Buch lesen: «Brothers in Crime», Seite 2

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Guérilleros

Verdientermaßen kam der Film bei der Kritik schlecht weg. Zu echt sind die Figuren, als dass sie überzeugen könnten. Echte Geschäftsleute und Politiker sehen stets wie im B-Picture aus. Kein Mensch kaufte Clinton die Präsidentenrolle ab, wenn er sie im Studio spielen müsste. Auch die Gegenseite, die Stadtguerilla-Gruppe mit dem offizielle Amtlichkeit nachäffenden und deshalb affig klingenden Namen »Soldaten der Nationalen Befreiungsfront der Vereinigten Staaten«, wirkt ohne echte Kulissen und Requisiten läppisch. Das Vermächtnis der Desperados scheint aus der Feder eines schriftstellern- den Gymnasiasten zu stammen. Kein Kunstgenuss zwar und von mäßigem Unterhaltungswert, aber realistisch, weil die Protestbewegung wirklich schlechtes Theater war. Eine Laienschar spielte vor allem sich selbst was vor. Sie tat es im besten Glauben, und vielleicht hatte sie keine andere Wahl.

Entgegen einem weitverbreiteten Irrtum heißt Revolution machen wollen keineswegs primär, Mitgefühl für die Ausgebeuteten zu entwickeln und den Entschluss zu fassen, deren Lage zu bessern. Revolution machen wollen heißt vielmehr, einen großen Ausbruch zu planen – den Ausbruch aus einem Zeitabschnitt, von dem man meint, dass man darin nicht mehr die Luft zum Atmen fände. Um die Details wie Wohnung, Entlohnung, Ernährung, die durch allmähliche Reformen zu verbessern wären, geht es nicht. Man will ans Fenster stürzen, um es aufzureißen, und zwar mit einem Ruck.

Marx hat erklärt, wie es dazu kommen kann. Im Lauf ihrer Entwicklung, schreibt er, bringt eine bestimmte Produktionsweise irgendwann »die materiellen Mittel ihrer eignen Vernichtung zur Welt. Von diesem Augenblick regen sich Kräfte und Leidenschaften im Gesellschaftsschoße, welche sich von ihr gefesselt fühlen.« (Marx, MEW 23:789) Für den Menschen, der von solchen Kräften und Leidenschaften ergriffen worden ist, stellt die alte Ordnung ein Gefängnis dar. Die vorgefundenen Verhältnisse hindern ihn daran, die Welt als »Laboratorium seiner Kräfte« zu behandeln, als »Domäne seines Willens« (Marx, Grundrisse:396). Er leidet unter aufgezwungener Kraftlosigkeit und Willenlosigkeit, weil er umständehalber auf möglich erscheinende Unternehmungen verzichten muss. Beklagt werden Armut und Elend immer, aber ein Motiv für Rebellion und Revolution stellen quälende Entbehrungen erst im Moment ihrer objektiven Überflüssigkeit dar. Bedingung und Folge ihrer Fortdauer ist dann, dass die Menschen ihr Selbstbewusstsein verlieren, weil sie sich wie unfreie, willenlose Wesen verhalten. Nehmen sie die Verhältnisse hin, von denen sie sich gefesselt fühlen, werden sie Gefangene. Mit der Zeit entwickelt sich bei ihnen ein Insassensyndrom, sie empfinden die Welt als Zuteilungsstelle und sich selber als Empfänger. Wer reicher ist, fühlt sich besser abgefüttert, selber essen kann er auf legalem Wege nicht. Deshalb schmecken geklaute Äpfel besser.

Oft allerdings ist das Lebensgefühl revolutionär, doch die Verhältnisse sind es keineswegs. Damals, Ende der Sechziger Jahre, waren sie nicht nur ausbruchssicher, dicht wie Manhattan Island in Carpenters Riesengefängnisfilm, sondern sie glichen abhärtendem Beton. Was an der Protestbewegung fröhlich wirkte und aufbruchsgestimmt, war die Ausgelassenheit einer Abschiedsparty, wie sie von Junggesellen vor der Heirat gefeiert wird oder von jungen Männern vor der Einberufung zum Militär. Man kostete den Restbestand hinfällig gewordener alter Freiheit auf eine Weise aus, als wolle man ihn vernichten.

Eine solche Konstellation entsteht, wenn die Realität sich schneller geändert hat als das Bewusstsein der Menschen. Die Leute kämpfen dann, getrieben von zwiespältigen Gefühlen, gegen die eigenen, lästig gewordenen Denk- und Lebensformen an, während sie eine Welt aus den Angeln zu heben meinen. Wie bei Kindern, die der Puppe zufügen, was die Mutter mit ihnen tat, liegt der Grund des Missverständnisses darin, dass der Leidende lieber Täter wäre, wenn er die Qual nicht verhindern kann. Identifikation mit vorhandenen Verhältnissen heißt, dass die Menschen das Vorgefundene als von ihnen Hervorgebrachtes betrachten. Sie verhalten sich so, dass ihnen die eigene Anpassung an die äußere Welt als deren Umwälzung erscheinen muss.

Mit großem Schwung rannte die Protestbewegung also offene Türen ein, soweit sie ein kulturrevolutionäres Unternehmen blieb, das seinen Hauptgegner in den tradierten Moralvorstellungen und den sie konservierenden Institutionen hatte. Die selbstquälerische Ablehnung von Repressivität stieß auf allgemeine Sympathie, auch wenn dies zunächst nicht allgemein eingestanden wurde. Dass die Alten, als sie die ersten nackten Jungen sahen, sich empörten, bevor sie ihrerseits die Hüllen fallenließen, gehörte zum Spiel mit verteilten Rollen, welches der Unterwerfung unter den Status quo den kämpferischen Anstrich gab, dessen euphorisierende Wirkung den Umstellungsschmerz unfühlbar machen sollte.

Anders hingegen sahen die Chancen aus, wenn statt der neuartigen unbegrenzten Nacktbadekonzession die überfällige Einlösung alter Versprechen gefordert wurde. Auch die Traditionalisten, denen es um die Herstellung einer Welt ohne Entmündigung, Elend und Hunger ging, waren Produkt des aktuellen Veränderungsdrucks, nur missverstanden sie starrsinnig dessen Bedeutung. Im Glauben, statt der Anpassung an die Verhältnisse stünden diese selbst zur Disposition, wollten sie zum Abschluss bringen, was stets nur begonnen, dann aufgeschoben und halb vergessen worden war.

Das aber hieß, sich mit dem Blechlöffel durch meterdickes Mauerwerk zu kratzen, und als Konsequenz daraus ergab sich die Alternative Resignation oder Realitätsverlust. Zwei Weltkriege, Faschismus und hundert nicht wahrgenommene Chancen hatten tausendmal das Manifest der Kommunistischen Partei von 1847 widerlegt. Die Bourgeoisie, glaubten Marx und Engels damals, »produziert vor allem ihren eignen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich« (Marx/Engels 1989:50). In absehbare Nähe gerückt schien der Punkt, wo der versteckte Bürgerkrieg »in eine offene Revolution ausbricht und durch den gewaltsamen Sturz der Bourgeoisie das Proletariat seine Herrschaft begründet«. Anlässlich der Jubiläumsausgabe 25 Jahre später waren es dann die Verfasser selbst, die in ihrem alten Text nur noch ein »historisches Dokument« sahen.

Und nun, um 1970 herum, war wiederum ein knappes Jahrhundert vergangen, das Industrieproletariat eine Schrumpfgröße geworden und die Masse keine Klasse mehr. Nach dem Konzept für die Angestelltenheere suchte man in der Literatur vergeblich, sie kamen bei Marx und Engels gar nicht vor. Die Bevölkerung stellte sich als amorphe Menge dar, unterteilbar in beliebig viele Schichten. Den Willen und die Kraft, ein besseres Zeitalter zu erkämpfen, besaß sie offensichtlich nicht.

Wie vom Himmel geschickt mussten deshalb Che Guevara und Régis Debray erscheinen. Der eine hatte angeblich das Wundermittel entdeckt, um die apathisch dahindämmernde Masse der Bauern in Lateinamerika zu revolutionieren. Der andere, sein Begleiter, hatte sich dabei Notizen gemacht. Die kamen 1967 in Frankreich unter dem Titel Révolution dans la révolution? und zeitgleich in deutscher Übersetzung auf den Markt. Das Bändchen wurde aufgenommen wie eine Offenbarung. Denn wenn der Kunstgriff, den es verriet, bei der abgestumpften Landbevölkerung armer Länder wirkte, wirkte er bei der stumpfsinnigen Masse in den reichen Ländern sicher auch. Somit bestand kein Bedarf mehr danach, sich den abgesessenen, schmächtigen, müden Mann hinter der Rechenmaschine als schmiedehammerschwingenden Donnergott (»Wenn dein starker Arm es will«) vorzustellen. Das Trugbild von der Fortdauer alter klassenkämpferischer Arbeitermacht war überflüssig, denn die neue Methode wies offenbar über Marx hinaus. Keine Revolution ohne revolutionäre Klasse, hatte der gesagt. Man kommt auch ohne aus, schienen die Erfahrungen in Lateinamerika nun zu zeigen.

Debrays Rezept ist eine Konsequenz aus der Tatsache, dass keine Revolution bislang über intakte Sicherheitskräfte siegte. Es sieht vor, zunächst die Unterdrückungsmaschinerie der staatlichen Exekutivorgane durch viele militärische Nadelstiche zu schwächen. Erst danach habe der Widerstand der Landbevölkerung eine Chance. Die Massen, die nach parteikommunistischer Überzeugung aus Mangel an Bewusstseinsbildung stillhalten, sind ihren philosophisch geschulten Aufklärern an materialistischer Einsicht voraus. Sie wissen genau, warum sie sich nicht wehren. Spontane Aufstände würden zerschlagen mittels der »modernen, von einer wohlausgerüsteten amerikanischen Militärmission trainierten und unterstützten Armee«, »die mit einer zahlenmäßig kleinen, aber aggressiven Elitetruppe ausgerüstet ist« (Debray 1967:34). Machtverhältnisse sind nur durch Machtmittel zu ändern, »Brüderlichkeit und Mut ersetzen keine Waffen: siehe Spanien, siehe die Pariser Commune« (56).

Gegen die kleine, aber aggressive Elitetruppe tritt nun, so Debrays Szenario, ein Verbund noch kleinerer, noch aggressiverer bewaffneter Gruppen an – die Guerilla. Sie operiert vollkommen isoliert, ohne Unterstützung durch die Zivilbevölkerung, welche der Repression der Exekutivorgane hilflos ausgeliefert wäre. Wer nicht gefasst, gefoltert und getötet werden will, muss nach der Methode »hit and run« zuschlagen können. Die Bevölkerung kann es nicht. Sie klebt an dem Stück Erde, das sie ernährt, und es muss auf die Frauen und Kinder Rücksicht genommen werden. Außerdem bleibt den Bauern zum Kämpfen wenig Kraft. Sie sind von der schweren Landarbeit erschöpft, und sie leiden unter schlechter Ernährung.

Auch im eigenen Interesse aber muss die Guerilla »von der Zivilbevölkerung in ihren Aktionen wie in der militärischen Organisation unabhängig« (43) sein. Wer schwach ist, ist erpressbar. Er wird leicht zum Verräter und zum Kollaborateur: »Mehrere einsichtige Gründe machen das Misstrauen der Zivilbevölkerung gegenüber notwendig und zwingen dazu, sich von ihr entfernt zu halten.« (44)

Am Anfang operiert die Guerilla deshalb autark und autonom. Ihre Aufgabe besteht ausschließlich darin, den Repressionsapparat zu zermürben. Feuerüberfälle auf abgelegene Polizeiposten und Armeekasernen bewirken, dass er seine Kräfte bündeln muss. Wenn sein Aktionsradius kleiner wird, bleiben Gebiete zurück, welche die Guerilla kontrolliert. Unter ihrem Schutz werden die Massen revolutionär, sie erwachen aus ihrer Apathie, die von umfassender Machtlosigkeit herrührte. Guerillatätigkeit ist für Debray ein Unternehmen, »das aus sich selbst heraus die Vorbedingungen für eine Revolution schafft, das heißt also nicht unbedingt auf Bedingungen gegründet sein muss, die vorher geschaffen worden sind« (Oppenheimer 1971: 52). Die Revolutionäre mögen nicht länger warten auf den »richtigen Augenblick«; sie führen ihn herbei.

Lösen soll sich der Bann, unter dem die Menschen verdummen und verwildern—nicht nur in den Armutsgebieten der Dritten Welt. Auch die freudlosen Spaßvögel mit ihren Baby-faces und ihrem penetranten kindischen Getue in den reichen Ländern sind Ausdruck der Ohnmacht des Einzelnen vor der gesellschaftlichen Übermacht. Ihr als erwachsene Person gegenüberzutreten hieße, sie herauszufordern. Weil Infantilismus Selbstschutz ist, ahmen erwachsene Frauen die Stimmlage und den Tonfall kleiner Mädchen nach. Deshalb klingt der Sprecher im Werbefunk wie ein Kastrat, wenn er ekstatisch irgendwas bejubelt.

Im Alltag mag jene Übermacht erfahren werden als gewaltloser Zwang, ausgeübt von Verhältnissen, die keine Angriffsflächen bieten, weil bis zum Kanzleramt hinauf hinter jedem Schalter ein freundlicher Angestellter sitzt, der mit Bedauern auf seinen eingeschränkten Handlungsspielraum verweist, wenn er die Bittsteller abwimmelt. Doch der Frieden dauert nur, solange alle Einsicht aufbringen und Geduld. Die Schwachen zeigen sich verständig, weil die geschichtliche Erfahrung besagt, dass sie im Konfrontationsfall keine Chance hätten. Beim Umsturz werden sie auf die Straße gerufen, wenn die Würfel gefallen sind. Die Toten, anders als bei Kriegen nicht allzu viele meist, sind dann echt, der Kampf, worin sie starben, war es nicht. Den hatte der neue Befehlshaber nach gelungenem Staatsstreich zu Propagandazwecken inszeniert. Mit dem Sturm auf die Bastille verglichen waren die Montagsdemonstrationen das miesere Straßentheater, keine schlechtere Politik.

*

Auch bei Debray kommt die Bevölkerung erst ins Spiel, wenn die wichtigste Runde entschieden ist, die Masse darf sich dann mit der neuen Power-Clique arrangieren. Dass die Guerilla rein unter militärtechnischen Gesichtspunkten zu betrachten wäre, als Hilfsmittel zur Schwächung des Repressionsapparats ohne eigene politische Ambitionen, als Verein, welcher die Spontaneität der Massen freisetzt und schützt, ist in Debrays Konzept bloß der Speck, mit dem man Mäuse fängt. Wer angebissen hat, wird der Volksbefreiungstruppe bald weitere Funktionen und Kompetenzen zugestehen müssen, immerhin zeichnen deren Mitglieder sich durch ein außergewöhnliches Maß an Selbstlosigkeit, Mut, Entschlossenheit und Opferbereitschaft aus.

Es handelt sich um »eine Handvoll Männer ohne andere Alternative als Tod oder Sieg, in Augenblicken, wo der Tod eine tausendmal gegenwärtige Vorstellung ist und der Sieg der Traum, den nur ein Revolutionär träumen kann« (Debray 1967:115), um »Männer der Offensive« eben, »beharrlich und verantwortungsbewusst. Jeder von ihnen versteht Sinn und Ziel dieses bewaffneten Klassenkampfes, die durch Führer vermittelt werden, welche – wie sie – Kämpfer sind und von denen sie jeden Tag sehen, dass sie, wie jeder während des Marsches, dieselben Gewichte auf dem Rücken schleppen, dass sie ebenfalls unter Blasen an den Füßen leiden und vor Durst krepieren.« (121) Ähnlich, nur ein konventionelleres Bild und mehr Schmalz benutzend, hatte Lenin es gesagt: »Wir schreiten als eng geschlossenes Völklein, uns fest an den Händen haltend, auf steilem und mühevollem Weg dahin, wir sind von allen Seiten von Feinden umgeben und müssen fast stets unter ihrem Feuer marschieren.« (Zitiert nach Voslensky 1980:104.) Wenn Machtmenschen larmoyant werden, wenn sie von ihrem Leidensweg sprechen, den zu gehen keiner sie gezwungen hatte, melden sie Forderungen an.

Nur im Hinblick auf die Kampfzeit also ist die Guerilla Mittel zur Schwächung staatlicher Macht. Im Hinblick auf den Frieden danach aber ist der Kampfverband die Keimzelle künftiger Herrschaft. Hier festigt die kommende Machtgruppe sich, hier werden die Jungs gedrillt und gesiebt, die später ganz oben stehen sollen.

Berufspolitiker werden sie nur, wenn sie sich als Berufsrevolutionäre bewähren, die Guérilleros wie vor ihnen die Bolschewiki, über die Lenin schrieb: »Das einzige, erste Organisationsprinzip muss für die Funktionäre unserer Bewegung sein: strengste Konspiration, strengste Auslese der Mitglieder, Heranbildung von Berufsrevolutionären«, die einander das »volle und kameradschaftliche Vertrauen« entgegenbringen. Auf jeden ist Verlass, denn alle wissen »aus Erfahrung, dass eine aus wirklichen Revolutionären bestehende Organisation vor keinem Mittel zurückschrecken wird, wenn es gilt, sich von einem untauglichen Mitglied zu befreien.« (Zitiert nach Voslensky 1980:103.)

Der Anhängerschaft wie unter Berufsganoven mit dem Genickschusskommando zu drohen, verrät eine Unsicherheit, die es bei der Guerilla nicht gibt. Im Unterschied zu Lenins altertümlichem Verein mit seinem Hang zu Kontrolle und Paranoia kann die Guerilla auf Strafmaßnahmen gegen Abtrünnige verzichten. Wer unzuverlässig ist, kommt erst gar nicht rein.

Wegweisend war, dass die Guerilla das herkömmliche Trainingslager mit einem erst später in Mode gekommenen Ausleseverfahren für Stellenbewerber kombinierte, das sich Assessment-Center nennt. Ziel dabei ist, »in zwei, drei Tagen ›das Innerste der Kandidaten nach außen kehren‹« (FAZ vom 20.4.96). Man will, wie in der Wohngemeinschaft, die »soziale Kompetenz« des Probanden kennenlernen, seine »Persönlichkeit«: »Wer entpuppt sich als Leithirsch, wer kommt nicht zu Wort, wer macht sich mit einer Außenseitermeinung lächerlich?« Unerlässlich daher, »dass ständig jemand dabei ist, meist im Rücken, der sich Notizen macht.«

Protokollanten sind Angestellte, die aus Nachlässigkeit oder Dummheit irren können, die Guerilla braucht sie nicht. Was eine Person unter Extrembedingungen tut und wie sie reagiert, spielt sich hier 24 Stunden täglich vor den Augen aller ab, umfassenderes Beobachtungsmaterial liefern nicht mal Überwachungskameras im Labor. Kein noch so kleiner Rest Privatleben existiert, wo der Einzelne der Kontrolle durch die Gruppe und ihrem Konformitätsdruck wenigstens temporär entzogen wäre. Im Vergleich zur Guerilla stellen lizenzierte Agenturen wie Internat, Gefängnis, Erziehungsheim und Kaserne nur Behelfslösungen dar. Zellen, Mauern und Zäune sind immer Flickwerk am unvollkommenen System. Wo es perfekt ist, sind sie überflüssig, auf hoher See wie im Dschungel.

Nicht müde wird Debray daher, die erzieherische Kraft des Lebens in der Natur zu rühmen. Unwegsame Berge können »den Bürger und den Bauern zum Proletarier« machen, in der Stadt werden »selbst Proletarier Bürger« (79f.). Dort nämlich genießt der Einzelne eine gewisse Unabhängigkeit vom Kollektiv. Faulenzen, wenn alle arbeiten, ist mit Nachteilen verbunden, aber möglich. Wer den eigenen Regungen nachgeben kann, braucht sie nicht mit aller Härte niederkämpfen. Weich gegen sich selbst, ist er auch weich gegen andere, zur Ausübung von Herrschaft eignet er sich kaum.

Die Befähigung dazu muss er erst erwerben: »Man sagt ganz richtig, dass wir im Sozialen baden: Lange Bäder verweichlichen. Es gibt nichts Besseres, als aus ihnen auszusteigen, um sich bewusst zu werden, wieweit dieser lauwarme Brutkasten kindisch macht und verbürgert.

Während der ersten Zeit in den Bergen ist das Leben ganz einfach ein täglicher Kampf, in seinen kleinsten Einzelheiten — und zuallererst ein Kampf des Guérillero gegen sich selbst, um seine alten Gewohnheiten zu überwinden, die Narben, die der Brutkasten in seinem Körper hinterlassen hat, die Schwäche. Der Feind, den es in den ersten Monaten zu besiegen gilt, ist man selbst.« (75)

So geht es allen, die besonderen Bedürfnisse und Wünsche eines jeden sind der gemeinsame Feind. Die Gruppe ist Kampf- und Leidensgemeinschaft, auch ohne militärischen Gegner. Aus kollektiver Selbstunterwerfung macht sie soziale Kohärenz: »Das Zusammenleben, die Kämpfe, und die gemeinsam ertragenen Strapazen schmieden langsam ein Bündnis, das die einfache Kraft der Freundschaft hat.« (117)

Die gleiche »einfache Kraft der Freundschaft« entsteht überall, wo das Zusammensein für den Einzelnen Entsagung und Qual bedeutet, oft in der geschlechtshomogenen Gruppe. Sie wächst zusammen in der Sauna, beim Mannschaftssport, beim Trinkgelage, bei der Sitzung, die bis zur physischen Erschöpfung aller Beteiligten dauert. Heute erfüllt fast jede Art von Geselligkeit diesen Zweck.

Bei der Guerilla aber ist die Bindewirkung ungleich stärker, weil hier das kollektive Martyrium nicht inszeniert werden braucht. Es ist die Konsequenz aus Bedingungen, unter welchen die schiere physische Selbsterhaltung von jedem die Selbstaufgabe als Person verlangt. Anderswo wird es bloß behauptet, hier stimmt es, »dass man nicht allein überleben kann. Das Interesse der Gruppe ist auch das jedes Einzelnen – und umgekehrt. Leben und siegen, d.h., dass alle zusammenleben und siegen« (117) – oder sterben, wie man hinzufügen darf.

Wo alle im Interesse des eigenen Überlebens sich permanent dem Allgemeinwohl unterordnen müssen, werden individuelle Unterschiede zwischen den Einzelnen ausgelöscht. Sie kennen irgendwann sich selbst nicht mehr, sie kennen nur noch die Gruppe, die hinsichtlich des Zusammenhalts allen ähnlichen Verbindungen überlegen ist. Selbst beim Himmelfahrtskommando, und sogar in der Fremdenlegion, weiß der reguläre Soldat eine Armee hinter sich. Für den Guérillero existiert außer seinen Kameraden nichts. Dies Angewiesensein aufeinander bedeutet für jeden Einzelnen Restriktionen »von einer Unerbittlichkeit«, »die der Contrat social nicht kennt« (122).

Die eine mögliche Schlussfolgerung daraus wäre der Verzicht. Die Kämpfer für eine bessere Gesellschaft ziehen sich zurück im Moment, wo das Ziel erreicht ist. Den Grund dafür hat Oppenheimer in seinem Guerilla-Buch erläutert. Menschen, schreibt er, die als Untergrundkämpfer leben müssen; die sich an solche Bedingungen gewöhnen und sich am Ende darin sogar »wohlfühlen, können, und wenn sie sich noch so leidenschaftlich darum bemühen, keine Gesellschaft hervorbringen, die von den Gesetzen der Menschlichkeit regiert wird. Das war der Grund, warum es Moses lediglich gestattet war, das Gelobte Land zu sehen, nicht aber, es zu betreten.« (Oppenheimer 1972:70f.)

Die andere Konsequenz zieht Debray: Die Kämpfer sollen im Triumphmarsch einmarschieren und Beute machen dürfen. So war es immer, nur Debrays Begründung ist neu. Die Depersonalisierung der Einzelnen in der Kampfgruppe gilt ihm als exemplarisch für die Transformation der Klassengesellschaft in die klassenlose. Der Guerilla-Krieg samt seiner Grausamkeiten und Strapazen stellt sich deshalb als gelebter Sozialismus im Kleinen dar. Es versteht sich dann von selbst, dass später einen besonderen Rang einnehmen wird, wer dabei war: »Ist das nicht die beste Ausbildung für einen sozialistischen Führer oder Kader?« (Debray 1967:118) Der Guérillero weiß aus Erfahrung und Selbsterfahrung, wie und durch welche Mittel man Menschen dazu bringt, sich nicht als freie Einzelwesen, sondern als Mitglieder einer Schicksalsgemeinschaft zu begreifen. Und er hat es schätzen und lieben gelernt, dass Menschen mit solchem Bewusstsein einen unschlagbaren Kampfverband bilden.

Wird ein Mann mit diesem Erfahrungsschatz als optimaler Bewerber für die Stelle eines »sozialistischen Führers« eingestuft, so kann dies nur heißen, dass die ganze Menschheit ein unschlagbarer Kampfverband werden soll, so tüchtig, klassenlos und homogen wie eine Guerillagruppe. Nicht der Kampf hört also auf, wenn die Revolution gesiegt hat, nur die Zerstrittenheit der Kämpfer. Vereint und gestärkt ziehen sie dann in immer neue Schlachten, gegen den Hunger, die Armut, den Analphabetismus, die Liste der Feinde ist endlos.

Als Leitvorstellung, die hinter solchen Szenarien sich verbirgt, haben Adorno und Horkheimer die Idee von der »menschlichen Gesellschaft als einem Massen-Racket2 in der Natur« entziffert. (Adorno Bd.3:292) Das Bandenwesen soll nicht abgeschafft werden, sondern sich unbehindert entfalten dürfen, und mit einigem Recht könnten die Revolutionäre von damals heute sagen: »Wir haben gesiegt.«

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