Grenzgänger: Deutsche Interessen und Verantwortung in und für Europa

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Joseph Rovan

Das Verhältnis zu Frankreich war Gegenstand des permanenten Meinungsaustauschs zwischen Bonn und Paris – und natürlich haben wir wie die Franzosen auch Quellen außerhalb von Regierung und Parlament gesucht und konsultiert.

Helmut Kohl stützte seine Politik gegenüber Frankreich nicht zuletzt auf eigene Erfahrungen mit dem Nachbarn aus seinen Jahren in Mainz und dann in Bonn auf der Bank der Opposition sowie vor allem auf Persönlichkeiten, auch und gerade außerhalb des „Apparates“.

Im Grunde hat Kohl seine Gesprächspartner zur Geschichte, aber auch zu aktuellen Themen und Hintergründen befragt – Geschichte, Hintergründe, Umstände, Umfeld und die gesellschaftliche Entwicklung waren für ihn Schlüssel des Zugangs zu einem anderen Lande wie zu seinen führenden Persönlichkeiten.

Einer seiner liebsten Gesprächspartner in Paris und über Frankreich war Professor Josef Rovan, er traf sich aber auch durchaus regelmäßig mit führenden Persönlichkeiten der französischen Gesellschaft – Journalisten, Historikern, Politikern. Distanz hielt er zu einer anderen großen Persönlichkeit im deutsch-französischen Verhältnis, zu Alfred Grosser! Er schien ihm parteipolitisch „auf der anderen Seite“ festgelegt, Grosser schien umgekehrt von Kohl wenig zu halten, zugleich wusste Kohl auch, wie sehr Alfred Grosser, in Frankreich und Deutschland zum gleichen Thema völlig unterschiedliches sagen konnte. Die Abneigung – und das musste ich über die Jahre erfahren – beruhte auf Gegenseitigkeit!

Auch ich brauchte einige Zeit, um mit Alfred Grosser zurecht zu kommen, mich mit ihm freimütig auszutauschen, ihn zu respektieren und schätzen zu lernen. Die Schicksale von Alfred Grosser und Joseph Rovan, beide in Deutschland geboren und aufgewachsen, waren in gewisser Weise vergleichbar, sie stehen für die Schicksale einer ganzen europäischen Generation.

Joseph Rovan, in München und Berlin aufgewachsen, jüdischer Herkunft, glaubte, dem NS-Regime durch die Flucht nach Frankreich zu entrinnen, seiner neuen Heimat leistete er Beistand, er schloss sich der Résistance an, wurde festgenommen, gefoltert und in das KZ Dachau verschleppt. Dort lernte er einen französischen Jesuiten kennen, mit dem er – noch im KZ – eine Bewegung zur Aussöhnung mit Deutschland gründete. Er wurde zum Vorbild für seine Generation und für die Jugend. Unermüdlich versuchte er die Brücke zwischen seiner alten und neuen Heimat zunächst wiederaufzubauen, sie zu festigen und sie zu verbreitern Er war ein unermüdlicher Übersetzer, Mittler, Antreiber, Mahner, vor allem aber auch Bindeglied. Sein großes Werk über die deutsche Geschichte – eines der besten Darstellungen dieser Art überhaupt – bildete in gewisser Weise sein Vermächtnis. Rovan hatte immer eine offene Tür beim Bundeskanzler – und ich, wenn man so will – die Arbeit!

Einer seiner Ideen war die „notwendige Vernetzung“ von Elysée und Bundeskanzleramt, um einen permanenten Gesprächsfaden und Austausch herzustellen. So trug er – ohne Erfolg – dem Bundeskanzler den Gedanken eines Beamtenaustauschs vor. Die von uns allen hoch geschätzte Sophie-Caroline de Margerie, die die Nachfolge von Elisabeth Guigou übernommen hatte, sollte aus seiner Sicht in das Bundeskanzleramt abgeordnet werden, während ich für diese Zeit in die Elysée gehen sollte.

Bis zu seinem Tode im Jahre 2004 blieb Joseph Rovan der ruhelose, leidenschaftliche Intellektuelle. Ihm verdanke ich auch in jenen Jahren den Zugang zu einem Kreis Pariser Intellektueller – „Cassiodore“ um Jean-Marie Soutou, Jorge Semprun und anderen. Und der oft sehr eigenwillige Joseph Rovan berief mich in den Vorstand dieses Kreises – was ich erst Jahre später beiläufig erfahren habe.

Für Helmut Kohl war es selbstverständlich, 2004 anlässlich der Totenfeier für Joseph Rovan nach dessen tragischem Tod nach Paris zu kommen und seinem Freund zu gedenken. Beschämend auf uns musste damals die Abwesenheit der Pariser Politik wirken!

Joseph Rovan ist für mich eines der zahlreichen Beispiele für die Fehleinschätzung eines Helmut Kohl durch die Medien wie durch manche Universitätslehrer und Philosophen, die weder Rovan noch Kohl ernst nahmen. Seit einiger Zeit verleiht die französische Seite einen „Joseph-Rovan-Preis“ für Verdienste im deutsch-französischen Verhältnis. Ich frage mich allerdings, ob die bisherige Praxis der Bedeutung dieses Mannes gerecht zu werden vermag. Für mich wäre es zudem angemessen gewesen, das Vorschlagsrecht für den Preisträger dem Präsidenten und dem Bundeskanzler zu überlassen.

Helmut Kohl akzeptierte in gleicher Weise meine ständige Einladung und Aufnahme in einen anderen Pariser – politischen – Kreis, den von Simone Veil und ihrem Mann Antoine gegründeten „Club Vauban“, in dem alle wichtigen französischen Politiker der „Mitte“ vertreten waren, von Sozialisten bis hin zu Gaullisten. Dies waren um 40 Persönlichkeiten, darunter waren auch Politiker, die bis heute im Vordergrund stehen, sei es z.B. Yves Le Drian, den heutigen Außenminister, Xavier Bertrand, den Präsidenten des Regionalrates des Norden Frankreichs, oder Jean-Louis Bourlanges, den wortgewaltigen liberalen Abgeordneten. Es war ein Ort, der mir einen anderen Einblick in die französische Politik und in die Parteien verschaffte, mir aber zugleich erlaubte, in diesem Kreis immer wieder deutsche Politik zu „dechiffrieren“. Versuche, ähnliche Kreise aufzubauen, gab es auch in der Bonner Republik, wenn auch mit mäßigem Erfolg.

3. Deutschland und seine „anderen“ europäischen Partner
Helmut Kohl und die „kleineren Mitgliedstaaten“

Helmut Kohl ermunterte mich immer wieder, mich intensiv nicht nur um die „Großen“, allen voran Frankreich, zu kümmern, sondern ganz besonders um die kleineren Partner – sein Paradebeispiel war Luxemburg, letztlich stellvertretend für die vielen andern. Er war sich bewusst, er konnte für alle Partner nicht die gleiche Zeit aufwenden, und doch bemühte er sich intensiv darum, gerade auch für diese Länder ein vertrauensvoller Partner – auf gleicher Augenhöhe – zu sein.

In all den Jahren konnten die Beziehungen ob zu Luxemburg, zu Belgien oder zu Dänemark, Schweden oder Finnland nicht besser sein. Ein Jacques Santer und später vor allem Jean-Claude Juncker, Wilfried Martens oder Jean-Luc Dehaene, Carl Bildt oder Sozialdemokraten wie Paavo Lipponen oder Poul Nyrup Rasmussen, um nur einige zu nennen, waren Kernbestandteile des Kohl'schen Netzwerkes und Freundeskreises in Europa. Parteipolitische Grenzen spielten dabei nur selten eine Rolle.

Unvergesslich bleibt mir der dänische Ministerpräsident Poul Nyrop Rasmussen, Sozialdemokrat, der mir gegenüber noch lange Jahre danach von diesen Beziehungen und der Rücksichtnahme auf seine innenpolitischen Schwierigkeiten nahezu schwärmte: Wir hätten nie versucht, ihn und sein Land über den Tisch zu ziehen, sondern Kohl habe immer auf ihn Rücksicht genommen. Dies galt mutatis mutandis für die andern „kleineren“, aber auch für die „großen“ Partner!

Helmut Kohl stand in all den Jahren zunehmend im Mittelpunkt des europäischen Geschehens. Er war – unterstützt von Jacques Delors – der nicht gewählte, aber doch von allen gesuchte und akzeptierte „Anführer“ Europas und des Europäischen Rates, in gewisser Weise an der Spitze einer Art „permanenten europäischen Vermittlungsausschusses“, eine von den Partnern bewusst akzeptierte Führung Europas!

Naturgemäß gab es dabei auch Länder, die im Reflex eher Helmut Kohl folgten als andere, es gab auch schwierigere, sensible Partner wie die Niederlande oder das Vereinigte Königreich oder auch mitunter Italien. Mein Problem war es, an der Seite Helmut Kohls deren Ansprechpartner zu sein, Probleme zu erkennen, sie zu kanalisieren, sie mit zu entschärfen – ein Arbeitspensum, das nur dank eines wenn auch kleinen, so doch hervorragenden Teams mit einem gut funktionierenden Frühwarnsystems mit den Kollegen aus den jeweiligen Ländern zu bewältigen war.

Und ein Problem war es zusätzlich, dass Helmut Kohl (leider) alle wesentlichen politischen Akteure aus diesen Ländern persönlich kannte, manche besser als ich selbst, und er zudem seine Vorlieben und Abneigungen über die Jahre entwickelt hatte. Eine permanente Herausforderung – zumal der „Chef“ auch in Deutschland selbst seine parallelen Quellen hatte – und ich oft nicht wusste, mit wem er gerade zuletzt gesprochen hatte oder woher er die eine oder andere Information hatte. Das galt nicht nur für die Länder, die von Parteien geführt wurden, die der EVP angehörten, sondern auch für andere, wie z.B. für Österreich!

Teil dieses Netzwerkes waren in jenen Jahren auch meine Kollegen, Kabinettchefs oder diplomatische Berater der jeweiligen Regierungschefs. Und auch insoweit blieb das Verhältnis zu einem Teil eine gute, professionelle Beziehung, mit anderen wurde daraus ein sehr freundschaftliches Verhältnis, das zum Teil bis heute besteht. Ich nenne als Beispiele bewusst die Freunde aus den „kleineren“ Mitgliedstaaten der EU, Martine Schommer, die hoch engagierte und sehr offene Luxemburgerin, Dominique Struye van Zwielande, den bedächtigen, immer verlässlichen Freund aus Brüssel, oder Niels Egelund, den dänischen Freund, den ich Jahre später in Paris wieder treffen sollte. Ich müsste über andere berichten wie die spanischen und italienischen Freunde, Ricardo Diez-Hochleitner und Umberto Vattani – und doch dies ist nur ein kleiner Teil einer oft verschworenen kleinen Gemeinschaft!

Deutschland und die anderen „Großen“

Ich hatte die Chance, in den Jahren an der Seite Helmut Kohls drei Premierminister des Vereinigten Königreichs zu erleben, zunächst Margret Thatcher, dann John Major und schließlich ab 1997 Tony Blair.

 

Margret Thatcher war für Helmut Kohl eingedenk ihres Misstrauens gegenüber Deutschland und gegenüber dem überzeugten Europäer Kohl wohl die schwierigste Partnerin. Der Bundeskanzler tat das ihm mögliche, um immer wieder die Brücke für das Vereinigte Königreich nach Europa zu bauen. Doch er biss bei ihr auf Granit!

Sie war mit der Kohl'schen europapolitischen Ausrichtung einfach nicht einverstanden, der Christdemokrat und Deutsche waren ihr im Reflex suspekt. Hugo Young schreibt in seinem blendenden Werk über die Insel und Europa zum Verhältnis zwischen Thatcher und Helmut Kohl „but Schmidt she could understand, whereas Kohl she spent eight years regarding as a pain: verbose and difficult; They could not, for a start, speak the same language, a misfortune that partly lay behind her nickname for him: the gasbag („der Schwätzer“)“ 3 Selbst bei dem für sie aus ihrer politischen Philosophie so wichtigen Thema des europäischen Binnenmarktes hakte es. Sprichwörtlich stand dafür ihr fast paranoid anmutendes Misstrauen gegenüber dem Projekt des Kanaltunnels zwischen Frankreich und der Insel, über das am Rande der Beratungen über die Einheitliche Akte in Luxemburg dank des damaligen dänischen Regierungschefs Witze unter den Regierungschefs kursierten!

Auch die Tatsache, dass Charles Powell, ihr engster außenpolitischer Berater, in Brüsseler Tagen mein Kollege in einer der vertraulichen Arbeitsgruppen des Rates war, erwies sich für mich als nicht besonders hilfreich. Respekt vor dem anderen vielleicht ja, aber Vertrauen entstand daraus kaum.

Thatchers Misstrauen gegenüber Helmut Kohl wurde durch die Beratungen in der EU im Jahre 1988 noch stärker, ihre Haltung gegenüber der deutschen Einheit musste überzogen und selbst den Amerikanern befremdlich erscheinen. Letztlich hat Helmut Kohl in den Jahren 1988/89, beginnend mit der Sondertagung des Europäischen Rats im Februar 1988, dann aber vor allem durch die deutsche Wiedervereinigung, ganz entscheidend zu ihrem Niedergang und Ende beigetragen.

John Major hatte als ihr Nachfolger von Anfang an einen schweren Stand innerhalb der konservativen Partei. Sein Ton war gemäßigter, sein Bemühen um Ausgleich wirkte offener, und doch seine Margen waren beschränkt. Sein Verhältnis zu Helmut Kohl wurde durch die beiderseitige herzliche Abneigung gegen Margaret Thatcher erleichtert und durch gegenseitiges Vertrauen und Respekt geprägt. Dies zeigte sich vor allem in Maastricht und in der Folge um die Sicherung der Ratifikation durch das Unterhaus. In Maastricht war er gehalten, das Paket der von Kohl geförderten „sozialen Dimension“ abzulehnen wie auch deutsch-französische Anliegen zugunsten einer stärkeren gemeinsamen Verankerung der Außen- und Sicherheitspolitik die Zähne zu ziehen – aufgrund der Einstimmigkeit im Rat kamen wir an ihm, am Vereinigten Königreich nicht vorbei.

Und in der Folge machten wir in Sachen Umsetzung des in Maastricht als Kompromiss vereinbarten „Subsidiaritätsprinzips“ alle Verrenkungen, um ihm innenpolitisch entgegen zu kommen. Wir stimmten einem Gipfeltreffen zu diesem Thema unter britischem Vorsitz – im Herbst 1992 in Birmingham – zu, um die Konturen dieses Prinzips zu schärfen – vieles der damaligen Debatte erinnert an die heutige Diskussion der britischen Konservativen über Europa und zum Brexit!

Trotz aller gegenseitigen Bemühungen blieb das Verhältnis auch in der Zeit von John Major gespannt, Querschläger kamen von innen, aus der konservativen Partei und vor allem auch aus den Medien. Betroffen davon war nicht nur Helmut Kohl selbst, sondern auch die Mitarbeiter. So zerriss im August 1992 unter dem Titel „After you, Helmut“ der damalige EG-Korrespondent des Daily Telegraph, Boris Johnson, heute Premierminister Ihrer Majestät, die Politik John Majors. Der Bösewicht für ihn war aber nicht Helmut Kohl, sondern vor allem ein gewisser Joachim Bitterlich!

Ich muss lachen, wenn ich heute diesen blendend geschriebenen Artikel lese, damals fassten deutsche wie britische Diplomaten Johnsons Analyse mit der Kneifzange an. Ich zitiere einfach einige der wesentlichen Aussagen Johnsons: „Joachim Bitterlich who runs the European Affairs department in the Bundeskanzleramt, epitimises all that Our Men are up against in Bonn. His introverted, blondish mien is compared, predictably but accurately to that of an SS colonel, but one who loves France ….”4 Ich halte hier inne, man könnte noch so viel mehr zitieren, jedenfalls ein Beitrag zur Förderung aller negativen Vorurteile gegen die Deutschen.

Einige Jahre später setzte Andrew Roberts in seinem futuristischen Werk „The Aachen Memorandum“ noch eins drauf: 2045 wurde nach der Einverleibung des Vereinigten Königreichs in die Vereinigten Staaten von Europa ein gewisser Joachim Bittersich einer der Verwalter der „South English Region“ und die Beschreibung der Person ging in die gleiche Richtung.5 Der Fairness halber muss ich hinzufügen, dass es in all den Jahren britische Kollegen – ja, Freunde – gab, die nicht nur exzellente Kollegen waren, sondern die sich ehrlich darum bemühten, solche (Vor-)Urteile zurückzuweisen. So drückte mir im vergangenen Jahr einer dieser britischen Kollegen „zur Erinnerung“ einen kleinen Stapel von – inzwischen freigegebenen – Berichten in die Hand: „Sei uns nicht gram, wir haben damals schon überzogen.“

Tony Blair wurde Mitte der neunziger Jahre mit seinem Slogan „New Labour, new Britain“ zum „shooting star“ von Labour und gewann im Frühjahr 1997 die Unterhauswahlen gegen die Konservativen. Blair schien sich auf den ersten Blick ernsthaft durchaus um ein entspannteres Verhältnis zu Deutschland und zu Helmut Kohl zu bemühen, in Wahrheit setzten er und sein Team aber auf einen Regierungswechsel in Deutschland. Kurz nach seinem Amtsantritt gab er beim Europäischen Rat in Amsterdam die britische „Nicht“- oder „Sonder“-Rolle in Bezug auf die soziale Dimension der EU auf, er warf unnötigen Ballast ab und schien bemüht, mit dabei zu sein – aber auch er blieb letztlich vorsichtig – distanziert.

Er hatte um sich ein exzellentes Team von engagierten Mitarbeitern geschart, Peter Mandelson, Jonathan Powell – der jüngere Bruder von Charles Powell, und Alastair Campbell, seinen Medienstrategen oder „spin doctor“ – dem ich in Brüssel 1999 während des Kosovo-Konflikts wieder begegnen sollte. Diese Mannschaft hatte mit uns wenig am Hut, sie setzte auf den Wechsel in Bonn und war nicht immer „sauber“ gegenüber uns! Die Erinnerungen von Jonathan Powell „The New Machiavelli“ unterstreichen diese Haltung in besonderer Weise. Eine wohltuende Ausnahme bildete Peter Mandelson, mit dem Gespräche, auch später als er Mitglied der EU-Kommission wurde, immer ein Vergnügen waren. Er versuchte ernsthaft, Deutschland zu verstehen und gemeinsames Handeln zu fördern. Er gehört – zusammen mit dem Freund Kenneth Clarke bei den Konservativen – zu der kleinen Kaste von Europa-Kennern und -Verstehern auf der Insel.

Zu Spanien wurde das Verhältnis in den Jahren an der Seite Helmut Kohls durch sein überaus freundschaftliches Verhältnis zu Felipe Gonzalez geprägt – eine Entwicklung, die manche meiner sozialdemokratischen Freunde als die Erfüllung eines an Helmut Kohl angetragenes Vermächtnis von Willy Brandt ansahen. Es war Helmut Kohl, der Willy Brandts Bitte umsetzte, beim Staatsakt nach seinem Tode möge nicht der amtierende Vorsitzende der Sozialistischen Internationale (SI), der Franzose Pierre Mauroy, die Gedenkrede halten, sondern eben sein europäischer Lieblingsschüler Felipe Gonzalez. François Mitterrand, der den Bundeskanzler auf diesen Vorgang telefonisch ansprach, sah dies auch ohne jedes Zögern ein.

Mit Felipe Gonzalez Nachfolger José Maria Aznar war die Beziehung vor allem zu Anfang durch Misstrauen geprägt, galt doch Helmut Kohl als der beste politische Freund seines ärgsten politischen Widersachers, Felipe Gonzalez. Die ersten Begegnungen waren mehr als schwierig, durch vorsichtiges Abtasten geprägt, selbst ein informelles persönliches Treffen mit dem Noch-Oppositionsführer Aznar in der Madrider Altstadt im engsten Rahmen stand nahe einem Desaster – dies dank eines Überraschungsgastes, den wir nicht erwartet hatten: Frau Aznar, die lebhaft versuchte, das gemeinsame Arbeitsessen mit dem Kanzler mit dem Thema „Abtreibung“ einzuführen und mit Helmut Kohl darüber zu disputieren! Helmut Kohl schaute mich nahezu flehend an, mit Hilfe meiner Kenntnisse der spanischen Sprache darauf zu drängen, das Thema zu wechseln – unsere Dolmetscherin stand dem nicht nach: sie wollte mir den Job übergeben, wenn die „Tiraden“ so weiter gingen!

Erst in der Folge begann sich das Verhältnis langsam zu entspannen und positiver zu entwickeln. Doch Aznar war gegenüber den Ratschlägen des älteren Regierungschefs und Parteiführers weitaus weniger empfänglich als sein Vorgänger – Spanien wurde für uns zunehmend eigensinniger und schwieriger! Und Aznar begann mehr und mehr die wirtschaftliche Performance Spaniens zu überschätzen – „Espana va bien“ war sein lange Zeit erfolgreicher Slogan in Verkennung der tatsächlichen Umstände, vor allem der immer deutlicher werdenden Immobilien-Blase wie auch die Abschwächung des wirtschaftlich-industriellen Aufschwungs!

Zu Italien hatte Helmut Kohl über die Jahre, schon aus der Opposition, in gewisser Weise ein ganz eigenes, besonderes Verhältnis entwickelt, zu dem Land, seinen politischen Parteien und Führern. Er mochte Italien – und doch war das Land alles andere als ein leichter Partner. Ich habe einfach einmal durchgezählt, in meinen Bonner Jahren von 1985 – Ende 1998 hatte es die Bundesregierung mit 13 italienischen Regierungen zu tun, einige Namen sind heute mehr oder minder vergessen, andere haben Italien geprägt, ohne es aber hinreichend zu verändern.

Es waren gerade besondere Persönlichkeiten, die die italienische Politik über diese Jahre geformt haben. Man denke an Giorgio Napolitano, über den an anderer Stelle zu reden sein wird, oder an Giulio Andreotti, der aus der italienischen Politik über Jahrzehnte nicht wegzudenken war, an den oft unterschätzten Giuliano Amato oder an Carlo Azeglio Ciampi, der zum Garanten für die Teilnahme Italiens an der Wirtschafts- und Währungsunion wurde.

Zugleich setzte Helmut Kohl – vergeblich – darauf, dass sich die italienische „Schwesterpartei“, die DC Democrazia Christiana, aus sich heraus zu einer modernen Partei entwickeln würde. Einer der jungen Christdemokraten aus diesen Jahren hat mich in den letzten Jahren nahezu schwärmerisch an die Begegnungen mit Helmut Kohl erinnert – es war Enrico Letta, der der Partei notgedrungen den Rücken kehren und sein Glück auf der linken Seite des Parteienspektrums suchen musste!

Und doch hat sich Italien über die Jahre gehalten, Krisen immer wieder, wenn nicht gemeistert, so doch überwunden, ja „durchgemogelt“. Die Schuldenkrise ab 2007 führte das Land in echte Schwierigkeiten, und doch... Zugleich standen aber die italienischen Freunde in der europäischen Integration immer mit an der Spitze der Bewegung, sie waren, ob Linke oder Rechte grundsätzlich im Reflex pro-europäisch eingestellt. Erst mit Premierminister Berlusconi wurde das Verhältnis kühler, distanzierter – es standen sich auf einmal zwei schwer miteinander vereinbare Charaktere gegenüber. Mangels entschiedener Fortsetzung der Reformen wurde Italien mehr und mehr zu einem Sorgenfall für die Freunde in der Europäischen Union. Auch die Nachfolger Monti und Renzi mussten scheitern, das Parteiengefüge brach in sich zusammen. Es bleibt fraglich, ob das heutige Gefüge nach dem „Intermezzo“ mit zwei extremen und im Grunde kaum vereinbaren Bewegungen und der jetzigen Mitte-Links-Regierung durchhaltefähig sein kann und dreißig Jahre versäumter Reformen nachholen kann. Dies haben zuletzt die Debatten über die Verteilung der Gelder aus dem Post-Covid-Fonds der EU gezeigt. Rom hat leider nicht mehr Brüssel und Berlin als Sündenbock, sondern muss selbst entscheiden!

1 Rudolf Adam, Wie die Wertegemeinschaft ihre Glaubwürdigkeit verliert, Cicero vom 29. 01.2018

2 Siehe die anschauliche Statistik für 2018 in www.statista.com vom 29.10.2019

3 Hugo Young, This blessed plot – Britain and Europe from Churchill to Blair, London 1998, Seite 319/320

4 The Spectator vom 1. August 1992, S. 10-12

 

5 Andrew Roberts, the Aachen Memorandum, London, 1995

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