Seelsorgelehre

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3.2.3Seelsorge als biblische Therapie (evangelikale Seelsorge)

Ein Überblick über Strömungen der Seelsorgelehre in der Gegenwart kann nicht auf eine Darstellung der sich aus dem Pietismus herleitenden Seelsorgeauffassungen verzichten. Wir sprechen hier etwas unscharf von der „evangelikalen“ Seelsorge – wohl wissend, dass nicht alle hier erwähnte Gruppierungen sich selbst als „evangelikal“ bezeichnen würden. Sachlich richtiger wäre es vielleicht, von pietistisch geprägter Seelsorge zu sprechen, aber der Begriff Pietismus assoziiert doch in erster Linie eine historische Bewegung. So mag der unscharfe Begriff hingenommen werden.

Gerade in den so genannten „frommen“ Kreisen ist das Bewusstsein für die Notwendigkeit der Seelsorge oft sehr ausgeprägt. Das „Sich-Aussprechen“, das „Zur-Seelsorge-Gehen“ oder „einen Seelsorger haben“ gehört beim entschiedenen Christsein dazu. Dabei ist sicher wieder ganz Unterschiedliches gemeint. Bei großen Evangelisationen beispielsweise haben Seelsorgeangebote einerseits die Funktion, das in der Verkündigung Gehörte noch einmal persönlich zu vertiefen und andererseits auch die Gelegenheit zu einer Generalaussprache zu bieten. Seelsorge kann und soll zur „Lebensübergabe“ vorbereiten. Hier geht es also nicht primär um Seelsorge im Sinne einer methodischen Konfliktbearbeitung, sondern eher um Seelsorge als Funktion des Bekehrungsprozesses. Das ist keinesfalls die einzige Art von Seelsorgeverständnis im modernen „Pietismus“. So kann man hier durchaus auch Konzepten begegnen, die sich über weite Strecken auf einem ähnlichen Weg wie in der „beratenden Seelsorge“ bewegen. Reinhold Ruthe nennt seinen Ansatz sogar ohne Berührungsängste „therapeutische Seelsorge“48. Seelsorge kann nie nur ein spiritueller oder kerygmatischer Prozess sein, weil der Mensch Leib, Geist und Seele ist. Das bedeutete für Ruthe: Um das gottgewollte Ziel seelsorglicher Arbeit, um echte Heilserfahrung zu erlangen, bedarf es psychologischer Hilfe: „Der Seelsorger braucht (psychologische) Kenntnisse vom Menschen, wenn er die Botschaft des Evangeliums vollmächtig ausrichten will.“49 Das Besondere dieser Seelsorge liegt in den Zielsetzungen50, weniger in den Wegen dorthin. Für Ruthe geht es in der Seelsorge primär um das „geistliche Leben“ und um den „Frieden mit Gott“51. Die Lebenshilfe, die in diesem Konzept reichlich und kompetent erstrebt wird, bleibt der Glaubenshilfe funktional zugeordnet. Es ist schwer einzuschätzen, wie typisch die Seelsorgelehre Ruthes für pietistisch geprägte Gruppierungen ist.52 Das ganze Feld seelsorglicher Praxis in evangelikalen Gemeinschaften, bei evangelistischen Einsätzen oder im Zusammenhang charismatischer Erneuerungsbewegungen53 kann hier unmöglich abgeschritten werden. Erwähnt seien drei Konzepte, die jeweils eine typische Position markieren und in der poimenischen Diskussion eine Rolle spielen.54

•Die nouthetische Seelsorge. Dieses Konzept einer „biblischen Lebensberatung“ wird vor allem von Jay E. Adams vertreten.55 Es zeichnet sich durch ein hohes Maß an Klarheit, Eindeutigkeit und (scheinbarer?) Praktikabilität aus. Das Grundaxiom dieser Seelsorgelehre lautet: „Für jedes Problem gibt es eine biblische Lösung.“56 Seelsorge besteht für Adams in der Anwendung biblischer „Grundsätze“. Im Besonderen ist Seelsorge mit dem neutestamentlichen Begriff der „Nouthesia“ (Eph 6,4; Kol 3,16; 2 Tim 3,16) zu charakterisieren. Es sind hier also die Funktionen des Ermahnens und Zurechtweisens besonders hervorzuheben. Und diese sind nach Adams deshalb nötig, weil die Sünde eine so beherrschende Rolle im Leben der Menschen spielt und die Ursache vieler psychischer und psychosomatischer Krankheiten darstellt. Adams spricht von „hamartiogene(n) Krankheiten“57. Seelsorge ziele darauf, Menschen dazu zu verhelfen, ihre Sünden zu bekennen und aufzugeben. Es sind relativ einfache Problemlösungsstrategien, auf die nouthetische Seelsorge hinausläuft.58 Die Methode legt ein ziemlich direktives Vorgehen des Seelsorgers nahe, sodass Adams schon selbst ins Fragen kommt, ob eine „Seelsorge, die klaren Rat und eindeutige Weisung gibt“59, nicht zu Abhängigkeit führen könnte. Psychotherapie lehnt Adams entschieden ab. Sein bekannter Leitsatz lautet: „Qualifizierte Seelsorger mit einer hinreichenden biblischen Ausbildung sind kompetente Berater – kompetenter als Psychiater oder sonst irgendjemand.“60 Dabei ist für Adams freilich auch deutlich: Nicht die Seelsorger bringen ihre Seelsorge zum Erfolg, sondern dies ist das „Werk des Heiligen Geistes“61.

•Biblisch-therapeutische Seelsorge (BTS). Diese Seelsorgekonzeption62 besitzt seit 2001 einen neuen institutionellen Rahmen durch die Gründung der BTS-Fachgesellschaft für Psychologie und Seelsorge gGmbH. Ihr Initiator und Schulhaupt Michael Dieterich ist Pädagoge und Psychologe und kommt selbst aus dem schwäbischen Pietismus. Der Anlass für die Gründung dieses besonderen Zweiges evangelikaler Seelsorge war die Beobachtung, dass zunehmend Gemeindeglieder mit pietistischem Hintergrund unter manifesten psychischen Problemen leiden. Oft haben sie Scheu, sich einem Therapeuten anzuvertrauen, der für ihre religiöse Bindung womöglich wenig Verständnis aufbringt. Es ging Dieterich also darum, eine solide Form von Therapie zu finden, die zugleich auf einem biblischen Fundament ruhte. BTS will beides bieten. Sie versteht sich als „biblisch begründete Seelsorge, die Anleihen bei Psychologie und Psychotherapie macht, soweit diese in das biblische Menschenbild und Wirklichkeitsverständnis integrierbar sind.“63 Charakteristisch für die BTS ist ihre Methodenvielfalt. Man geht davon aus, dass es sechs Elemente einer biblischen Seelsorge gebe: (1) Trösten, (2) Ermahnen, (3) Beichte, (4) Einleitung eines Lern- und Umdenkungsprozesses, (5) Einleitung eines Prozesses der Selbsterkenntnis, (6) Analyse der Vergangenheit. Für jede dieser Aufgaben werden spezifische seelsorgliche Herangehensweisen vorgeschlagen, vor allem für die Funktionen (4) bis (6) werden verhaltenstherapeutische, gesprächstherapeutische und tiefenpsychologische Therapieansätze herangezogen. Der biblisch-therapeutische Seelsorger muss über hinreichende Erfahrungen in diesen therapeutischen Methoden verfügen. Deshalb schreibt das Ausbildungsprogramm für die BTS auch vor, „alle diese methodischen Schritte kennen zu lernen, um im seelsorglichen Prozess flexibel zu bleiben.“64 Gerade dieser letzte Punkt hat der BTS erhebliche Kritik eingetragen und zu der Frage Anlass gegeben, ob eine Kurzausbildung in unterschiedlichen Therapieverfahren ausreichende Kompetenz vermittle.65 Bemerkenswert ist jedoch, dass hier ein in der pietistischen Tradition beheimateter Seelsorgeansatz nicht zu einer Verteufelung der Psychotherapie führt (wie bei Adams), sondern zu ihrer partiellen Inanspruchnahme.

•Christliche Psychologie (IGNIS). Hier geht es nun um einen aus der charismatischen Bewegung heraus und weithin von freikirchlichen Kräften getragenen Ansatz für Seelsorge und Therapie. Im Jahre 1986 wurde IGNIS, die Deutsche Gesellschaft für Christliche Psychologie e.V., gegründet66, wobei der Name an die das Wirken des Heiligen Geistes symbolisierenden Feuerzungen aus der Pfingstgeschichte anknüpft. Neben dem Verein und der Akademie für Christliche Psychologie wird auch eine Fachklinik für christliche Therapie unterhalten (D ÍGNIS). Bei IGNIS geht man von der Überzeugung aus, dass die säkulare Psychotherapie für gläubige Christen keine geeignete Hilfe zur Bewältigung seelischer Probleme darstelle. Vielmehr sei es notwendig, eine eigene „christliche“ Psychologie zu entwickeln, in die der Transzendenzbezug des Glaubens integriert ist und die sich fest auf biblische Fundamente stütze. Die säkularen Therapieformen müssen „christianisiert“ werden und auch für den Therapeuten ist entscheidend, ob er eine lebendige Gottesbeziehung hat. Um die Christliche Psychologie zu erlernen, bedarf es eigener Ausbildungsgänge. Angeboten wird ein vierjähriges Studium an der IGNIS-Akademie für Christliche Psychologie in Kitzingen. Es gibt außerdem berufsbegleitende Angebote zum „Christlichen Berater“ bzw. zum „Christlichen Therapeuten“.

Wenn wir nun diese verschiedene Konzepte innerhalb der evangelikalen Seelsorge miteinander vergleichen, fallen zunächst die Unterschiede ins Auge. Sie betreffen vor allem den völlig gegensätzlichen Umgang mit der Psychologie bzw. Psychotherapie.

Adams lehnt die Psychologie einschließlich aller Therapieansätze rigoros ab, weil sie weithin auf „unbiblischen Voraussetzungen“67 beruhen und unfähig seien, den Kern des Leidens, also das „Grundproblem von Menschen, die in die Seelsorge kommen zu begreifen, nämlich die Sünde“68. Dass Adams selbst keineswegs nur biblischen Maximen, sondern faktisch und unreflektiert verhaltenstherapeutischen Methodenmustern folgt, wird zu Recht von seinen Kritikern immer wieder hervorgehoben.69 Die Biblisch-Therapeutische Seelsorge beurteilt Psychologie und Psychotherapie ganz anders. Zwar ist auch hier klar, dass nicht jede Methode aus der Therapie uneingeschränkt übernommen werden kann. Aber solche therapeutische Methoden können ohne Not übernommen werden, „deren Wirkung auf Schöpfungsgesetzen beruhen“, die also die schöpfungsmäßigen Grundlagen menschlichen Verhaltens widerspiegeln. Der Gebrauch psychotherapeutischer Methoden gehöre in den Bereich des Ersten Artikels70, genauso wie der Gebrauch der Gesetze der Physik. Der Umgang mit der Psychotherapie hat hier freilich sehr stark instrumentellen Charakter, was bei einem praktizierten Methodenpluralismus dieser Art auch kaum anders sein kann. Das kann zu fahrlässigen Methodenanwendungen führen, bei der die ursprünglichen therapeutischen Intentionen verfehlt oder auch verfälscht werden können. Die Christliche Psychologie hält nun auch einen solchen instrumentellen Methodengebrauch nicht für möglich und schafft eine eigene biblische Psychologie. Einen Ansatz für das Gespräch mit der Pastoralpsychologie gibt es von daher so wenig wie bei Adams, während man sich in Zukunft durchaus eine etwas bessere Verständigung zwischen der biblischtherapeutischen und der pastoral-psychologischen Seelsorge vorstellen kann.

 

Fragen wir nach den Gemeinsamkeiten der evangelikalen Seelsorge, so lassen sich hier – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – drei Aspekte nennen:

1.Die Konzepte verstehen sich in ihrem Ursprung als kritische Alternativen zu einer wie auch immer pastoralpsychologisch orientierten Seelsorge. Diese gilt als „liberal und säkularistisch“71, wobei es freilich ein breites Spektrum zwischen deutlicher Dissonanz (Adams) und vorsichtiger Assonanz (BTS) gibt.

2.Für alle Formen evangelikaler Seelsorge ist die biblische Fundierung der entscheidende Maßstab. Seelsorge wird hier stets und primär verstanden als biblische Praxis. Grundlegend ist ein mehr oder weniger ausgeprägter Fundamentalismus. Die Reserve gegenüber der historisch-kritischen Auslegung der Heiligen Schrift und einer wissenschaftlich fundierten Hermeneutik findet auch in der Ausprägung des Seelsorgeverständnisses ihren Niederschlag. Man geht davon aus, dass aus der Bibel in einem ziemlich direkten Sinne die inhaltliche und methodische Grundlegung heutigen seelsorglichen Handelns zu entnehmen ist.

3.Charakteristisch ist für die evangelikale Seelsorge auch das starke Interesse am Zusammenhang von Heil und Heilung. Zwar wird dieser Zusammenhang heute auch außerhalb evangelikaler Gruppierungen erkannt, hier aber erhält er signifikante Bedeutung. Adams sieht die Aufgabe der Seelsorge auch in der Heilung von neurotischen Erkrankungen, und sowohl die Biblisch-Therapeutische Seelsorge wie auch die Christliche Psychologie unterhalten eigene Kliniken für psychisch und psychosomatisch leidende Menschen. Vorsichtig, aber doch eindeutig wird für die BTS formuliert, dass die christliche Gemeinde wohl damit rechnen dürfe, „dass Heil Heilung in dieser oder jener Form bewirke“72.

Kritik an der evangelikalen Seelsorgeauffassung wird dort einzusetzen haben, wo sich auch sonst die Anfragen an eine Theologie aus diesem Traditionshintergrund ergeben: Da wäre einmal der Mangel an hermeneutischem Problembewusstsein zu nennen. Es besteht immer wieder die Neigung, Aussagen der Bibel in einem ganz unmittelbaren Sinne auf Leidens- und Lebenssituationen von heute zu beziehen. Dabei passiert es schnell, dass die eigene theologische Position in die biblischen Texte hineinprojiziert wird.

Ein anderes Problem bildet die immer wieder zu beobachtende Tendenz, in der Seelsorge am einzelnen Menschen eine bestimmte Vorstellung vom christlichen Verhalten umsetzen zu wollen. Dabei kann es leicht zu Verletzungen der Souveränität und Integrität des Rat suchenden Menschen und zu folgenschweren poimenischen Fehleinschätzungen kommen.73 Seelsorge kann dann leicht zu einer problematischen Form von Seelenführung werden.

Literatur zu 3.1 und 3.2

Für eine gründliche Beschäftigung mit den Hauptströmungen gegenwärtiger Seelsorgelehre kann auf die älteren Darstellungen von Richard Riess (1973, 153–244) und Dietrich Stollberg (1969) nicht verzichtet werden. Wichtige Quellentexte finden sich in den Readern von Friedrich Wintzer und Merle/Weyel (2009). Für die Darstellung der evangelikalen und charismatischen Seelsorgeansätze sei auf Rolf Sons (1995) verwiesen. Über die gängigen Seelsorgekonzepte kann man sich mit jeweils charakteristischen Akzentuierungen in den Lehrbüchern der Seelsorge informieren. Klaus Winkler macht mit den drei wichtigsten Seelsorgekonzepten der Gegenwart dadurch bekannt, dass er jeweils einen repräsentativen Vertreter darstellt (Seelsorge 22000, 23–76). Dieser Text ist als Einstieg in die intensivere Beschäftigung mit der Thematik gut geeignet.

Adams, Jay E.: Befreiende Seelsorge, Gießen 51988

Adams, Jay E.: Handbuch für Seelsorge, Gießen 31988

Benner, David G.: Kraftvolle Seelsorge, Gießen 2014

Bobert-Stützel, Sabine: Dietrich Bonhoeffers Pastoraltheologie, Gütersloh 1995

Bohren, Rudolf: Prophetie und Seelsorge. Eduard Thurneysen, Neukirchen 1982

Dieterich, Hilde L.: Handbuch für Seelsorgegruppen, Freudenstadt 2012

Dieterich, Michael: Handbuch Psychologie und Seelsorge, Wuppertal 1989

– Psychologie und Seelsorge. PC-Bibliothek für die Praxis, CD-ROM Wuppertal 2002

Grund, Friedhelm: Menschenfreundliche Seelsorge, Gießen 2006

Hunsinger, Deborah van Deusen: Theology and Pastoral Counseling. A New Interdisciplinary Approach, Grand Rapids, Michigan 1995

Hunter, Rodney J.: Art. Clinical Pastoral Education/Training, in: RGG 2, 1999, 399–404

Jochheim, Martin: Carl R. Rogers und die Seelsorge. in: ThPr 28, 1993, 221–237

– Die Anfänge der Seelsorgebewegung in Deutschland. Ein Beitrag zur neueren Geschichte der Pastoralpsychologie, in: ZThK 90, 1993, 462–493

– Seelsorge und Psychotherapie. Historisch-systematische Studien zur Lehre von der Seelsorge bei Oskar Pfister, Eduard Thurneysen und Walter Uhsadel, Bochum 1998

Karle, Isolde: Poimenik, in: Grethlein, Christian/Schwier, Helmut (Hg.): Praktische Theologie. Eine Theologie und Problemgeschichte, Leipzig 2000, 575–606.

Kretzschmar, Gottfried: Die Bedeutung Alfred Dedo Müllers für die Praktische Theologie, in: Reformation und Praktische Theologie, Festschrift für Werner Jetter zum 70. Geburtstag, Göttingen 1983, 131–144

Nase, Eckart: Oskar Pfisters analytische Seelsorge, Berlin 1993

Nauer, Doris: Seelsorgekonzepte im Widerstreit. Ein Kompendium, Stuttgart 2001

Offele, Wolfgang: Das Verständnis der Seelsorge in der pastoraltheologischen Literatur der Gegenwart, Mainz 1966

Riess, Richard (Hg.): Perspektiven der Pastoralpsychologie, Göttingen 1974

– Seelsorge, Göttingen 1973

Scharfenberg, Joachim: Sigmund Freud und seine Religionskritik als Herausforderung an den christlichen Glauben, Göttingen 1968. 41976

Seelsorgebewegung. Rückblick – Standortbestimmung – Aufgaben. Themenheft WzM 45, 1993, Heft 8, 434–505

Sons, Rolf: Seelsorge zwischen Bibel und Psychotherapie. Die Entwicklung der evangelischen Seelsorge in der Gegenwart. Stuttgart 1995

Stollberg, Dietrich: Die derzeitige Debatte um die Seelsorge. Eine evangelische Perspektive, in: Anzeiger für die Seelsorge, 1999, 374–380

– Therapeutische Seelsorge. Die amerikanische Seelsorgebewegung. Darstellung und Kritik, München 1969

Thurneysen, Eduard: Rechtfertigung und Seelsorge, in: Zwischen den Zeiten 6, 1928, 197–218; wiederabgedruckt in: Wintzer. Friedrich (Hg.): Seelsorge, München 1978, 78–94

Voigt, Kerstin: Otto Haendler – Leben und Werk. Frankfurt a.M. 1993

Zimmermann-Wolf, Christoph: Verständigung über Seelsorge. Dietrich Bonhoeffers lebensbezogene Theologie als Gesprächsgrundlage für ‚klinische Seelsorge‘ (Josef Mayer-Scheu) und ‚Biblische Seelsorge‘ (Helmut Tacke), in: BThZ 11, 1994, 83–90

3.3Pastoralpsychologie als Grunddimension in der gegenwärtigen Seelsorge

Die dargestellten Hauptströmungen der Seelsorgelehre, die im Wesentlichen die praktisch-theologische Diskussion im 20. Jahrhundert bestimmt haben, sind nach wie vor wirksam im poimenischen Bewusstsein, stellen aber nicht mehr ein so großes Konfliktpotential dar wie ehedem. „Die Zeiten des großen Streits sind vorüber!“ konstatiert Michael Herbst74. Vielleicht kann man auch sagen, dass die Auseinandersetzung um Grundpositionen der Seelsorgeauffassung sich eher in den konkreten Debatten – etwa um Ehe, Familie und Homosexualität – spiegelt. Die positionellen Grenzen sind da häufig fließend. Wir können wohl davon ausgehen, dass die Seelsorgebewegung die kirchliche Landschaft bei uns beeinflusst hat, direkt oder oft auch nur indirekt. Ein wichtiger Faktor ist dabei die substantielle Einbeziehung von humanwissenschaftlichen, vor allem psychologischen Denkansätzen und Methoden für die Seelsorgelehre. Ausdruck dieser Sichtweise ist das, was wir als „Pastoralpsychologie“ bezeichnen. Bis heute entzündet sich an diesem Begriff immer noch konservative theologische Kritik. Pastoralpsychologie ist für manche ein Synonym theologischer Selbstsäkularisierung und der Auslieferung von Seelsorge an psychologische Methoden. In Wirklichkeit ist Pastoralpsychologie keineswegs so eng positionell geprägt. Wir wollen versuchen, verständlich zu machen, was eigentlich Pastoralpsychologie ist und wie positionsübergreifend pastoralpsychologisch gearbeitet werden kann.

3.3.1Pastoralpsychologie – Verständigungen über den Begriff

Ein offener Begriff

Der Begriff Pastoralpsychologie ist nicht eindeutig definiert und nicht geschützt. In der Literatur im allgemeinen Sprachgebrauch variieren die Bedeutungen und vor allem die Konnotationen, die sich mit ihm verbinden.

„Pastoralpsychologie“ wird inzwischen meist in einem sehr weiten Sinn verstanden als Zweig Praktischer Theologie, der „christlich-kirchliche Praxis psychologisch und theologisch untersucht und fördert“75. Neben der Seelsorge sind dabei auch andere Praxisbereiche der pastoralen Arbeit im Blick.76 So sieht es prinzipiell auch Michael Klessmann. In seinem einschlägigen Standardwerk erläutert er sein Verständnis von Pastoralpsychologie durch eine Doppelthese:

Einerseits: „Pastoralpsychologie als Grunddimension der Praktischen Theologie untersucht Kommunikationsprozesse im Bereich von Religion und Kirche“: andererseits. „Pastoralpsychologie fragt danach….welche Bedingungen diese Kommunikation braucht, um lebensförderlich und heilsam zu sein.“77

Spezifischer wird Pastoralpsychologie im Bereich tiefenpsychologisch ausgerichteter Poimenik (s. unten 3.4.1) verstanden. Hier werden primär die für das Wahrnehmen und Verstehen individueller Entwicklungswege grundlegenden Einsichten der Psychoanalyse für die Seelsorge fruchtbar gemacht und zu den symbolischen Repräsentationen des christlichen Glaubens in Beziehung gesetzt. In diesem pastoralpsychologischen Konzept ist das tiefenpsychologische Paradigma im Prinzip nicht austauschbar.

Es ist in der gegenwärtigen Diskussionslage wichtig sich zu vergewissern, wie der Begriff der Pastoralpsychologie in unterschiedlichen Kontexten verwendet wird.

Pastoralpsychologie als Brückendisziplin

In Anknüpfung an Klessmann ist festzuhalten, dass es in der Pastoralpsychologie um beides geht: um präzise Wahrnehmung und um angemessene Praxis. Es hat darum etwas für sich, wenn die katholische Theologin Viera Pirker in ihrer groß angelegten Untersuchung zur Wissenschaftsdisziplin „Pastoralpsychologie“ diese als „handlungsbezogene Seelsorgewissenschaft“78 kennzeichnet, wobei der katholischen Sprachtradition folgend damit nicht nur die Seelsorge im engeren Sinne gemeint ist.

Praktisch ist Pastoralpsychologe eine Brückendisziplin. Sie hat ihren Ort

– „zwischen Theologie und Psychologie“ sowie

– zugleich „zwischen Theorie und Praxis“79.

Beides zusammen macht das Besondere und den Reiz dieser Disziplin aus und erklärt zugleich die sich mitunter ergebenden Schwierigkeiten begrifflich scharfer Definition.80

Pastoralpsychologie „zwischen Psychologie und Theologie“ bedeutet:

Pastoralpsychologie ist Psychologie. In ihren psychologischen Aussagen muss sie den fachlichen Kriterien humanwissenschaftlicher Zugangsweisen gerecht werden. Sie ist integrativ, also nicht nur am tiefenpsychologischen Paradigma ausgerichtet, und schließt auch sozialwissenschaftliche Zugänge zur Lebenswirklichkeit der Menschen ein.

Und: Pastoralpsychologie ist Psychologie für kirchliche Praxis. Sie hat als solche dem theologischen Anspruch Rechnung zu tragen, Interpretation der Lebenswirklichkeit des Menschen im Horizont des Evangeliums zu sein. Pastoralpsychologisches Arbeiten intendiert also auch theologische Arbeit. Die geistliche Perspektive gehört dazu ebenso wie die prinzipielle Offenheit für das Wirken des Heiligen Geistes.

 

Pastoralpsychologie „zwischen Theorie und Praxis“ bedeutet:

Pastoralpsychologie ist wissenschaftliche Wahrnehmung und Reflektion von relevanten Lebenswirklichkeiten. Sie rezipiert psychologische und sozialwissenschaftliche Diagnosen und deutende Theorien seelischer Lebenswirklichkeiten und vermittelt sie im wechselseitig kritischen Prozess mit den Sichtweisen theologischer Anthropologie.

Und: Pastoralpsychologie ist Handlungswissenschaft. Sie entwickelt interdisziplinär Leitlinien, Methoden und Optionen für die Praxis seelsorglicher Kommunikation81.

Das pastoralpsychologische Verständnis von Seelsorge ist grundlegend für die Ausbildung zum seelsorglichen Handeln und für die Reflektion seelsorglicher Praxis in der Supervision.

Im Folgenden sollen ihre Konturen noch etwas genauer nachgezeichnet und die Fragen diskutiert werden, die sie auslöst.

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