Buch lesen: «Attempto»
Für meine Mutter, die immer an mich geglaubt hat.
Wolfgang Seraphim: Attempto – Abenteuer leben
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Fotos: Privatarchiv Christel Neudeck
(S. 226-227, Umschlag, Umschlagklappe hinten), Privatarchiv Wolfgang Seraphim (S. 224-225, Umschlagklappe vorne)
Lektorat: Gereon Wiesehöfer
Satz: Klaus Eichberger
Titelgestaltung: Tania Stuchl, design@stuchl.de
ISBN: 978-3-95457-218-2
eISBN: 978-3-95457-221-2
2. Auflage 2020
Attempto – Abenteuer leben
Teil einer biografischen Geschichte von
Dr. Wolfgang Seraphim
Mit einem Vorwort von Christel Neudeck
Vorwort von Christel Neudeck
Mein erstes Telefonat mit Wolfgang Seraphim 1979 war einprägend; ich habe es nie vergessen. Nach der ersten Fahrt der Cap Anamur wurde dieses Unternehmen als Kinderkreuzzug dargestellt. Rupert war in Singapur, ich hier zu Hause vor dem Fernseher. Ich erwartete eine Flut von Anrufern, die ihre Spende zurückforderten. Der erste Anrufer hieß Seraphim und sagte, wir sollten uns nicht irritieren lassen, wir sollten weiterarbeiten und er sei dabei. Das erschien mir mit diesem Namen wie eine Botschaft des Himmels.
In den folgenden Jahren wurden Irmela und Wolfgang Seraphim unverzichtbar. Sie stehen für die vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ohne die wir in keinem Projekt erfolgreich hätten sein können.
Wolfgang ist keiner, der aufgibt. Nur selten verlassen ihn Humor und Optimismus. Schon als Kind antwortete er seiner Mutter, die ihm drohte, bei so schlechten schulischen Leistungen könne er nur Schweinehirt werden: Können es auch Gänse sein? Er sucht und findet Lösungen für scheinbar unlösbare Fragen. Vielleicht macht es ihm gerade dann Freude, wenn die Lösungen nicht auf der Straße liegen und seine Kreativität gefragt ist?
Albert Schweitzer sprach von der Schlafkrankheit, die nicht nur den Körper, sondern auch die Seele befallen könne: „Wie ihr die geringste Gleichgültigkeit an euch merkt und gewahr werdet, wie ein gewisser Ernst, eine Sehnsucht, eine Begeisterungsfähigkeit in euch abnimmt, dann müsst ihr über euch erschrecken und euch klarwerden, dass das davon kommt, dass eure Seele Schaden gelitten.“ Wolfgang Seraphim ist nicht in der Gefahr, an der Schlafkrankheit der Seele zu leiden.
Ich wünsche seinem Buch Leser, die sich von seinem Inhalt inspirieren und ermutigen lassen.
Inhaltsverzeichnis
1936
Des einen Tod – des anderen Leben
1897 - 1927
Woraus der Spross entsprungen – die Wurzeln der Eltern
1936 - 1945
Eine traumhaft schöne Kindheit
Im Reich des Vaters – Tücken der Haushaltsführung
Letzte Jahre in Schlesien
Die Schatten des Krieges
1945
Auf der Flucht
Willkommen in Schwaben
Ferien auf dem Bauernhof
1945 - 1947
Zur Großmutter nach Esslingen oder Paradies ade – Hunger tut weh
1947 - 1953
Das Gymnasium – Via dolorosa: „Wolfgang ist fleißig, aber dumm“
Nach der Währungsreform – was Form gab
1953 - 1956
Wechsel aufs Wirtschaftsgymnasium – Tor zur Universität
1956 - 1959
Alma Mater Tubingensis – ein neuer Lebensabschnitt
Ein Kessel Buntes – auf dem Weg zum Physikum
Atemlos durch Paris
1959 - 1960
Mens sana in corpore sano – wieviel Chemie braucht der Mensch?
Tübinger Abgesang – Aufbruch nach Kiel
Kiel – zwischen Segelboot und Hörsaal
Nicht überall, wo Arzt draufsteht, ist Rettung drin
Ein klinisches Wintersemester
Irmela – ein Stern wird geboren
1960 - 1962
Vor dem Staatsexamen – Kurztrip nach Wien
1962 - 1964
Auf Freiers Füßen – in Bochum
Als Medizinalassistent – Chirurgische Abteilung
Als Medizinalassistent – Frauenklinik
Von eiskalten Flitterwochen – zum Medizinalassistenten der Inn. Abt.
1964 - 1968
In Göppingen zum Facharzt für Innere Medizin mit Teilradiologie
Reisen sind die Heimat des Zufalls
1968 - 1970
Von Göppingen nach Stuttgart – Tempel der Gastroenterologie
In der Krise: Aller Nächte Sehnsucht – von der Klinik zu eigener Praxis
1971 - 1978
Aalen-Wasseralfingen – Einstieg in die eigene Praxis
Die Pharmaindustrie – Fluch und Segen einer mächtigen Institution
In der Praxis – ein Kessel Buntes
1978/1980
Das Leben im Hamsterrad
1979
Der Flüchtling von einst – auf dem Weg zum Flüchtling der Gegenwart
Auf den Planken der „Cap Anamur“ – Kambodscha im Blick
Auf der „Cap Anamur“
Die Helfer im Fadenkreuz nationaler Egoismen
Adieu „Cap Anamur“ – denkwürdiger Empfang im Hyatt Regency Singapur
Irmelas Rückblick auf Kambodscha
1980/1982
Zurück in Deutschland – Praxisalltag und Werbung für Neudeck
Aufbruch zu neuen Ufern – Ogadenflüchtlinge im Norden Somalias
Versuch spiritueller Nachbereitung – das „G“-Thema, eine „no go area“?
Öffentlichkeitsarbeit nach Somalia – Rendezvous mit DIE ZEIT
Wanderausstellung „Komitee Cap Anamur“
Brunnenbau in Somalia
Unser Somaliaeinsatz und sein Ende
Ausblick: Wie ging es weiter?
Epilog
Lebenslauf von Wolfgang Seraphim
Fotos aus seinem Leben
„Nicht was wir gelebt haben, ist das Leben, sondern das, was wir erinnern und wie wir es erinnern, um davon zu erzählen.“
Gabriel Garcia Márquez
1936
Des einen Tod – des anderen Leben
„Lasst vergehen, was vergeht! / Es vergeht, um wiederzukehren, / es altert, um sich zu verjüngen, / es trennt sich, um sich inniger zu vereinigen, / es stirbt, um lebendiger zu werden“
(Friedrich Hölderlin)
Auf dem Grab ein Marmorkreuz: Klaus Seraphim, 1931 – 1935. Die Zunge wandert unkontrolliert über die Oberlippe, während die Kindergießkanne letzte Tropfen über verwelktes Grün verblühter Schneeglöckchen verteilt. Überzeugt von der Wichtigkeit der soeben beendeten Arbeit atmet der kleine Junge tief durch, gewinnt wieder Aufmerksamkeit für sein Umfeld. „Wölfchen, nun komm endlich!“ In der Stimme der Mutter mischt sich aufsteigender Ärger mit Ungeduld. Der ungewohnte Ton lässt den dreijährigen Sohn aufhorchen. Mit kräftigem Ruck wendet er sich der Mutter zu. Die kleinen Beinchen wirbeln über den Friedhofsweg, kommen ins Stolpern. Im Fallen bohrt sich die Tülle der Gießkanne in die Stirn und ritzt ein kleines, spiegelverkehrtes L in seine Haut. Er rappelt sich auf, überwindet die letzten Meter und verbirgt den Kopf im Schoß der Mutter, die zutiefst erschrocken den Arm um ihn legt, als könne sie noch nachträglich Schutz gewähren. Nicht auszudenken, wenn die Spitze um wenige Zentimeter den Kopf in Richtung eines Auges getroffen hätte. Doch derlei Überlegungen berühren ihn nicht. Er fühlt die ganze Wärme der Mutterliebe, eingebettet in ein Urvertrauen, in dem er sich geborgen weiß. Er kennt dieses Gefühl seit jenem 10. September 1936, als ihn sein Vater, Landarzt in Schlesien, in der kleinen Kreisstadt Freystadt, nach von ihm selbst durchgeführter Hausentbindung, seiner Frau Lydia in die Arme legte.
Es war die vierte Entbindung der Mutter. Zuvor kam ihr Sohn Ernst-Johann, kurz darauf die Tochter Margarete zur Welt – beides Hausentbindungen des Vaters. Der Dritte, Kläuschen, wurde – warum auch immer – im November 1931 im 14 km entfernten Krankenhaus in Neusalz entbunden. Er starb am 18.2.35 im Krankenhaus in Grünberg an den Folgen einer tuberkulösen Hirnhautentzündung. Für die Eltern war klar: Sie wollten unbedingt wieder ein drittes Kind. Diesem Wunsch – ausgelöst durch den Tod des kleinen Bruders – verdankt Wolfgang sein Leben.
Schon der Eintritt in das irdische Dasein dokumentiert einen vorauseilenden Gehorsam gegenüber den Eltern, der ihn in seiner Kindheit nur selten verlassen sollte: Artig begrüßt er pünktlich um 7:45 Uhr – 15 Minuten ehe einen Stock tiefer die Sprechstunde des Vaters beginnt – mit kräftigem Schrei das Licht der Welt in den fürsorglichen Armen des Vaters. Zuvor hatte dieser gegen 7:30 Uhr mit sorgenvollem Blick registriert, dass der Sprössling noch keine Eile erkennen ließ, den Sprung aus der Wärme mütterlicher Geborgenheit in die kalte Umwelt zu wagen.
Fast alle Märchen beginnen mit einem traumatischen Ereignis. Der märchenhafte Vorgang einer Geburt macht da keine Ausnahme. Neues Leben beginnt mit dem Verlassen der Komfortzone. Mit der Durchtrennung der Nabelschnur beginnt erstmals, was zukünftig permanent auf uns alle zukommt: das Abschiednehmen. Ein Sich-trennen-Können, auch von Dingen, die uns vertraut und lieb geworden sind. Wenn wir genügend Zeit hatten, klug zu werden, fällt uns der letzte Akkord des Lebens, das Sterben, nicht mehr schwer. Seneca: „Das ganze Leben lang muss man lernen zu leben, das ganze Leben lang muss man lernen zu sterben.“
Dem Vater bleibt noch genügend Zeit für eine eingehende Begutachtung des kleinen Bündels quicklebendigen Lebens vor Beginn seiner Praxis. Bei dem neuen Erdenbürger sitzt alles an der richtigen Stelle und erfüllt somit seine göttliche Ordnung. Mit diesem erfreulichen Befund landet der Junge vom stolzen Vater in den Armen einer glücklichen Mutter.
Dieses Kind Wolfgang, das war ich.
1897 – 1927
Woraus der Spross entsprungen – die Wurzeln der Eltern
Wie sehen die Wurzeln dieser Ordnung aus, in die ich da hineingeboren wurde?
Mein Vater, Hellmut, ist der älteste von drei Brüdern, deren Vater – einer durch Generationen gepflegten Tradition treu geblieben – Jurist war. Der hatte ab 1890 eine angesehene Rechtsanwaltspraxis in Mitau, (russisches Protektorat). Er verwaltete unter anderem das Vermögen großer Rittergutsbesitzer wie den Barrings. Ab 1902 wechselte er nach Königsberg, wiederholte seine juristischen Examina, um seine Söhne davor zu bewahren, bei einer drohenden kriegerischen Auseinandersetzung im russischen Militär gegen Deutschland kämpfen zu müssen. Er muss ein bedeutender Mensch gewesen sein, dieser Großvater. Als er in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts starb, folgten seinem Sarg fünf Tausend Trauergäste – so wenigstens der Bericht einer Königsberger Zeitung. Der Kommentator konnte sich auch nicht verkneifen anzumerken, dass dem Verstorbenen die zahlreichen Lobeshymnen an seinem Grab zutiefst zuwider gewesen wären. Dem Großvater war auf jeden Fall immer ein Kummer, dass ausgerechnet sein ältester Sohn Hellmut keinen Gefallen an der Juristerei fand. Er studierte Medizin, nachdem er als Kriegsfreiwilliger im Ersten Weltkrieg in Flandern das Sterben an der Front, den Mangel an qualifizierten Ärzten, erlebt hatte. Der Krieg als „Vater aller Dinge“ prägte seinen Berufswunsch, der Krieg beendete sein Leben. Als er 1941 bei Kiew zwei Sanitätern zu Hilfe eilen wollte, die verletzt wimmernd vor Schmerzen im Niemandsland zwischen den Fronten lagen, wurde er von russischen Scharfschützen tödlich getroffen. Er selbst hatte nie eine Waffe auf einen Menschen gerichtet. Er konnte nicht einmal ein Tier erschießen.
Auf zahlreichen Wanderungen, z. B. in den Semesterferien, bewies Hellmut – wohl von der Mutter geerbt – dichterisches Talent. Als ihnen unterwegs das Geld ausgeht, textet er in einem Telegramm an den Vater: „Sie denken arglos wie sie sind, es sorgt der Vater für das Kind.“ In dem Gästebuch einer Jugendherberge an einem masurischen See fand sich ein längeres Gedicht aus seiner Feder mit dem wunderbaren Refrain: „Drum lieber Freund, mach’s wie die Heil’gen, die Heil’gen Drei vom heil’gen See, trink jeden Morgen Schnaps statt Kaffee, trink jeden Abend Wein statt Tee.“ Ein dezenter Hinweis auf das keineswegs alkoholfeindliche Ostpreußen, wo bei Einladungen an geistigen Getränken nicht gespart wurde. Im Hause des Großvaters wurde nach dem obligatorischen Toast „auf das Wohl seiner Majestät des Kaisers“ das Glas erhoben, um „auf Alle, die wir lieben“ anzustoßen.
Wie aus einer anderen Welt, die Herkunft der Mutter. Keineswegs ärmliche, aber doch vergleichsweise bescheidene Verhältnisse, mit Wurzeln auf der Schwäbischen Alb. Da hatten die Tochter der Wirtin vom „Gasthaus zum Rößle“ aus Berghülen und ein Schirrmeister der Ulanen in Ulm zueinander gefunden. Von ihren Ersparnissen erwarben sie im Ruhestand ein schmuckes kleines Reihenhaus mit Garten in Esslingen am Neckar. Sie drängten bei ihrer Tochter auf eine abgeschlossene Berufsausbildung als Hauswirtschaftslehrerin, zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in diesem Umfeld bemerkenswert fortschrittlich. Eben typisch schwäbisch, solide, praktisch.
Wie haben diese zwei Welten zueinander gefunden? Mutter und Vater folgten den gemeinsamen jugendbewegten Idealen, wie sie sich zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts im „Wandervogel“ dokumentierte. Dessen geistiger Vater, Johannes Müller, Kristallisationspunkt, um den sich mehr oder weniger Gleichgesinnte scharten. In sogenannten „Nestabenden“ philosophierten sie über Gott und die Welt, pflegten das Volkslied mit der Klampfe, den Volkstanz in der Tracht. Unternahmen über Wochenende oder Ferien gemeinsame Wanderungen mit Lagerfeuer und spartanisch-einfachen Hüttenübernachtungen. Einem on dit zufolge ging es dabei gemäß dem strengen Codex des „Wandervogels“ sehr gesittet zu.
Es war ein Wandervogeltreffen Anfang der zwanziger Jahre in Stuttgart, das die Eltern erstmals zusammen brachte. Pikanterweise verliebten sich alle drei Brüder in das Mädchen vom Lande. Bisher noch ohne festen Freund, von amourösen Abenteuern ganz zu schweigen, ereilte sie so viel geballte Zuwendung recht unvermittelt. Die drei Verehrer wurden gemeinsam in das elterliche Domizil eingeladen, auf dass der Ratlosigkeit der Unschuld vom Lande Abhilfe zuteilwerde. Für sie entwickelte sich Hellmut, der älteste und Mediziner, zum Favoriten, vor dem Juristen und dem Historiker. Praktischerweise wurde sie mit ihrer Wahl von der Mutter bestärkt, die sich für ihre Tochter „auch nur den Hellmut“ vorstellen mochte. Roma locuta, causa finita!
Hellmut steuerte zu dieser Zeit, noch im Stocherkahn seine Hausbesuche absolvierend, über die idyllische Seenplatte von Masuren. Seine Entlohnung, bei der nicht mit Reichtümern gesegneten Landbevölkerung meist in Naturalien gewährt, ließ die Zusammenstellung des täglichen Speiseplans leichter bewerkstelligen als die Bereitstellung der morgendlichen Kleiderordnung. Er löste die Verlobung mit einer schwarzhaarigen ostpreußischen Schönheit, heiratete seine Lydia – Kosename Lylein – und entschied sich für eine Existenzgründung als niedergelassener Landarzt im niederschlesischen Freystadt. Diese verträumte kleine Kreisstadt mit noch nicht einmal siebentausend Einwohnern, war nicht mit besonderen Attraktionen gesegnet. Auch wenn es über altes Gemäuer verfügte, das sich Schloss und Kloster nannte. Aber es barg in seinen Mauern immerhin eine Schule, ein Kino, eine Apotheke, Konditorei und Friseur. Gesellschaftlich tonangebend waren in dieser kleinstädtischen Idylle ein Regierungsrat vom Landratsamt, ein Zahnarzt, Apotheker und Schulrektor Wehner, der sich gemeinsam mit dem Landarzt Seraphim eine Doppelhaushälfte in der weder gepflasterten noch geteerten Hessestraße teilte.
1936 – 1945
Eine traumhaft schöne Kindheit
„Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was drin war. Aber ein ganzes Leben rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider oder auch Kostüme wechseln, wie er will.“
(Heimito von Doderer)
Es war eine goldene Kindheit, in die ich mit meinen Geschwistern hineingeboren wurde. Fern und noch nicht zu erkennen die dunklen Wolken, die am Himmel der Geschichte aufziehen sollten. Keimzelle dieser Kindheit die stets gegenwärtige elterliche Fürsorge mit allen nur erdenklichen Freiräumen. Schwerpunktmäßig angesiedelt zwischen der Spielstraße vor dem elterlichen Haus und dem dahinter gelegenen traumhaft schönen Garten. Er bot Platz für ein wahres Blumenmeer, in das man von einer oft als Frühstücksterrasse genutzten Fläche nach mehreren Stufen eintauchen konnte. Über die Treppe wölbte sich girlandenförmig eine Rabatte aus weißen und roten Rosen – würdiger Einstieg in ein Paradies aus Rittersporn, Flox, tränenden Herzen, Glockenblumen, edlen Rosen und einer Fliederlaube. Sie wurde, vorwiegend an Feiertagen, zur festlich eingedeckten Kaffeetafel am Nachmittag genutzt. Hochwüchsige Gräser lockerten die Gesamtansicht auf und gaben dem Garten eine zusätzlich edle Note. Auch ein kleiner Kräutergarten für die eigene Küche durfte nicht fehlen. Daneben, auf kleinem Areal, Platz für ein Beet, auf dem die Kinder spielerisch lernen konnten, dass der täglich reich gedeckte Tisch kein Resultat schlaraffenland-ähnlicher Verhältnisse, sondern Frucht kontinuierlicher Arbeit war.
Gut in Erinnerung ein Beet mit Zuckerschoten, das ich zu Kurzausflügen zwecks kleiner Zwischenmahlzeit aufsuchte. Obendrein genutzt als kleine grüne Oase, hinter der ich mich gerne versteckte, um die suchende Mutter zu necken.
Traumhaft die zahlreichen Obstbäume – Äpfel, Birnen, Kirschen, Pfirsiche, Pflaumen, Renekloden. Deren Äste mussten oft gestützt werden, um sie unter der Last ihrer Früchte vor dem Abbruch zu bewahren. Eine Hängematte schaukelte zwischen zwei Sauerkirschbäumen. Neben dieser Obstbaum-Idylle ein gemauertes Planschbecken, dem sich ein großer Sandhaufen anschloss. Diese Kombination animierte nicht nur zur Konstruktion stolzer Sandburgen und vielfältiger sandgeformter Konditoreiwaren. Noch aus früherer Bauzeit übrig gebliebene Tonröhren eigneten sich prächtig zur Durchleitung eines Wasserlaufes mitten durch den Sandhaufen. Auf anschließendem Rasenplatz konnte man sich müde toben – mit und ohne Ball. Zum Beispiel nach dem Abendbrot beim Spiel „Wer fürchtet sich vor dem schwarzen Mann?“, ehe es hieß: Fertig machen zum Schlafengehen!
Wen wundert es, dass sich hier, wann immer es die Witterung zuließ, alle Kinder aus der Nachbarschaft einfanden? Zumal die Mutter zur Halbzeit zwischen Frühstück und Mittagessen mit einer großen Schüssel mundgerecht zugeschnittener Obststücke und belegten Broten aufkreuzte. Früher einmal vor dem Essen von der Mutter angeordnete Reinigungsprozeduren wurden vom Vater mit der lakonischen Bemerkung: „Lass mal, Dreck reinigt den Magen“ zur Freude der Kinder stark eingeschränkt. Das war zwar pädagogisch im Sinne von Pestalozzi sicher nicht sehr glücklich, hob aber bei der Kinderschar das Ansehen des väterlichen Arztes ganz ungemein. Dabei sei dahingestellt, wie tragfähig unter medizinischem Aspekt diese Aussage zu bewerten ist. Ganz sicher verbirgt sich hinter dieser großzügigen Auslegung der Reinlichkeit aber, als nicht zu unterschätzender Nebeneffekt, eine Stärkung des Autoimmunsystems. Ein Begriff, den es damals noch nicht gab und von dessen Existenz im menschlichen Organismus vermutlich der eine oder andere Naturwissenschaftler höchstens etwas ahnte.
In diesem fast täglich stattfindenden Kindergarten gab es keinerlei soziale Tabus. Neben Rosel, der Tochter des Rektors, kamen unter anderem die Neumeier-Kinder aus dem mehrstöckigen Reihenhaus, in dem sie in drangvoller Enge zusammen lebten. Noch gut in Erinnerung die mit ihnen geführten heftigen Diskussionen um die schwerwiegende Frage, ob es einen Osterhasen oder Weihnachtsmann gibt. Salomonisch einigte man sich dahingehend, dass sie diese nicht kennen, weil er nicht zu ihnen kommt. Für kindliche Logik ausreichend schlüssig. Für den Pädagogen eine Bestätigung der sattsam bekannten Tatsache, dass Kinder ärmerer Bevölkerungsschichten entwicklungsmäßig weiter sind als Gleichaltrige aus begüterten Familien.
Nachdem die Mutter die Zeit für gekommen hielt, größere Geschäfte von der Windel in den Topf zu verlagern, starteten meine ersten „Thronbesteigungen“. Allzu viel Mühe war dabei nicht vonnöten. Schließlich wurde jedes im Topf vorzeigbare Resultat, neben Ausrufen der Begeisterung und des Lobes seitens der Mutter, zusätzlich mit einem Stückchen Schokolade belohnt. Letzteres führte schon nach wenigen Tagen dazu, listigerweise die geruchsintensiveren Produkte in kleinste Einheiten zu portionieren. Jeweils in froher Erwartung: Stück für Stück ein Stückchen Schokolade. Leider zeigte sich aber schon nach kurzer Zeit, dass eine derartige Konditionierung auf Dauer keine Aussicht auf Bestand hatte.
Eine enge Freundschaft entwickelte sich zu Armin Winkler, dem Sohn eines Schrankenwärters der Reichsbahn. Zu den markanten äußeren Kennzeichen von Armin gehörte eine stets laufende Nase. Deren auf der Oberlippe unübersehbar dokumentierte Spuren wurden von den Geschwistern belustigt als „Positionslaternen“ apostrophiert. Armin war ungemein gutmütig, gelegentlich hart an der Grenze zur Einfalt. Nach einer sonntagnachmittäglichen Kaffeetafel kam eines der Kinder auf die Idee, Armin, mit einem großen blühenden Fliederzweig versehen, nach Hause zu schicken, damit ihm seine Mutter aus dem daraus zu gewinnenden Honig ein Butterbrot bestreicht. Kinder können schon recht gemein sein … Jahrzehnte später saß Armin völlig überraschend unangemeldet vor meinem Schreibtisch in meiner Praxis. Er hatte zufällig im Vorbeifahren auf einem Schild den ihm aus der Kindheit vertrauten Namen gelesen. Ausstaffiert mit todschickem Anzug und dazu passender Krawatte, von Beruf Lehrer für Griechisch und Latein in einem altsprachlichen Gymnasium. Was für eine Freude, was für eine Überraschung! Erfolgreiche Propheten warten die Entwicklung der Ereignisse ab …
Es gab auch Ausflüge aus dem Freystädter Paradies. Im Sommer fuhr man zum Großvater nach Königsberg, präziser: zu seiner Residenz in Cranz, einem mondänen Badeort vor den Toren der Stadt. Ort wunderbarer Ferien für uns Kinder und Eltern in traumhaft schöner Umgebung. Auf dem Grundstück am Strand stand eine Verkaufsbude, die von einer reizenden jungen Dame, von den Kindern „Limonaden-Fräulein“ getauft, betrieben wurde. Onkel Viktor, ein hoch dekorierter Offizier, der im Ersten Weltkrieg mit seinem Doppeldecker mehrfach abgeschossen worden war, aber stets überlebte, war uns ob seiner Spendierfreudigkeit besonders ans Herz gewachsen. Er beauftragte das „Limonaden-Fräulein“, alle Wünsche zu erfüllen, was mir in schöner Regelmäßigkeit bei jedem Besuch in Cranz am ersten Tag eine limonaden-bedingte Revolte des Magen-Darmtraktes bescherte. Auch anderweitig entpuppte sich für mich ein wahres Paradies, das zu den unterschiedlichsten Entdeckungsreisen animierte. Auf dem weitläufigen Grundstück der Großeltern stand auch ein kleines Häuschen, das eine stramme Maid in den besten Jahren bewohnte, um bei allen anfallenden gröberen Arbeiten zur Hand zu gehen. An einem frühen Sommermorgen führte mein Weg an eben diesem Häuschen vorbei, dessen Türe einen Spalt offen stand. Gebannt starrte ich durch diesen Spalt auf das, was sich dem unschuldigen Kinderauge offenbarte: die rückwärtige Partie jener dort residierenden Schönheit, die nackt und bloß, wie Gott sie schuf, mit ihrer Morgentoilette beschäftigt war. Schon damals kein Freund von halben Sachen überwog die Neugier nach der dazugehörigen Vorderansicht die Furcht vor den mit der Erkenntnis eventuell verbundenen Gefahren. Auf Zehenspitzen schlich ich durch den leicht geöffneten Spalt auf das Objekt meiner Begierde zu, ohne zunächst entdeckt zu werden. Mutig hob ich die kleine Hand, stellte mich auf die Zehenspitzen und bohrte den Zeigefinger behutsam in die mir zunächst gelegene Pobacke der Dame. Nicht ohne mit schüchterner Stimme zu fragen: „Darf ich mal anfassen?“ Das Resultat der Recherche war umwerfend: Mit spitzem Schrei des Entsetzens drehte sich die junge Frau einmal um ihre eigene Achse. Ich trat nach kurzer Schrecksekunde übereilt die Flucht nach hinten an, wobei ich, in Unkenntnis der örtlichen Gegebenheiten, in einen schräg hinter mir stehenden Wassereimer plumpste. Für Sekunden starrten wir uns beide wie elektrisiert an. Langsam wich das Entsetzen des weiblichen Gegenübers einem befreienden Glucksen, das nahtlos in schallendes Gelächter überging. Instinktiv ahnte der kleine Entdeckungsreisende, dass damit wohl der gefährlichste Teil seines Abenteuers glücklich überstanden war. Dankbar ließ ich mich von zarter Hand aus etwas misslicher Situation, weil sehr beengt und feucht, befreien. Dabei die Gelegenheit nutzend, den ursprünglichen Ausgangspunkt meiner Forschungsreise betrachtend nachzuholen. So sehr ich mir auch in späteren Zeiten gelegentlich den Kopf zermarterte: ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, ob die gewonnenen Einblicke – genauer gesagt der Anblick – eingedenk des Schreckens, denn auch der Mühe wert gewesen waren …
Immerhin durfte ich das nach vielen Jahren einmal selbstbewusst unter der Rubrik „Früheste Einblicke und Erkenntnisse in die Anatomie am Lebenden“ subsumieren. Schließlich ein durchaus ernst zu nehmendes Unterrichtsfach jeder vorklinischen Ausbildung eines Mediziners.
Auf einer Erkundungstour entlang des Strandes stieß ich auf eine prächtig mit Muscheln verzierte Sandburg, in die ich mir mutig Eintritt verschaffte. Bereits von außen erspäht, taten sich deren Bewohner an einer großen Schüssel mit herrlichen Brombeeren gütlich. Die Mutter hatte ihrem Sohn, quasi mit der Muttermilch, schon die elementaren Regeln kommunistischen Wohlverhaltens eingetrichtert. Auf den in dieser speziellen Situation zugeschnittenen Fall bedeutete dies: Was dein ist, ist auch mein. So sahen sich die Bewohner dieser stolzen Burg plötzlich mit zweierlei konfrontiert: erstens einem zusätzlichen Esser, zweitens einem Vielfraß, der sich, in dieser ihm sehr entgegenkommenden Konstellation, häuslich einzurichten wusste. Mit langsam einsetzender Dämmerung begannen sich die gastfreundlichen, neu gewonnenen Bekannten aber auch dahingehend Gedanken zu machen, dass ihre nicht ganz freiwillige Neuerwerbung noch irgendwo ein zweites Zuhause haben muss. Nach dieser Heimstätte befragt, drehte sich der kleine Mann kapriziös mit weit ausholender Armbewegung einmal um die eigene Achse und verkündete freudestrahlend: „Da wohnt meine Mutti!“
Eben diese Mutti war mittlerweile seit über einer Stunde verzweifelt auf der Suche nach ihrem abhanden gekommenen Sprössling. Wie dieser viele Jahre später erfuhr, war seine Großmutter nach dreiviertelstündiger ergebnisloser Suche fest davon überzeugt: „Den Jungchen hat sich das Meer geholt!“ Dass sie mit dieser Einschätzung keineswegs hinter dem Berg hielt, fand die Mutter besonders „tröstlich“… Von all diesen Abläufen hatte „der Ritter von der Brombeerburg“ nicht die geringste Ahnung. Umso überraschter war er deshalb, als plötzlich die Mutter vor ihm auftauchte, um den verlorenen Sohn, in Tränen ausbrechend, in die Arme zu schließen.
Zurück nach Freystadt. Auf praktisch autofreier Hessestraße kreuzte eher gelegentlich ein Pferdefuhrwerk auf. Als Nebenprodukt fanden sich Pferdeäpfel, von mir akkurat mit kleiner Schaufel eingesammelt und dem Gartenkompost zugeführt. Das erhebende Gefühl, auf diese Weise einen bedeutenden Beitrag zu den Erträgen des Gartens zu leisten, beflügelte mich, das Sammelgebiet auf angrenzende Straßen auszudehnen. Dieser Sammeleifer weckte bei der Mutter zwiespältige Gefühle: Einerseits wurde ein gewisses sich frühzeitig entwickelndes ökologisch-ökonomisches Verständnis anerkennend registriert. Andererseits wollte das Pferdeäpfel sammelnde Kind des Arztes nicht so richtig zu dem sozialen Status passen, den man in der kleinen Stadt einnahm. Ich registrierte auf jeden Fall einen deutlichen Rückgang anfänglicher Lobeshymnen. Der Sammeleifer erlosch. Letztendlich machte ja auch das Schleuderball- und Völkerballspielen auf der Hessestraße viel mehr Spaß. Hier konnten auch gefahrlos erste Balanceakte beim Erlernen des Radfahrens erprobt werden. Im Hinterhof von Armin Winklers Wohnung wurde im Winter eine Schneeburg gebaut, um die heftige Schneeballschlachten entbrannten.
Neben dem elterlichen Schlafzimmer im ersten Stock zelebrierten die Geschwister, oft unter Assistenz von Gisel, im Bad ihre Morgen- und Abendtoilette. Gisela Hallup, ein wahrer Engel, eigentlich als Praxishelferin gedacht, war bald voll ins Familienleben integriert und lebte auch im Haus. Von diesem Bad aus führte eine zweite Türe in das sogenannte „gelbe Zimmer“, in dem an der Decke, über einer darunter aufgestellten Liege, eine Höhensonne baumelte. Auf dieser Liege wurde jeden Abend, nach väterlichen Vorgaben, Gymnastik getrieben. Neben allgemeiner Gelenkigkeit stand die Stärkung der Rückenmuskulatur im Vordergrund. Danach hieß es: Schutzbrillen auf und unter der Höhensonne einige Minuten auf den Bauch, einige Minuten auf den Rücken. Das ganze ging meist mit großem Hallo und Gelächter über die Bühne, weil z. B. die Purzelbäume recht abenteuerlich gerieten. Zur Stärkung des Fußgewölbes, also Vorbeugung gegen Plattfuß, lief man, wann immer es ging, barfuß. Außerdem wurde im sommerlichen Garten „Kieselsteinwerfen“ gespielt: Man nahm hinter einer markierten Linie Aufstellung, krallte sich einen kleinen Kiesel abwechselnd mal unter die Zehen des rechten, mal unter die des linken Fußes und versuchte, den Stein so weit wie möglich wegzuschleudern. Als Kleinster wurde mir ein Vorsprung von mehreren Zentimetern eingeräumt. Nach zahlreichen Versuchen wurde der „Kieselsteinkönig“ ermittelt.