Grenzgänger: Deutsche Interessen und Verantwortung in und für Europa

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Grenzgänger: Deutsche Interessen und Verantwortung in und für Europa
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ibidem Verlag, Stuttgart

Inhalt

Vorbemerkungen

Dank

I. Kapitel Vom Auswärtigen Dienst in die Politik

1. Untypischer Anfang im Auswärtigen Dienst, 1976–78

Nuklearpolitik und Iran

Kernenergie an der deutsch-französischen Grenze

Erster Aufenthalt in Madrid

Einblick in eine andere Welt: Arabisch-Kurs in Kairo

2. Lehrjahre in Algier: 1978–81

Konsularalltag

Hilfe für Deutsche

Kultur und Presse „Numider und US-Geiseln“

Erste Begegnung mit Hans-Dietrich Genscher

3. Brüssel – Ständige Vertretung bei den Europäischen Gemeinschaften, 1981–85

„Antici“ und Beitritt Spanien – Portugal

Bundeskanzler Helmut Schmidt und Helmut Kohl

4. Politische Lehrjahre unter Hans-Dietrich Genscher, 1985–87

„Abwerbung“ in das Kanzleramt

5. Über elf Jahre im Bundeskanzleramt an der Seite Kohls, 1987–98

Ein Bundeskanzler und Chef – ganz anders als gedacht

Patriarch – Patron – „pater familias“

Prägende Erlebnisse, besondere Themen, Überzeugungen

„Vereinigte Staaten von Europa“?

Bundespräsidenten

„Wirtschaft“

Die Medien

Natürliche Spannungsfelder in der Regierung und Koalition

II. Kapitel Helmut Kohls „rote Fäden“ – Determinanten deutscher Außenpolitik

1. Ausgangspunkte und Grundlagen

Eckpfeiler deutscher Außenpolitik

2. Deutschland – Frankreich – und die „anderen Partner“?

Zwei Präsidenten, neun Premierminister

François Mitterrand

Jacques Chirac

Valéry Giscard d'Estaing

Botschafter

Joseph Rovan

3. Deutschland und seine „anderen“ europäischen Partner

Helmut Kohl und die „kleineren Mitgliedstaaten“

Deutschland und die anderen „Großen“

III. Kapitel Deutschland und Europa

1. Die achtziger Jahre – Erste EG-Reformen

EG-Präsidentschaft im ersten Halbjahr 1983

Jacques Delors

Zwischenschritt Einheitliche Europäische Akte

Krisenmanagement – Helmut Kohls erstes europäisches Meisterstück

Juni 1988 Hannover: Geburtsstunde des Euro, Helmut Kohls zweites europäisches Meisterstück

2. Die Chance der Deutschen Wiedervereinigung

Die Öffnung der Mauer am 9. November 1989

Europäischer Rat Straßburg Dezember 1989

Die „Bedenkenträger“

Die Großmächte

Zusammenführung der inneren und äußeren Elemente der Einheit

Deutsche Einheit und Agrarpolitik – Konsequenzen

Exkurs: Genscher und die Deutsche Einheit

3. Kernthemen der 90er Jahre

Der Vertrag von Maastricht

Wirtschafts- und Währungsunion und deutsche Einheit

Innen- und Justizpolitik in der EU

Außen- und Sicherheitspolitik

Französisches Maastricht – Referendum 1992

Mitterrands Vermächtnis – 8. Mai 1995 Berlin

Sicherheitspolitik – die Tragödie des Balkan

Eine neue Rolle für die Bundeswehr

„Vertiefung und Erweiterung“ – perpetuum mobile Europas

„Vorspiel“: Die „kleine“ EU-Erweiterung – die „Neutralen“

Die EU-Kommission nach Delors

„Querschläger“? – „Kerneuropa“ – Schäuble-Lamers-Papier

Vertrag von Amsterdam

Schengen – ungeliebtes Labor, verkannte Notwendigkeiten

Europäisches Parlament – der Gewinner von Amsterdam

„NATO-Renaissance“ 2014 dank Putins Vorgehen?

Die „große“ EU-Erweiterung – Kriterien und neue Partner

EU-Türkei – Geschichte ohne Ende?

Vorbereitung auf den Euro

IV. Kapitel Deutschlands Rolle in der Welt Wachsende Verantwortung und Engagement des wiedervereinigten Deutschlands

1. Wachsen in größere Verantwortung

Außenpolitische Prioritäten

Deutschland und der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen

Europa- und außenpolitisches Pensum Helmut Kohls

Helmut Kohl und das Auswärtige Amt

2. Deutschland und die Großmächte

Verhältnis zu den USA

Richard Holbrooke

Präsident Clinton

Russland und die Ukraine

 

Boris Jelzin

Ukraine – ein dauerhafter Sorgenfall

G 7 / 8 – die Wirtschaftsgipfel

3. Nahost-Politik – Bemühungen um Förderung und Flankierung des Friedensprozesses 1995/96

Helmut Kohl – Yitzhak Rabin

Yekutiel Federmann

Avi Primor

Eine Gemeinschaft des Nahen Ostens für Wasser und ….

Europa und der Friedensprozess

4. Engagement in Asien – und die anderen Kontinente?

Asien – Priorität Nr. 1 die Volksrepublik China

Lateinamerika

Initiative Umweltschutz Tropenwälder zusammen mit Brasilien, Südafrika und Singapur

Afrika

V. Kapitel „Post Helmut Kohl“ – Jahre in Brüssel, Madrid und Paris

1. Bundestagswahl 1998 – Ende der Ära Helmut Kohl

2. Rückkehr in das Auswärtige Amt

Belastung durch „Bundeslöschtage“ und Untersuchungsausschuss

3. Botschafter bei der NATO in Brüssel

NATO-Einsatz im früheren Jugoslawien – der Kosovo-Konflikt

„Todeskuss“ in Washington und vorzeitiger Abschied

4. Botschafter in Spanien und Andorra

Beobachtungen aus Madrid und schwierigen Regionen

Ein besonderes „Phänomen“ Mallorca

Eine ganz andere Aufgabe: Botschafter in Andorra

5.Abschied vom Auswärtigen Dienst – Weg in die Wirtschaft

VI. Kapitel Deutsche Politik „ohne“ Helmut Kohl

1. Rot-Grün: Europa- und Außenpolitik

Vertrag von Nizza

Verfassungskonvent – Vertrag von Lissabon

2. CDU in der Krise – von Kohl über Schäuble zu Merkel

Helmut Kohl „ohne Amt“, Parteispenden u.ä.

Helmut Kohl – Angela Merkel: Machtverständnis und Aufstieg

3. Helmut Kohl – anstelle eines Nachrufs

Helmut Kohl zum 90. Geburtstag

VII. Kapitel Deutsche Zukunft in Europa

1. Deutschland – Frankreich

Auf der Suche nach Stabilität und Gemeinsamkeiten

Parameter eines „anderen“ Verhältnisses

2. Die Überwindung der existentiellen Krise Europas – die Rolle Deutschlands

Die Selbstbehauptung Europas

Brexit – Das Vereinigte Königreich und die EU

Schlussfolgerungen

Epilog

Die „Finalität“ der europäischen Integration

Europäische Schicksalsgemeinschaft – europäischer Patriotismus

Vorbemerkungen

Ich habe eine der spannendsten, vielleicht wichtigsten Zeiten deutscher, europäischer und internationaler Geschichte im Herzen der Politik miterlebt und auch mitgestaltet. Von Freunden, Bekannten, Historikern wie Journalisten bin ich immer wieder aufgefordert worden, meine „Erinnerungen“ an diese Jahre niederzuschreiben. Letztlich ermutigten mich die regelmäßigen Gespräche mit meinem Freund und langjährigen Weggefährten Hubert Védrine und sein Buch über die Außenpolitik Präsident Mitterrands, einen solchen Versuch zu wagen – nicht im Sinne klassischer Memoiren, sondern in einer Mischung aus konkreten Erinnerungen und Beobachtungen und einer Analyse, Gedanken und kritischen Anmerkungen, nicht zuletzt auch aus heutiger Sicht.

Der Leser wird aufgrund meines beruflichen Weges verstehen, dass die Zeit im Bundeskanzleramt und an der Seite Helmut Kohls im Zentrum meiner Beobachtungen und Anmerkungen stehen. Ermutigung oder besser eine Provokation bildeten auch die verschiedenen Biographien über Helmut Kohl wie eine ganze Reihe politisch-historischer Betrachtungen über jene Zeit. Dies gilt zum Beispiel für die umfassende Biographie von Prof. Hans-Peter Schwarz, in der ich bei allem Respekt für den Autor über viele Passagen, vor allem in Bezug auf Europa, weder Helmut Kohl noch seine Politik wieder gefunden habe, wie ich sie und ihn erlebt habe und wie sie auch von wesentlichen Partnern in Europa und auf internationaler Ebene empfunden wurde.

Es kann aber nicht darum gehen, eine kritische Kommentierung des Werks von Schwarz oder desjenigen von Henning Köhler vorzunehmen. Aufgefallen ist mir, dass im Werk des letzteren Autors die Europapolitik als das Kernanliegen Helmut Kohls eher beiläufig abgehandelt wird, während bei Hans-Peter Schwarz seine fast virulente Europa-Skepsis gegenüber seiner Europa-Politik und dem Euro auffallen musste.

Aber auch manch andere Betrachtungen in den Medien wie seitens seriöser Wissenschaftler über die wesentlichen Elemente der Europa- und Außenpolitik Helmut Kohls laden zum Widerspruch ein. Dies gilt vor allem für die Bewertung des Vertrages von Maastricht und vor allem für die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion und den Euro selbst. Es muss doch verwundern, dass selbst Historiker wie der in Deutschland populäre Heinrich August Winkler offen die Kohl'sche Politik insoweit für mich leichtfertig als „Fehlentscheidung“ apostrophieren, ohne die Umstände und das Umfeld jener Zeit zu hinterfragen und kritisch zu beleuchten. Darauf wird im Zusammenhang mit dem Vertrag von Maastricht einzugehen sein.

Zielsetzung meiner „Erinnerungen“ ist weder eine Abrechnung noch ein Enthüllungsbuch, auch wenn manche Ereignisse durchaus emotional geprägte Erinnerungen wachrufen und vielleicht einige der Begebenheiten noch nicht oder noch nicht aus diesem Blickwinkel berichtet worden sind. Das Buch kann in keiner Weise die historische Aufarbeitung jener Zeit ersetzen, einschließlich die Arbeit anhand der Erinnerungen Helmut Kohls selbst wie anderer Akteure, der zugänglichen Quellen und deren Interpretation.

Es versteht sich von selbst, dass sich diese „Erinnerungen“ auch zwangsläufig mit dem „Pamphlet“ Heribert Schwans kritisch auseinandersetzen müssen.

Mir geht es darum, auf der Grundlage meines Weges die Politik Deutschlands ab Mitte der 70er Jahre, dann vor allem in der zweiten Hälfte der 80er und in den 90er Jahre, die zunächst durch Hans-Dietrich Genscher, dann grundlegend durch Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl geprägt worden ist, nachzuzeichnen und verständlich zu machen, sie in ihren innen-, vor allem europapolitischen und internationalen Kontext und im Lichte der Folgezeit aufzuzeigen und aus der Rückschau Gedanken für die Zukunft daraus abzuleiten. Naturgemäß muss sich eine solche Zeitreise durch vier Jahrzehnte deutscher Politik auch mit den handelnden Persönlichkeiten auseinandersetzen.

Der aufmerksame Beobachter der heutigen europäischen Krisen und Konflikte muss feststellen, dass viele der jetzigen Umstände in der damaligen Zeit entstanden sind und zu lange unterbewertet oder vielleicht schlichtweg noch nicht verstanden bzw. in der Folge einfach falsch beurteilt worden sind. Unter der durch die Anhäufung der Krisen und deren kurzfristig-pragmatisch bestimmten Reaktionen entstandenen Bugwelle leidet Europe heute mehr denn je.1

Vor allem scheint Europa unverändert in einer Übergangszeit zu stecken, die ihren Ursprung in jenen grundlegenden Veränderungen der Jahre 1989/90 hatte und deren Konsequenzen von mancher Seite bis heute nicht voll verarbeitet bzw. „verdaut“ sind: Unverändert suchen Schlüsselländer des europäischen Geschehens – Frankreich, das Vereinigte Königreich, Russland, aber auch und gerade Deutschland selbst – ihren Platz und ihre Rolle in und um Europa.

Und gerade in diesem Sinne müssen diese „Erinnerungen“ nach dem Tode Helmut Kohls am 16. Juni 2017 eine Würdigung seines Werkes und seiner Ära enthalten. Er hat seine Ziele zu Lebzeiten auf das richtige Gleis gesetzt, seine Nachfolger haben Fortschritte erreicht, aber auch Rückschläge verzeichnen müssen. Ich habe mich daher im Rückblick auf die krisenhaften Zuspitzungen und damit auch Krisen der europäischen Integration gefragt, was geschehen muss, um sein Vermächtnis mit Leben zu erfüllen und es in die Tat umzusetzen. Es ist aktueller denn je!

Trotz aller notwendigen kritischen Bewertung ist Europa heute, über 20 Jahre nach Kohls Abtreten von der politischen Bühne, mehr denn je gefordert, gerade auch im Lichte der COVID-Krise in seinem Sinne zu festigen und seine Überlebensfähigkeit auf Dauer zu sichern.

1 Siehe hierzu mein Essay unter dem Titel „Reflections on ‹“The End of Cold War?›» in: Exiting the Cold War, Entering a New World, herausgegeben von Dan Hamilton und Kristina Spohr, Washington 2019, Seite 483 ff

Dank

Ein solcher Rück- und zugleich Ausblick ist auch Anlass des Dankes an die, die mich während dieser Jahre gefördert und ertragen haben. Zuallererst an meine Frau und unsere Kinder, die ich oft genug vernachlässigt habe, sie haben mir immer die Rückendeckung für die Wahrnehmung meiner Aufgaben gegeben. Ihnen ist dieses Buch daher auch gewidmet.

Danken möchte ich zudem stellvertretend für alle meine Vorgesetzten Bundeskanzler a.D. Dr. Helmut Kohl und auch Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher, die mich gefördert, die meine Fehler ertragen, sie abgedeckt haben, mit denen ich phantastische Stunden erleben durfte.

Dankbar bin ich gleichermaßen den Kollegen und Mitarbeitern, die im Kanzleramt wie in den von mir geleiteten Vertretungen in Brüssel und Madrid Höchstleistung erbracht haben und ohne die ich meine Aufgaben nie hätte erfüllen können.

Dankbarkeit aber auch dafür, was ich in all denen Jahren miterleben, dass ich in Schlüsseljahren deutscher und europäischer Geschichte dabei sein und zu den Weichenstellungen mitunter beitragen durfte. Dankbarkeit gleichermaßen an die Adresse vieler gewonnener Freunde, mit denen ich damals wie heute verbunden bin, stellvertretend für viele andere sei Hubert Védrine genannt.

I. Kapitel
Vom Auswärtigen Dienst in die Politik
1. Untypischer Anfang im Auswärtigen Dienst, 1976–78

Das „Abenteuer“ europäische und internationale Politik hatte unspektakulär begonnen. Ich war 1976 stolz darauf, den Auswahlwettbewerb des Auswärtigen Dienstes – dem einzigen dieser Art in Deutschland – bestanden zu haben und in den „höheren Auswärtigen Dienst“ einzutreten.

 

Wieso überhaupt Auswärtiges Amt? Die Vorstellung, meine Heimat, das Saarland zu verlassen, war schon während des zweijährigen Militärdienstes entstanden, der mich quer durch Deutschland geführt hatte. Die Vorzeichen waren freilich eher deutsch-französisch, ja europäisch – geboren im Saarland, damals noch unter französischer Besatzung, Gymnasium, dann Studium Recht, Wirtschaft und Politik in Saarbrücken.

Ich erinnere mich an Grenzen und deren Probleme, an die Zeit gescheiterter Bemühungen, aus dem Saarland ein europäisches „Washington DC“ zu machen, an die Volksabstimmung im Herbst 1955 und ihre positiven wie kritischen Folgen. Die Saarländer lehnten mit Zwei-Drittel Mehrheit das von Frankreich und der saarländischen Landesregierung initiierte „Europäische Statut für das Saarland“ ab. Damit war der Weg für die Rückgliederung des Saarlandes in die Bundesrepublik frei. Meine Eltern trauten sich unter jenen Umständen nicht, mich in Saarbrücken beim französischen Maréchal Ney-Gymnasium anzumelden, dessen französisches Abitur im Saarland dann auch prompt fürs erste nicht (mehr) anerkannt wurde.

Die Grenzkontrollen Richtung Deutschland verschwanden, diejenigen in Richtung Frankreich blieben, auch und gerade gegenüber dem Nachbarn Lothringen. In jenen Jahren mussten wir schmerzhaft erfahren, was es bedeutet, eine Wohnung im „Zollgrenzbezirk“ zu haben. Wir konnten nicht so einfach jenseits der Grenze einkaufen und erfreuten uns „aleatorischer“ Kontrollen auf dem regelmäßigen Weg nach Lothringen. Meine Frau stammte eben aus dieser Region, ausgerechnet aus einer Gemeinde, die 1871 geteilt worden war und daher bis heute unterschiedlichen Verwaltungsregeln und -grenzen unterliegt, ein Teil im Departement „Moselle“, ein Teil in „Meurthe-et-Moselle“. Grenze war die Eisenbahnbrücke, der Ort zugleich Grenzstation für alle Züge zwischen Paris und Straßburg. Ein Grenzbahnhof, der im Übrigen durch einen der großen Filme von Claude Lelouch „Les uns et les autres“ bekannt wurde.

Meine Schwiegermutter ging in die deutschsprachige Grundschule. Auf der Straße Französisch zu sprechen war ein Tabu, sie brauchte einen Passierschein, um ihre Verwandten auf der anderen Seite der Brücke zu besuchen. Nach dem Ende der deutschen Besatzung war die deutsche Sprache Tabu, man hielt aber bis heute die besonderen Besitzstände auf der Seite „Moselle“ aufrecht – Beispiel war der Status der Kirche. Die Priester werden unverändert vom Staat bezahlt!

Während der juristischen Referendarausbildung sollte die Unterbrechung über 13 Monate zum Studium an der ENA, der Ecole Nationale d'Administration in Paris, folgen, ein „Ausflug“ in eine andere Welt, das „Eintauchen“ in eine völlig andere Art von Führung und Administration. Mein Ausbilder aus dem Innenministerium hatte mich auf den deutschen Auswahlwettbewerb aufmerksam gemacht und im Einvernehmen mit meiner Frau hatte ich das Risiko gewagt.

Die Rückkehr in die Ausbildung in Saarbrücken drei Monate vor dem Zweiten Staatsexamen fiel nicht gerade leicht. In Gedanken schien ich noch in Paris oder schon beim Auswahlwettbewerb für den Auswärtigen Dienst zu sein.

Die jungen Attachés hofften vergeblich auf eine Begegnung mit „ihrem“ Bundesminister. Mir sollte dies zweieinhalb Jahre später dank einer Beerdigung vergönnt sein. Unsere Vereidigung nahm der Staatssekretär vor. Wir erfuhren erst später, dass Peter Hermes, den ich in der praktischen Ausbildung kennen und schätzen lernte, aus der inneren Sicht des AA nicht der erste, sondern „der zweite“ Staatssekretär war.

Die ersten einführenden Monate in der Ausbildungsstätte des Auswärtigen Amtes auf der Bonner Höhe in Ippendorf, der „Diplomatenschule“, vergingen viel zu langsam, ich wollte endlich die Praxis kennen lernen! Daran änderten auch weder das Bemühen um die Vermittlung des diplomatischen Rüstzeugs noch die ersten Einblicke irgendetwas. Einer der wenigen Politiker, die mich in den abendlichen Diskussionen in ihren Bann gezogen und beeindruckt hatten, war Egon Bahr. Er, der Vordenker und Wegbereiter der Brandt'schen Ostpolitik, war es, der schon früh den Grundsatz „Wandel durch Annäherung“ geprägt und die Brücken nach Osten aufgebaut hatte. Seinen Kernsatz, wonach Schlüssel zur Lösung der deutschen Frage ein europäisches Sicherheitssystem sein müsse, „das Sicherheit für Deutschland mit Sicherheit vor Deutschland verband, auf der Grundlage einer stabilen Abschreckung durch die beiden Supermächte“, konnte ich aus damaliger Sicht im Grundsatz nur querschreiben. Was bei Bahr freilich vor allem fehlte, war die Einbettung in die europäische Integration als die „andere Seite der Medaille“ – und das unterschied ihn, der in gewisser Weise eines der Vorbilder wurde, von Helmut Kohl, meinem späteren Lehrmeister. Einer der wenigen, der die politische Bedeutung des Bahr'schen Kurses erkannt hatte, war in jenen Jahren ein anderer Lehrmeister moderner Außenpolitik: Henry Kissinger.

An meiner Ungeduld änderte auch die Enttäuschung über das erste „Personalgespräch“ im Dienst nichts. Mein erster Vorgesetzter an der Diplomatenschule verkündete mir offen, dass ich angesichts der Tatsache, dass meine Frau Französin ist und ich durch die ENA, die französische Kaderschmiede, gegangen war, nie nach Paris versetzt werden würde. Mir fehle es an der notwendigen Objektivität, am erforderlichen Abstand von den Franzosen. Ich musste schon schlucken, ich hatte ihn nie nach einer Versetzung gefragt! Ich durfte vertretungsweise den Französisch-Unterricht für junge Diplomaten leiten, aber Paris sollte Tabu bleiben. Doch ich konnte nicht ahnen, dass es manchmal anders kommt, als Planer und Personalmanager es vorhersehen.

Die folgenden Jahre waren dennoch faszinierende Lehrjahre. Zum Teil sind die Themen der damaligen Zeit auch heute noch aktuell; anders ausgedrückt: Sie harren auch heute noch einer nachhaltigen Lösung.

Im Frühjahr 1977 begann endlich die Praxis mit der Ausbildung in der Abteilung für Außenwirtschaft des Auswärtigen Amtes, im damaligen Referat 413 für Fragen der „Nuklearexport-Politik“. Dies in einer Zeit, die geprägt war durch die Bemühungen der US-Administration um Präsident Carter um eine Verschärfung der Nuklearexportkontrollen, eines der politisch sensiblen Themenkomplexe der Außenpolitik.