Buch lesen: «Still», Seite 4

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Der Keller ist acht mal sechs Meter groß und zweieinhalb Meter hoch. Der Boden besteht aus Beton, die Wände sind gekalkt. Hier unten sind die Sachen aus unserem alten Haus untergebracht – Kartons, Regale, Möbel.

Zwei Stunden lang trage ich die Sachen nach oben und verstaue sie im Gästezimmer. Die Kartons reichen bis zur Decke. Danach beginne ich mit der Isolierung des Kellers, das Material dafür steht in der Garage. Auch wenn ich glaube, daß es unnötig ist, befestige ich die Isolierplatten sogar an der Decke. Es ist ein alleinstehendes Haus. Zwischen den Nachbarn und mir liegen fünfzehn Meter, dennoch will ich keine Risiken eingehen. Ich versiegele die Fenster, die Wände bekommen einen abwaschbaren Weißanstrich. Langsam erinnert der Raum an das Innere eines Bunkers.

Ich befestige vier Strahler an der Decke. Im Boden ist ein Abfluß, ich lasse ihn offen, damit es später leichter ist, den Keller zu reinigen.

Zum Schluß packe ich die Utensilien aus. Ich habe in verschiedenen Sexshops eingekauft. An der einen Wandseite steht ein offener Schrank aus poliertem Metall. Ich bestücke die Fächer, entferne den Plüsch von den Handschellen und schaffe Ordnung – Gleitgel, Kondome, Viagra, Peitschen mit Metallenden, Peitschen mit Dornen, Knebel, Lederbänder, Schraubenzieher, Zangen. Nur das Schlafmittel nehme ich mit nach oben.

In den nächsten Tagen werde ich das Sortiment vervollständigen.

Es ist noch Zeit. Ich bin nicht in Eile. Der Winter hat eben erst begonnen. Es ist noch genug Zeit.

DU

Die Zeit hat für dich am Tag der Entführung aufgehört zu existieren. Die Zeit nahm die Vergangenheit und die Zukunft bei der Hand und ließ dich vierzehn Tage später allein und gestrandet in der Gegenwart zurück. Die Gegenwart war der Randstreifen einer Autobahn.

Erinnere dich, wie du dort gestanden hast und der Wind dich voranschob, als wollte er verhindern, daß du anfrierst. Deine Füße waren blutig und vier Zehen erfroren. Deine Zähne schlugen so heftig aufeinander, daß es schmerzhaft deine Wirbelsäule hinunterzog.

Und dazu der Schnee.

Er breitete sich vor dir aus wie ein weißes, frisch bezogenes Bett und lockte dich.

Laß dich fallen, komm schon.

Erinnerst du dich an diese Sehnsucht?

Du hast ihr nicht nachgegeben. Du bist weitergegangen, die Arme vor dem Bauch verschränkt, als würdest du eine Wunde verschließen. Die vorbeifahrenden Autos bespritzten dich mit Schneematsch, du bist nicht ausgewichen, du bist mit dem Wind gegangen und hast einen Fuß vor den anderen gesetzt, und niemand sah dich und kein Auto hielt. Du mußt es ihnen verzeihen, du warst kaum sichtbar in diesem dichten Schneetreiben, und wenn da nicht ein übermüdeter Lastwagenfahrer gewesen wäre, der nach einem Rastplatz Ausschau hielt, wer weiß, wie lange du noch gelaufen wärst.

Erst sah der Fahrer ein Schemen, dann hast du dich aus dem Schneesturm herausgeschält, und es war ein wenig, als würdest du eine unscharfe Filmszene verlassen – barfuß und nur mit einem knielangen T-Shirt bekleidet, deine Schulterblätter zeichneten sich wie zwei Messerklingen durch den nassen Stoff ab, die Haare waren vom Wind nach vorne geweht, so daß dein Gesicht dahinter verschwand. Dann war der Lastwagen an dir vorbei, und der Fahrer schaute in den Rückspiegel und sah nichts und rieb sich mit dem Handballen über die Augen und wußte, er hatte sich nicht getäuscht.

Die Autobahnpolizei brauchte eine gute Stunde, um bei dem Wetter zu der Stelle zu kommen, die der Lastwagenfahrer ihnen durchgegeben hatte. Sie fuhren den Randstreifen im Schrittempo ab und entdeckten dich nach drei Kilometern. Nachdem sie das Blaulicht eingeschaltet hatten, überholten sie dich und versperrten dir den Weg.

Du sahst sie nicht, die Haarsträhnen klebten auf deinem Gesicht und waren um Augen, Mund und Nase herum festgefroren, und so bist du blind in die Polizistin hineingelaufen. Es ging nicht mehr weiter, dein Körper kam zur Ruhe, deine Knie gaben nach, und du bist gefallen.

Die Polizistin reagierte instinktiv und fing deinen Sturz ab. Sie schloß die Arme um deinen mageren Körper und drückte dich an sich, so daß sich deine Füße vom Boden lösten.

– Kannst du mich verstehen? fragte sie, aber du hast ihr nicht geantwortet, auch als sie dein Gesicht sehen wollte, hast du den Kopf nicht gehoben, also sprach sie weiter beruhigend auf dich ein und verlagerte dein Gewicht auf ihre andere Hüfte, ehe sie sich vom Wind abwandte, um zum Wagen zurückzukehren. Sie wollte dich aus der Kälte in die Wärme bringen, sie wollte dir Sicherheit geben. Dein Knurren ließ sie erstarren, kurz darauf bohrten sich deine Zähne in ihren Hals.

Die Polizistin konnte nicht wissen, daß du zu dem Zeitpunkt schon lange kein Mädchen mehr warst. Du warst eine tollwütige Hündin, die niemandem vertraute.

Sie spürte den Ruck an ihrem Hals, das dicke Jackenfutter des Kragens rettete ihr das Leben. Die Polizistin versuchte Abstand zwischen euch zu schaffen, dabei fiel dein Haar zur Seite, und sie sah zum ersten Mal deine Augen. Der wilde Blick, die Leere und Wut darin. Sie hätte dich fallen lassen können, aber sie tat genau das Gegenteil, weil sie begriff, daß deine Wut nichts mit ihr zu tun hatte.

Du hast dich verteidigt, du hast um deine Freiheit gekämpft.

Ihr Kollege war auch aus dem Wagen gestiegen und wollte zu Hilfe kommen, die Polizistin sagte, er solle ihr aus dem Weg gehen, und drückte dich so fest an sich, daß dein Kopf zwischen ihrer Schulter und ihrem Kinn eingeklemmt war. Deine Zähne rissen am Jackenkragen, dein Knurren wurde lauter.

– Was tust du da? wollte ihr Kollege wissen.

– Mach die Hintertür auf.

– Aber---

– Mach auf, verdammt nochmal!

Er öffnete die Hintertür, die Polizistin duckte sich in den Wagen, ohne dabei auch nur eine Sekunde ihren Griff von dir zu lösen. Sie rutschte mit dir auf die Rückbank, und da saß sie dann halb liegend und hielt dich fest an sich gedrückt, während dein Knurren das Wageninnere füllte. Deine Zähne malmten, du dachtest nicht daran loszulassen. Es fühlte sich für dich an, als würde dich der Sturm davonreißen und an den Ort zurückbringen, von dem du geflohen bist, solltest du auch nur eine Sekunde loslassen.

All das geschah im Januar vor sieben Jahren. Zwei Wochen lang warst du verschwunden, und deine Eltern erkannten dich kaum wieder, als dein Photo im Fernsehen gezeigt wurde.

Da dich die Polizei auf der A9 in Fahrtrichtung Berlin aufgelesen hatte, suchte sie die Umgebung vom Fundort ausgehend in einem Umkreis von zehn Kilometern ab, klopfte an Türen und hoffte auf Augenzeugen. Keiner konnte sagen, wie lange du zu Fuß unterwegs gewesen bist, oder wie du die Kälte überleben konntest. So wie auch keiner sagen konnte, wo dein Bruder abgeblieben war. Nur du wußtest, daß die Suche nach ihm sinnlos war. Nichts und niemand konnte deinen Bruder retten, denn du hast ihn sterben sehen.

Eine Stunde nachdem sie dich auf der Autobahn gefunden hatten, warst du im Klinikum Potsdam. Die Polizistin blieb an deiner Seite, als dich eine Krankenschwester wusch und deine Wunden und Erfrierungen versorgte. Du hattest Kratzer am ganzen Körper und vier erfrorene Zehen, deine Augen waren entzündet, und da war ein tiefer Schnitt an deinem Knie und deiner Hüfte. Sie badeten dich, cremten deine Füße und Hände ein, danach gaben sie dir ein Beruhigungsmittel und legten dich in ein Bett. Als dein Kopf im Kissen versank, wollte sich die Polizistin abwenden und gehen, aber du hast nach ihrer Hand gegriffen und sie zurückgehalten. Die Müdigkeit machte jede deiner Bewegungen bleiern. Deine Stimme war ein Flüstern.

– Ich bin tot.

– Nein, du bist gerettet.

Da erst hast du der Müdigkeit nachgegeben und die Augen geschlossen.

Es sollten für lange Zeit deine letzten Worte sein.

Das Schluchzen deiner Mutter weckte dich am nächsten Morgen auf, die Stimme deines Vaters rief nach der Krankenschwester, der Schneefall wehte knisternd gegen das Fenster und erinnerte dich an die Nacht, in der sie deinen Bruder und dich geholt hatten.

Deine Eltern verstanden nicht, was hier passierte.

Du lagst nicht auf dem Krankenhausbett. Du hattest zusammengeknüllte Handtücher unter die Decke geschoben, aber wen wolltest du damit täuschen?

Zwei Pfleger zogen und zerrten dich unter dem Bett hervor. Deine Finger quietschten über den Boden. Du hast getreten und dich gewehrt, ohne ein Geräusch von dir zu geben. Du warst so still, daß es wie eine gespenstische Pantomime wirkte.

Als sie dich auf das Bett gelegt hatten, gaben sie dir ein Beruhigungsmittel. Deine Mutter sprach in ihr Handy, dein Vater hatte Tränen in den Augen, der Arzt sagte, es wäre besser, wenn sie gehen würden.

Deine Eltern dachten nicht daran.

Du konntest an ihren erschrockenen Gesichtern ablesen, daß sie sich vor dir fürchteten. Du warst ausgezehrt, du wirktest verrückt, und dein Blick verlor sich im Raum. Du warst nicht mehr ihre Lucia, sondern eine uralte Dreizehnjährige, die für zwei Wochen spurlos verschwunden war und sich danach im falschen Leben wiedergefunden hat. Sie sagten, sie wollten dich nach Hause holen. Sie sagten immer wieder, jetzt seiest du in Sicherheit. Ihre Worte öffneten keine Erinnerung. Nichts geschah. Woher sollten sie auch wissen, daß Worte keine Schlüssel sind und daß es für dich keinen sicheren Ort auf dieser Welt mehr gab.

ICH
1

Es gibt keine sicheren Orte. Wir geben uns Mühe. Wir errichten Wände, wir schließen Türen und Vorhänge. In den Nächten lauschen wir auf jedes Geräusch, am Tag wagen wir uns vor die Tür und schauen nach links und rechts, bevor wir die Straße überqueren. Wir sind mißtrauisch, wir sind vorsichtig, wir wissen es nicht anders, denn es gibt keine sicheren Orte. Es gibt aber Waffen und Wut, es gibt Gier und Lust, es gibt die Ungerechtigkeit und das Schicksal, das uns verlacht. Kein Ort ist sicher, und kein Zuhause bietet wirklich Schutz. Auch kein Bungalow mit einer hellblauen Eingangstür und einer funktionierenden Alarmanlage. Auf dem Klingelschild steht:

Achim & Rosa

Stefan & Marcel

Nach hinten raus liegt ein verschneiter Garten mit Schuppen und gemauertem Grill, die Büsche sind ordentlich gestutzt, alle Jalousien im Erdgeschoß runtergelassen.

Der Bewegungsmelder reagiert, als ich mich der Tür nähere, und ein Licht geht an.

Achim öffnet nach dem zweiten Klingeln. Er trägt einen Norwegerpullover, Jeans und Socken, er hat sich eine Schürze umgebunden und die Ärmel bis zu den Ellenbogen hochgeschoben. Franco hat nicht übertrieben, Achim hat es am schwersten. Er ist immerwährend müde und erschöpft, als würde sein Gewissen bis in die Träume hineinreichen und ihn nicht ruhen lassen.

– Ich nehm dir das mal ab, sagt er.

Ich reiche ihm mein Notebook, er klemmt es sich unter den Arm.

Achim ist der Kundschafter. Ohne ihn würden sich die anderen nicht orientieren können. Achim macht den ersten Schritt. Mit seiner handfesten Art und seinem Gespür für Schwäche. Sein Beruf ist ideal dafür. Satellitenanlagen sind gefragt, und Solartechnik wird immer erschwinglicher. Achim ist ein guter Berater, auch wenn man das auf den ersten Blick nicht glaubt. Er taut nur zögerlich auf, aber dann hält er einem die Treue und honoriert, daß man sich mit ihm die Mühe gemacht hat. Ich gebe mir Mühe und lächle. Achim bittet mich rein.

Seine Söhne sind sechs und neun. Er spricht nie über sie. Ihre Photos hängen im Flur. Zahnlücke und Sommersprossen. Sie übernachten heute bei Freunden, seine Frau ist bei ihrer Schwester.

– Wir haben sturmfreie Bude, sagt Achim und schließt die Haustür hinter mir ab.

Ich hänge meinen Mantel auf und streife die Stiefel ab. Es riecht nach Braten und Sauerkraut. Der Tisch im Wohnzimmer ist gedeckt.

– Setz dich doch.

Achim verschwindet in der Küche. Töpfe klappern, die Herdklappe geht auf, die Herdklappe geht zu, das Klimpern von Flaschen. Achim kommt zurück und reicht mir ein gekühltes Schnapsglas. Er setzt sich nicht, also stehe ich wieder auf.

– Prost, Mika!

– Prost, Achim!

Wir stoßen an. Der Wodka geht runter wie Öl. Der Schlag trifft mich so überraschend, daß mein Kopf zur Seite schnellt und mir Speichel und Wodka in einer glitzernden Bahn aus dem Mund fliegen. Das Glas rollt über den Boden. Meine Wange steht in Flammen. Bevor ich reagieren kann, hat mich Achim am Hemd gepackt und zu sich herangezogen. Ich bin zehn Zentimeter größer als er und schaue auf ihn runter. Die Worte kommen gepreßt zwischen seinen Zähnen hervor.

– Jetzt reden wir mal Tacheles. Wie hast du uns gefunden?

– Ich … Zufall …

Er macht drei Schritte nach vorne und trägt mich vor sich her, als hätte ich kein Gewicht, dann rammt er meinen Rücken gegen die Wand. Einmal, zweimal. Mein Kinn trifft auf seinen kahlen Schädel, meine Zähne knirschen aufeinander, die Bulldogge schüttelt mich durch.

– Ich frag dich nochmal: Wie hast du uns gefunden?!

– Ich sagte doch …

Seine Hände lösen sich von meinem Hemd, für eine Sekunde denke ich, ich habe es überstanden, da hämmert er mir auch schon in den Magen, eine Kombination von vier Schlägen, rechts, links, rechts, links. Achim hat in seiner Jugend geboxt. Amateurliga. Aber seine Knochen waren zu fein, hat er uns erklärt und dabei bedauernd auf seine Hände runtergeschaut, als hätten sie ihn verraten. Jetzt fühlen sich seine Fäuste an, als wären sie aus Granit. Mein Solarplexus implodiert, mir wird schwarz vor Augen. Ehe ich zusammensacken kann, hat er mich wieder gegen die Wand gedrückt. Es sind keine fünf Sekunden vergangen, ich schmecke Galle, ich muß würgen und schnappe nach Luft.

– Mika, sprich mit mir.

– Ich …

Er wartet, ich atme, er wartet, ich erzähle es ihm.

2

Mein Kontaktmann war Pero Kostrin, und mir ist nie ganz klargeworden, ob er Kroate oder Serbe ist. Er behauptete, beides zu sein, denn das wäre sicherer. Unser erstes Zusammentreffen ist über ein Jahr her. Ich hatte da die Verwandlung zu Mika Stellar schon vollführt, fühlte mich aber noch fremd in meiner falschen Haut. Einen Monat lang habe ich jeden Nachmittag mit Pero verbracht. Ich hatte nur diese eine Chance und durfte sie nicht verspielen. Die Zeit lief, der nächste Winter stand bevor.

Unser Zusammensein hat mich dreitausend Euro gekostet.

Auf diese Weise habe ich sie gefunden.

Pero ist zweiundfünfzig Jahre alt und arbeitet bei der Stadtreinigung. Sein Name taucht in den Chats immer wieder auf. Kein Nickname, sondern sein wahrer Name, denn Pero hat nichts zu verbergen. Auch wenn viele sich outen wollen, besitzt kaum einer den Mumm dazu. Pero dagegen hat sich preisgegeben und galt in der Szene als Held, weil er freiwillig im Gefängnis saß. Er hat es für seinen Mentor getan. Nach dreieinhalb Jahren wurde er als therapiert entlassen.

Pero ißt nach der Arbeit am U-Bahnhof Ruhleben immer an derselben Imbißbude – weiße Stehtische, gelbe Sonnenschirme, rote Aschenbecher aus Plastik. Ich stellte mich zu ihm. Ein Blick genügte. Er sah mich an, er sah weg. Ich aß meine Boulette, er seinen Leberkäse. Die Tische draußen waren alle mit Rauchern besetzt. Ein Mann wollte sich zu uns stellen. Pero sagte ihm, der Platz wäre nicht frei. Wir blieben allein. Pero trank sein Bier, ich meine Cola. Als wir fertig waren, schaute er zum U-Bahneingang. Ich ließ ihn vorgehen und folgte nach einigen Minuten.

Der Bahnsteig liegt oberirdisch, und man schaut auf die Charlottenburger Chaussee hinunter. Eine U-Bahn kam und fuhr wieder ab. Pero wartete am Ende des Bahnsteigs auf einer Bank. Ich setzte mich neben ihn.

– Mein Name ist Mika, sagte ich, Du bist Pero, nicht wahr?

– Scheiße, sagte Pero und schwieg. Auch wenn er für alle sichtbar war, hieß das noch lange nicht, daß er gefunden werden wollte. Heldentum hin oder her, die Gefahr lauert überall. Pero sieht sich als Opfer. Da er keine Chance mehr hat, unter dem Radar zu leben, zeigt er sich. Dafür wird er respektiert.

Eine U-Bahn fuhr ein und fuhr wieder ab.

Pero wischt sich die feuchten Hände an der Hose ab.

– Ich verkehre nicht mehr in diesen Kreisen, sagte er, Ich bin raus.

Wir wußten beide, daß es kein raus gibt. Er sagte es, weil er es sagen mußte. Es gehört zur Etikette. Falls jemand zuhört, der nicht zuhören sollte. Pero ist seit fünf Monaten auf Bewährung draußen, er hat Auflagen zu erfüllen, er muß Abstand halten zu Gleichgesinnten.

– Ich will nicht in den Kreis, sagte ich.

Sein Lächeln hatte Kanten.

– Was willst du dann?

Ich antwortete nicht, ich hielt seinem Blick stand, er sah mich lange an, schaute dann den Bahnsteig hinunter und stand auf.

Eine U-Bahn fuhr ein und fuhr wieder ab.

Ich blieb allein zurück.

Am nächsten Tag erwartete ich Pero wieder nach der Arbeit. Es war ein Vorgeschmack auf den Pub. Geduld. Dieses Mal lud ich ihn ein. Currywurst mit Pommes und dazu ein Bier. Er war zufrieden, wir aßen, wir schwiegen, ich bestellte ein zweites Bier für ihn. Zehn Minuten später saßen wir auf dem Bahnsteig und betrachteten die Charlottenburger Chaussee, als wäre sie ein zäher Fluß, auf dem die Autos dahintrieben. Pero sagte, er könnte sich an meine Besuche gewöhnen. Er rieb die Fingerspitzen aneinander. Ich steckte ihm zweihundert Euro zu und bat ihn, von sich zu erzählen.

– Von Anfang an?

– Von Anfang an.

Ein leichter Nieselregen kam auf die Stadt herunter. Der Fluß kam ins Stocken. Eine Baustelle vor dem Bahnhofseingang sorgte für einen Stau, und natürlich war kein einziger Bauarbeiter zu sehen. Wagen hupten, Wagen drängelten. Sie wollten zu Ikea, sie wollten zum Baumarkt, sie wollten nach Hause. Ich sah ihnen dabei zu, während Peros Stimme mich an das Geräusch eines Kreisels erinnerte, kurz bevor er austrudelt und umkippt. Seine Worte waren hastig geflüstert. Er sprach von seiner ersten Liebe, dem Sohn eines Freundes. Damals war Pero Anfang zwanzig. Ein Jahr lang lief es problemlos. Er paßte am Wochenende auf den Jungen auf und ließ ihn bei sich übernachten, es war das übliche Programm. Pero kannte die Familie und war ein alter Freund. Er hatte immer Zeit, und so sparten sich die Eltern einen Babysitter. Wozu sind Freunde da? Sie bemerkten zwar die Veränderungen an ihrem Sohn – die Launen, das Schweigen, die überraschenden Wutausbrüche – sahen aber keine Verbindung zu ihrem guten Freund Pero. Ein Psychologe wurde zu Rate gezogen, ein Feriencamp im Sommer geplant. Erst als die Mutter einen Blutfleck in der Unterwäsche des Jungen entdeckte, kam es heraus. Der Vater brach Pero den rechten Arm und schlug ihm die Vorderzähne aus, erstattete aber keine Anzeige. Scham und Schande. Pero kam glimpflich davon. Er bereute keine Minute.

– Wie alt war der Junge? fragte ich.

– Fünf. Niemals werde ich den Kleinen vergessen. Ein Jahr habe ich nur für ihn gelebt. Nur für ihn! Das war es wert. Haut wie ein Pfirsich, Arsch wie ein Apfel, erste Liebe und so, verstehst du?

Plötzlich sah er mich abschätzend an, ich war ein offenes Fenster und er durfte reinschauen. Er brauchte nicht lange zu suchen.

– Scheiße, bist du ein Frischling?!

Er lachte, stieß mich mit der Schulter an.

– Alter, du bist eine verdammte Jungfrau!

Ich lächelte verlegen. Er hatte recht. Ich war eine verdammte Jungfrau.

Nach der ersten Woche holte ich Pero mit dem Auto ab. Das gefiel ihm sehr. Ich war sein Chauffeur, sammelte Geschichten und zahlte gut. Er sprach von der Szene und den Auf und Abs in seinem Leben, er lamentierte über das Elend, immer auf der Suche zu sein, und natürlich erzählte er auch von dem Hunger, der ihn antrieb. Wir fuhren im Schrittempo an Spielplätzen vorbei und er sagte, wo ich halten sollte. Wehmütige Erinnerungen stiegen in ihm auf. Manchmal saß er zwei, drei Minuten einfach nur da, schaute aus dem Wagen und tippte dabei mit einem Fingernagel gegen seine künstlichen Vorderzähne. Manchmal kamen ihm die Tränen.

– Sehnsucht, sagte er, Diese verfluchte Sehnsucht bringt mich irgendwann noch um.

Eines Tages hielten wir vor einer Eisdiele, und er zeigte mir seine neue Liebe. Der Junge hielt die Hand seiner älteren Schwester. Das Mädchen interessierte Pero nicht, sie hätte genauso gut unsichtbar sein können. Der Junge war sechs. Pero verriet mir seinen Namen. Er sagte: »Ich bin treu. Wenn ich verliebt bin, sehe ich keinen anderen an. Das ist wahre Liebe.« Er sagte auch: »Aber ich muß vorsichtig sein. Der Junge wird meine Nummer 9. Ich will das Glück ja nicht herausfordern. Bald feiere ich Jubiläum. Die Nummer 10 muß was ganz Besonderes sein.«

Nach vier Wochen hatte ich alles erfahren, was ich erfahren wollte, und stellte ihm die letzte Frage. Er war überrascht.

– Wozu willst du das denn wissen?

– Ich will verstehen, wie du sowas tun konntest.

Er dachte nach, als hätte er sich noch nie den Kopf darüber zerbrochen, wieso er dreieinhalb Jahre freiwillig hinter Gittern verbracht hat. Als er sprach, war seine Stimme belegt – Emotionen, Ehrfurcht, eine Prise Stolz.

– Wenn du in dieser Welt überleben willst, brauchst du einen Mentor, der dich leitet, der dir sagt, wie die Dinge sind, verstehst du? Einen, der dir erklärt, was geht und was nicht geht. Für deinen Mentor tust du dann alles, denn er ist es, der dir die Augen geöffnet hat. Du beginnst, die Welt als das zu sehen, was sie ist: Keine Illusionen mehr. All das Leiden und der Schmerz machen dich plötzlich zufrieden, verstehst du? Und das sollte das höchste Ziel eines jeden Menschen sein – Zufriedenheit. Ohne Zufriedenheit, existieren wir einfach nur. Deswegen war ich im Knast, verstehst du? Ich war zufrieden damit, die Strafe für meinen Mentor abzusitzen. Ich würde es sofort wieder tun. Mein Leben hat einen Sinn, weil er ihm einen Sinn gegeben hat.

– Und was war danach?

Er sagte, danach wäre der Kontakt abgebrochen.

– Mein Mentor hat sich verändert, sagte er, Er geht jetzt neue Wege.

Ich glaubte ihm. Alles findet ein Ende. Der Mentor ging neue Wege.

Bei unserem letzten Treffen saßen wir wieder auf der Bank, die U-Bahn fuhr ein, die U-Bahn fuhr ab. Plötzlich beugte sich Pero zu mir rüber. Sein Mund war nahe an meinem Ohr. Die Wärme seines Atems. Er nannte mir den Namen des Pubs. Er ließ mich wissen, daß ich den Mentor nicht suchen könne.

– Geh dorthin, sieh dich um, sei geduldig, verstehst du?

Wir beobachteten den Verkehr. Pero wartete auf eine Antwort. Ich sagte, ich hätte verstanden. Wir verabschiedeten uns nicht. Er stieg in die nächste U-Bahn und sah sich nicht nach mir um; ich nahm den Blick keine Sekunde von ihm. Die Türen schlossen sich. Die U-Bahn fuhr ab. Ich saß noch eine Weile da und beobachtete weiter die Charlottenburger Chaussee und wunderte mich, wie das Leben einfach so weitergehen konnte – ein Baum stürzt im Wald um, und niemand bekommt es mit.

Der kostenlose Auszug ist beendet.

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