die Hälfte der geschlossenen Ehen) und die Tatsache vielfältiger alternativen Partnerschaftsund Familienformen rühren faktisch am Primat der Eheform. Die Kirchen, aber nicht nur sie halten unverbrüchlich daran fest. Dazu haben sie gute biblische und ethische Gründe. Es darf freilich nicht dazu führen, dass Einzelne, Paare und Familien, die in freier Verantwortung andere Lebenslösungen gewählt haben, sich darin diskreditiert fühlen müssen. In dieser Hinsicht muss man es verstehen, wenn in der schon erwähnten Orientierungshilfe der EKD von 2014 die besondere Verantwortung für die Stärkung der Familien hervorgehoben wird, unabhängig vom Status der jeweiligen Paarbeziehung.

Um Missverständnisse auszuschließen, sei betont, dass die sich abzeichnenden Konturen einer „neuen Moral“ keineswegs alle ethischen Probleme, die sich heute für das Individuum stellen, lösen. Die hohe Anforderung, in der jeweiligen konkreten Situation nach angemessenen Handlungsmaßstäben zu suchen, bleibt erhalten. Sie wird heute eher verstärkt durch technologische Möglichkeiten, bei deren Realisierung das Menschenwohl und die Menschenwürde auf dem Spiel stehen. Der ethische Diskurs gehört zu den Notwendigkeiten des Alltags der Individuen. Hier zeichnen sich neue Aufgaben und Dimensionen für die Seelsorge ab.

1.5Kirchen im Wandel

Die religiösen Institutionen, insbesondere die großen christlichen Kirchen, haben zweifellos erheblichen Anteil an den erwähnten gesellschaftlichen Umstrukturierungs- und Veränderungsprozessen. Sie bleiben nicht unberührt davon, wie diese zu Verunsicherungen und teilweise auch Veroberflächlichungen des individuellen Lebens beitragen. Es ist nicht einfach, die kirchliche Situation in der deutschen Gesellschaft nach der politischen Wende von 1989/90 kurz und treffend zu beschreiben. Die religiöse Landschaft scheint zerklüftet. Zweifellos hat der Verunsicherungsprozess die Kirchen selbst längst erreicht. Zunächst zeigt sich schon quantitativ, dass die christlichen Kirchen an Sichtbarkeit, an Einfluss und Bedeutung in der Gesellschaft verloren haben.42 Dass dabei die unterschiedlichen geschichtlichen Voraussetzungen in Ost- und Westdeutschland von außerordentlicher Bedeutung sind, ist ohne weiteres verständlich. Während in dem einen Teil ein staatlich verordneter Traditionsabbruch die bestehenden Verbindungen zu den Kirchen drastisch gekappt hat,43 haben wir es im anderen Teil wohl vorrangig mit den Auswirkungen der religiös-kulturellen Konkurrenzsituation zu tun, in deren Folge sich die institutionellen und privaten Kirchenbindungen sehr gelockert haben.44 Inzwischen haben auch im Osten zusätzlich die Modernisierungsfolgen an Gewicht gewonnen.

Gravierender als der zahlenmäßige Rückgang von Kirchenmitgliederzahlen, den man auch noch ganz unterschiedlich interpretieren und prognostizieren kann, ist der qualitative Ansehens- und Bedeutungsverlust, den die Kirchen als Institutionen mit ihren mehr und mit ihren weniger spezifischen Angeboten erleiden. Die Kirchen haben heute an Glaubwürdigkeit, Anziehungskraft und Prestige in unerhörtem Maße eingebüßt45, und die kirchlichen Mitarbeiter spüren das oft ganz unmittelbar. Viele Menschen, darunter solche, die nach wie vor formelle Kirchenmitglieder sind, leben faktisch ohne Kirchenbindung und empfinden dabei vermutlich keinen Mangel. Sie sind nicht „kirchendistanziert“, sondern „indifferent“.46

Für die damit angedeutete Entwicklung lassen sich verschiedene Ursachen benennen:

•Es gibt in unserer Gesellschaft eine zunehmende Skepsis gegenüber den bestehenden Großinstitutionen. Das bekommen Parteien und Verbände ebenso zu spüren wie die Kirchen. Das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit von Institutionen sinkt mehr und mehr. Faktisch sind diese immer weniger in der Lage, Menschen auf überzeugende Weise Orientierung zu bieten. Je intimer und persönlicher die Fragen sind, umso weniger wird Institutionen zugetraut, brauchbare und lebbare Antworten geben zu können. Diese Einstellung muss nicht primär als Rekurs auf die konkrete Arbeit in dem jeweiligen Verband verstanden werden. Die Abwendung von den Kirchen, Parteien und Verbänden, die eine bestimmte inhaltliche Botschaft vermitteln wollen, muss vielmehr im Zusammenhang mit der „starken Umbruchphase“ gesehen werden, in der sich die „von der Aufklärung geprägte Kultur der Neuzeit“ gegenwärtig befindet.47 Man spricht von einem „Modernisierungsschub“ bzw. von einem „Individualisierungsprozess“. Alle Verbände und Institutionen, die durch die neuzeitliche Kultur geprägt waren und sind, haben aus dieser Verflechtung heraus Anteil an den gegenwärtigen Umbrüchen und erleiden demzufolge größte Akzeptanzschwierigkeiten bei der Bevölkerungsmehrheit. Mit der generellen Ablehnung der religiösen Institutionen gerät auch das in Gefahr, wofür diese Institutionen inhaltlich stehen?48

•Als Folge der kulturellen Pluralisierung gerät das Angebot der Kirchen zunehmend in Konkurrenz zu anderen Religions- und Sinnangeboten. Das Christentum hat seine Monopolstellung auf dem Markt der Daseinshilfe- und Lebenskunstphilosophien längst verloren.49 Religiöse und quasireligiöse, esoterische, philosophische, therapeutische, alternativ-medizinische, ökologische und andere Lebenskonzepte konkurrieren mit denen der traditionellen Kirchen. In dieser Wettbewerbssituation steht auch die Seelsorgearbeit der Kirchen. Die Menschen in unserer Gesellschaft scheinen auf die Angebote der Kirchen inklusive ihrer Verkündigung nicht mehr angewiesen zu sein. Was man früher nur beim Pfarrer bekam, kann nun in vielfältigen Verpackungs- und Darreichungsformen und nicht selten zu kleineren Preisen auch an ganz anderer Stelle erworben werden. Und es ist für die Kirchen schwer, zu marktgerechten Angebotspräsentationen zu kommen, ohne dabei die eigene Substanz zu riskieren.

•Ein anderer wichtiger Faktor hängt ebenfalls mit der Marktsituation zusammen. Für viele Menschen gilt heute auch in den Fragen der Einstellung zu Religion und Glauben als ein wichtiges Kriterium, was das für sie ganz persönlich bedeutet. Nur wegen der von einer Kirche vertretenen generellen positiven Werte (wie z.B. Liebe, Vergebung Gerechtigkeit) allein wird noch keine Bindung zu ihr eingegangen und gelebt. Vielmehr muss erkennbar werden: Was hat das eigentlich für mich für einen Wert und was hat das mit mir persönlich zu tun? Im Jargon gesprochen: „Was bringt mir das?“ Die unmittelbare Lebensrelevanz des Glaubens und einer Kirchenbindung ist vielen nicht mehr plausibel. Und es wird zunehmend schwieriger, dies plausibel zu machen.50 In der Zukunft könnte – gerade unter diesem Blickwinkel – der seelsorglichen Arbeit, die ja in besonderer Weise nach dem Einzelnen persönlich fragt, eine auch ekklesiologisch erhöhte Bedeutung zuwachsen.

 

•Schließlich muss man davon ausgehen, dass wir es bei dem kirchlichen Rezessionsprozess auch mit konkreten sozialen Umfeldabhängigkeiten zu tun haben. Wo das unmittelbare Bezugsfeld (Familie, Freunde, Berufskollegen, Mitschüler) nicht mehr kirchlich bzw. gläubig ist, legt sich auch für den Einzelnen die Absetzbewegung eher nahe. So ist wohl Detlef Pollack zuzustimmen, wenn er vor allem auf dem Hintergrund der ostdeutschen Erfahrung formuliert: „Das allgemeine religiöse Klima, das in einer Gesellschaft herrscht, übt einen starken Einfluss auf die Tradierungsfähigkeit des Christentums aus.“51 Das gilt natürlich besonders für die volkskirchlich begründete Mitgliedschaft in einer Kirche. Wo wie in der Mehrzahl der ostdeutschen Familien eine positive Beziehung zu den Formen des christlichen Glaubens und Lebens nicht mehr gegeben ist, wird die Entscheidung für Beibehaltung oder gar Neubegründung sehr viel unwahrscheinlicher sein als unter entgegengesetzten Bedingungen.52

Die unzweifelhaft zu beobachtenden Prozesse einer Entkirchlichung, die inzwischen auch zu weitreichenden Strukturentscheidungen der Kirchen führten, dürfen freilich nicht mit Resignation zur Kenntnis genommen werden. Die äußerliche Abwendung von der Kirche und die deutlichen Vorbehalte gegenüber den institutionellen Gestalten des Christentums sagen noch nicht alles?53 Es muss zunächst durchaus noch einmal gefragt werden, was die Menschen von der Kirche und den Gemeinden erwarten, und es ist darüber nachzudenken, welche konkreten Anstrengungen die Kirchen unternehmen müssen, um die nach ihrem eigenen Selbstverständnis für sie grundlegende Botschaft an die Menschen weiter wirkungsvoll zu vermitteln.54 Beide Fragen sind unbedingt auch in ihrer Verbindung zu dem uns vorrangig leitenden Interesse nach der Zukunft der Seelsorgearbeit unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft zu sehen. Ihre Beantwortung ist von daher ein Aspekt der hier vorgelegten Seelsorgelehre insgesamt.

Aus den jüngsten religionssoziologischen Untersuchungen wird deutlich, dass viele Menschen heute in der Kirche nicht mehr die umfassende Beheimatung erwarten, die unsere pastoralen Idealvorstellungen möglicherweise noch prägen. Totalidentifikationen mit der Kirche oder mit einer konkreten Gemeinde bilden eher die Ausnahme. „Identifikation erfolgt mehr und mehr über Betroffenheit, Interesse und Gelegenheit.“55 Das führt zu erwartungs- und interesseabhängigen Formen des Kirchenkontaktes und zu ganz unterschiedlichen Profilen von Kirchenbindung. An leitenden Erwartungen wären ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu nennen: lebenszyklische Begleitung (Amtshandlungen), politischsoziales Engagement (Gruppenaktivitäten), Kultur- und Bildungsinteressen (Kirchenmusik, christliche Kunst, kirchliche Bildungsarbeit), Frömmigkeitspraxis (spirituelle Gruppen, Gottesdienst), karitatives Engagement (Diakonie), Lebens- und Krisenhilfe (Seelsorge, Beratung). Alle diese unterschiedlichen Erwartungsprofile, die in sich noch einmal gruppen- oder generationenspezifisch zu differenzieren wären, haben wohl dies gemeinsam, dass sie letztlich in einem Zusammenhang mit mehr oder weniger ausdrücklichem Sinngebungsbedarf gesehen werden müssen. Wer, wenn nicht die kirchlichen oder religiösen Institutionen sind dafür zuständig, in den Krisen- und Kontingenzerfahrungen des Lebens auf die Sinn verleihenden Zusammenhänge hinweisen und hinführen zu können? Es ist bis zum Erweis des Gegenteils davon auszugehen, dass es in dieser Hinsicht auch bei denen einen Rest an Erwartungen gibt, die die institutionellen Brücken zur Kirche hinter sich schon lange abgebrochen haben.56 In der Seelsorge spielt darum die formelle Kirchenzugehörigkeit oft nur eine untergeordnete Rolle.

Im Ganzen stellt sich die Frage, wie die Kirchen in der Lage sein werden, den unterschiedlichen Erwartungsprofilen angemessen Rechnung zu tragen. Das kann, soviel muss theologisch klar sein, keineswegs so verlaufen, dass die Kirchen lediglich in einem reinen Tauschverfahren für die Erfüllung unterschiedlicher Erwartungen und Bedürfnisse zur Verfügung stehen müssen. Die Arbeit der Kirchen wird letztlich entscheidend dadurch geprägt, dass sie einem bestimmten Auftrag folgt, der ihrem Dasein vorausgeht. Wenn ihr aufgetragen ist, die Botschaft des Glaubens „in alle Welt“ zu tragen (Mt 28,19), schließt das die Aufmerksamkeit für das wirkliche Bedürfen der Menschen ebenso ein wie eine prinzipielle Freiheit gegenüber jeder oberflächlichen „Kundenorientierung“.

Leben im Ungewissen – das ist eine Leit-Erfahrung in der modernen Gesellschaft. Seelsorgerinnen und Seelsorger, die den Kontext ihrer Arbeit wirklich wahrnehmen, werden deshalb ihren besonderen Auftrag darin sehen, Menschen wieder zu begründeten Gewissheiten zu verhelfen. Das aber wird nicht mit restaurativen Beschwörungsformeln zu erreichen sein, sondern nur durch ein sensibles Eingehen auf die kontextuell und biographisch bedingten Ungewissheiten, wie sie sich in den konkreten Problemlagen nach Seelsorge fragender und suchender Menschen niederschlagen.