Buch lesen: «Jahrhundertwende», Seite 7

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15. Oktober 1990 (2)

Mein Vortrag über Jeanskultur hat auf Aluna (vom Philosophie-Institut der moskauer Akademie der Wissenschaft) wie ein Werbespot gewirkt. Sie bekam Lust, stante pede in die Altstadt zu gehen und Jeans zu kaufen. Verlangen nach diesem Imaginären.

Merab sprach von der Unmittelbarkeit der Vergesellschaftung bei Marx, die der künstlichen Welt von Markt und Geld nicht bedürfen soll. Aber wie, fragte er, kommen wir dann in Kontakt mit den anderen?

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Am Strand gehört, Gorbatschow habe den Nobelpreis erhalten. Merab gesteht zu, dass er diesen verdient habe. Michail Kusnezow, der an der Grenze zum Hanswurst agiert, mit ständigem Kopfnicken mich umdienernd, alle Worte mehrfach hervorstoßend, bis ihnen allmählich die Folgewörter anwachsen – zu G äußert er sich knapp und scharf: da sei keine Kontinuität, nie könne man wissen, was er als nächstes tun werde. »Muss man das?« wirft Merab ein. Er kehrt den Kyniker hervor. Meine Versuche, Herrschaft zu analysieren, buttert er in conditio humana und Gott unter. Wenn ich von einem bestimmten Nichtwissen spreche, wird er unweigerlich sagen: »Hat der Mensch je etwas gewusst?« Mittendrin erwähnt er Foucaults »fürchterlichen Tod« (an AIDS). Will sich ein Reise-Texterfassungsgerät (Sinclair) zu seinem Macintosh anschaffen.

Fred Jameson sagt, binnen 14 Tagen seien die USA zum Krieg bereit.

16. Oktober 1990

Iwailo Ditschew aus Sofia, auf dessen Visitenkarte kurz »Writer« steht und der die Mumakrum-Show mitaufgezogen hat: die »sozialistische« Gesellschaft lässt sich anders als die bürgerliche Gesellschaft mit ihren ausdifferenzierten Organisationen nicht von innen beschreiben.

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Laut Washington Post hat man in Saudi-Arabien riesige zusätzliche Erdöllager entdeckt, die bis ins 22. Jahrhundert den derzeitigen Ausstoß garantieren sollen. Man hat diese Informationen angesichts der Golfkrise gerade jetzt herausgelassen, zusammen mit der Ankündigung verstärkter Lieferungen. Das wirkt unmittelbar aufs Ölpreisniveau, mittelbar auf die Interessen der Hauptölverbraucher am Ausgang des Golfkonflikts.

Schlanke Produktion. – James P. Womack, Daniel T. Jones & Daniel Roos: The Machine that Changed the World (New York 1991). MIT-Studie über Autoproduktion (1985–90). Überschrift des FAZ-Berichts: »Die in Japan entwickelte Produktionsweise wird die Welt erobern«. Verdrängung der »mass production« durch »lean production« (»lean« bedeutet mager, schlank, entschlackt). Die neue Produktionsweise brauche von fast allem weniger, zumal Arbeit, aber auch Zeit, Lagerbestände, Stückzahl zur Rentabilität. 90 Fabriken in 17 Ländern vergleichend untersucht mit dem Resultat, dass bei VW die Produktivität nur halb so hoch wie bei japanischen Spitzenbetrieben. Veränderte »Industrie-Organisation« als Ausdehnung des Polyzentrismus auf die Zulieferer, die tendenziell wie ein unabhängig arbeitendes Profitcenter im eigenen Verbund aufgefasst werden. Der Informationsaustausch mit ihnen wird »maximiert und nicht minimiert«. Die Zulieferer entwickeln oft die zugelieferten Teile relativ selbständig. Ferner werden horizontale Verbundsysteme (Keiretsu) aus Unternehmen vieler Branchen gebildet, die den Mitgliedern finanzielle Reserven, Sicherheit vor feindlichen Übernahmen, Innovations- und Rationalisierungsimpulse, überhaupt einen Ideenpool, sowie Synergie-Effekte vermitteln. Räumliche Nähe zum Endverbraucher macht es vorteilhaft, in jedem der drei großen Märkte (Nordamerika, Europa, Asien) eigenständige Produktionssysteme aufzubauen. Das verlangt eine »post-nationale« Unternehmenskultur mit Personaltransfer in allen Richtungen und globaler Produkt- und Finanzstrategie. Die Studie kommt zum Schluss, dass sich internationale Keiretsu-Verbünde und Zuliefer-Partnerschaften herausbilden werden. Der transnationale Kapitalismus nimmt Form an. Die Keiretsu modifizieren schon jetzt die Konkurrenz. Einiges an dem Modell könnte bei der Mafia abgeguckt sein.

17. Oktober 1990

Gestern Abend löste ich durch eine Nebenbemerkung einen thematischen Sprung aus. Karen Sjörup über Astrologie: Donnerstags bricht das Telefonnetz im Roskilde Universitetscenter zusammen, weil es im Horoskopdienst der Post die neuen Ansagen gibt.

Manchmal erscheinen die Lippen wie von innen ausgebissen; bitter und bissig erinnert der Mund an den der Schwarzer. Auf das Scheitern der ersten Frauenbewegung sei die unzufriedenste Frauenbewegung aller Zeiten gefolgt. Sie habe die Söhne als ihre Ersatzmänner behandelt, sie von den Vätern getrennt: Muttersöhne, deren Männlichkeit von Frauen geformt war. Die Töchter seien von ihren Müttern rausagitiert worden aus dem Frauen-(Mutter-)Universum: Bildungserwerb, Selbstverdienerin werden! Frei, ihre eignen Bilder davon zu machen, was eine Frau sein sollte. Verweist auf Dorothy Dinnerstein: The Minotaur and the Mermaid, über inneres Matriarchat in beiden Geschlechtern.

Der Muttersohn unterhalte keine Beziehungen zu anderen Männern, weil nie in Männlichkeit initiiert. Die Institutionen des Patriarchats zusammengebrochen. Nun werde sich ein neues postmodernes Patriarchat bilden.

Laut Slavoj Žižek wird das jugoslawische Imaginäre vom umgekehrten Nullsummenspiel beherrscht: Jede Nation glaube, dass sie in wenigen Jahren in einer Art Schweiz des Wohlstands leben könnte, würden die anderen Nationen ihr nichts wegnehmen.

Žižek in Blue Jeans und dunkelblauem Hemd; knapper gepflegter Vollbart; Schatten unter den Augen. Spricht mit leichtem Sprachfehler, das S gerät leicht zum Sch, dabei schnell wie ein Maschinengewehr, die locker gelassenen Backen und Lippen schüttelnd, immer am Rande des Kasperns, immer mit Witzen Überraschungsangriffe führend. Ich frage mich, an wen mich die Art erinnert, wie er den Kopf herumwirft. Sagt, er sei vor zehn Jahren als Nichtmarxist aus seinem Job geworfen worden, jetzt von derselben Amtsperson als Marxist. Sieht in Slowenien, seiner Heimat, eine neue moralische Mehrheit zurück auf dem Weg zum NS. Sieht das etwa darin angedeutet, dass letzte Woche der Kultusminister den Lehrerinnen das Tragen von Hosen verboten habe.

18. Oktober 1990, am Flughafen von Dubrovnik

Vaclav Havel lobte Gorbatschow als »Beschleuniger des Unausweichlichen«.

Merab. – Der Philosoph – Bürger des unbekannten Landes. Hier lebe er wie ein Spion. Möglichst wenig auffallen. – Das kam mir vor, wie die Beschreibung eines Theologen von Nietzsches »unbekanntem Gotte«. Während des Abschiedsessens summte Merab vor sich hin. Er isolierte sich, wie mir schien, in einer Aura des Selbstgefallens. Man hatte uns, »die zwei Foucaults«, nebeneinander platziert.

Dragans kurzes Lächeln in den Mundwinkeln. Er stellt sich dar als einen, der es nicht nötig hat. Rief mir ein Taxi, rührte indes keinen Finger, als ich mich mit den Gepäckstücken mühte. Etwas von einem Puma, gelassen, mit einer Art von Gleichgültigkeit, die etwas Verächtliches hat. Fred Jameson erschien nicht zum Abschied.

Bin mir selbst im Wege, aneckend-versöhnlich, als wären die Widerhaken falsch angebracht. Schwierigkeit, eine Sprache gegen den Diskurs zu finden. Wieder das Gefühl des Außenseiters.

Dass ich am Wahrheitsbegriff festhalte, kommentierte Jameson mit »bullshit«; er wurde böse, als ich Foucaults Entdeckung der Geschichtlichkeit des Sexualitätsbegriffs rühmte, die er eine Erfindung (im Sinne von Fiktion) genannt haben wollte. Die Psychoanalyse-Anhänger hatten anscheinend das Gefühl, es werde am Ast gesägt, den sie als Sitzplatz schätzen. Dabei hatte ich nur gesagt, sie müssten auf ihr »natürliches« Maß schrumpfen, d.h. auf die Situation und den Prozess therapeutischer Analyse.

Ideologie – das sind die andern! Darauf achten, wo ich dieses Muster gleichfalls bediene.

Auch »Wissenschaft« wurde fallengelassen. Alles Kunst? Schlimmer: alles Material für Diskurse.

Fred hat als neuestes Paradigma Reichelts Kapitallogik entdeckt. Susan Buck-Morss verschwimmend. Wo sie eingreift, ist sie mir zugänglicher, so dass ich immer wieder in der Diskussion ihren Gedanken weiterführte, was allerdings nicht erwidert wurde. Mit Grausen sehe ich einiges für mich voraus.

18. Oktober 1990 (2), unterwegs

Günter Matthes schreibt im Tagesspiegel den erstaunlich einsichtigen Satz: »Dass Marx und Lenin das Scheitern ihrer Ideologie überleben, wissen wir.« Es geht um Denkmäler.

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Proton ein »vibrierendes Bündel aus drei Quarks, 2 up und ein down Quark«. Inzwischen glaubt man, 6 Quarks zu kennen: Charm, Strange, Top, Bottom, Up, Down. (Comic strip-Sprache). Diese sollen mit den sogenannten Leptonen die gesamte Materie aufbauen. Das Wort Quark soll Gell-Mann aus Joyce, Finnegan’s Wake, übernommen haben (»Drei Quarks für Muster Mark.«).

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Mörikes Maler Nolten. –Es beginnt mit einer Bildbeschreibung, von der man allmählich verstehen wird, dass sie die fatale Verschlingung der Neigungen vorwegnimmt, die der Roman entfalten wird: Auf offener See in einem Kahn ein derber Satyr mit einem schönen Knaben, den er soeben einer verliebten Nymphe gewaltsam überliefert … Man »vergisst das Ungeheuer über der Schönheit des menschlichen Teils«. – Verknotung: obgleich der Satyr »der Nymphe durch den Raub und die Herbeischaffung des herrlichen Lieblings einen Dienst erweisen wollte, so straft ihn jetzt die heftigste Liebe zu ihr mit unverhoffter Eifersucht«. – Satyr: Seine »muskulöse Figur steht […] seitwärts […] überragt die übrigen. Eine stumme Leidenschaft spricht aus seinen Zügen«. – Ambivalenz: Er möchte sich […] abkehren, allein er zwingt sich zu ruhiger Betrachtung, er sucht einen bittern Genuss darin.« – Ambivalenz des Knaben: Er »beugt sich angstvoll zurück und streckt, doch unwillkürlich, einen Arm entgegen« – fast entflieht ihm »das leichte, nur noch über die Schultern geschlungene Tuch«. – Nymphe: Sie sucht »mit erhobenen Armen den reizenden Gegenstand ihrer Wünsche zu empfangen«.

Ineinander verschachtelte Ambivalenzen: der junge Nolten gegenüber Elsbeth; Quidproquo: der Freund und die Fremde zwischen ihm und seiner Braut.

Bisher: »strebte mit Heftigkeit an mich zu reißen, was mir notwendige Bedingung meines Glücks schien«; – Buße: »bitter«; – Verzicht: »ich habe nun der Welt, habe der Liebe entsagt«; – Sublimation: Liebe »wird ein unvergänglicher Besitz meines Inneren bleiben«, »darf mir nicht mehr angehören, als mir die Wolke angehört, deren Anblick mir eine alte Sehnsucht immer neu erzeugt«; – Philosophie: Große Verluste bringen dem Menschen die höhere Aufgabe seines Wesens nahe […] zu seinem Frieden; – Ästhetische Rekompensation (11): arm-Verlust = reich: »Nichts bleibt mir übrig als die Kunst, aber ganz erfahre ich […] ihren heiligen Wert […] Befreit von der Herzensnot jeder ängstlichen Leidenschaft […] Fast glaub’ ich wieder der Knabe zu sein, der auf des Vaters oberem Boden vor jenem Bilde gekniet«.

Der aufdringliche Knabe, der Modell gestanden hatte: »ein Anteros!«, lautet Noltens anzüglicher Kommentar, einer, der wiederliebt, bei dem man auf Gegenliebe stößt. Der alte Maler Tillsen, in dessen Haus der Bildhauer Raimund einen Raum als Atelier nutzen darf, beschreibt den Jungen so: »Wirklich ein delikates Füllen, schmutzig, jedoch zum Küssen die Gestalt« (2. Buch, 25). Als Raimund seine Verlobte herumgekriegt hat, ihm Modell zu sitzen, wird der Knabe, »Muster« für »einen Amor aus Ton«, entlassen. »Jetzt liegt ihm die aufdringliche Kröte, die sich gar gut gestanden, tagtäglich auf dem Hals, und dass der Junge nicht schon im Hemdchen unters Haus kommt, ist alles.« Hat sogar der »Braut« mit einem Stock aufgelauert.

Larkens: »leidenschaftlich« zu Nolten, dem »Geliebten« (17); dessen Mentor. Pflegt das »gebrochene Liebesverhältnis« Nolten/Agnes, um sich »an der eingebildeten Liebe eines so reinen Wesens« zu freuen. Dazu muss er der Unreine sein mit Sex-Vergangenheit. Selbstmord-Perspektive, Abreise. Er ist gegen den ideologischen Fundamentalismus (er soll Hypochonder wegen früherer Sexualausschweifungen sein, 16): »Wirst insgeheim gegängelt von einem imaginären spiritus familiaris, der in deines Vaters Rumpelkammer spukt.« (12)

Nolten: keine »Diätetik des Enthusiasmus« (14); Kunst kompensiert: »Versuch zu ersetzen, was uns die Wirklichkeit versagt«.

Unerwartet bei Mörike dem Ausdruck Fernsehen begegnet, der eine divinatorische Kraft meint. Höchst sonderbar, was das für die Rezeption bewirkt, wenn ein Ausdruck so stark und fremd eingeholt wird. Ein »Fernsehen nach Zeit und Raum«, »Vorgesicht«, »zweites Gesicht«.

19. Oktober 1990

Frank Heidenreich schickte mir Rainer Lands im Sonntag erschienenen Artikel über meine »Wahrnehmungs-Versuche«. Franks Kommentar zu Land trifft den Punkt: »Er zieht nicht nur gegen eine bestimmte historische Realität des Sozialismus, der sich vom (kapitalistischen) Weltmarktzusammenhang abkoppelte, zu Felde, sondern auch gegen das Vor-Denken einer alternativen ökonomischen Logik«. Land portraitiert mich als Anhänger eines Systembegriffs von »Sozialismus«, obgleich ich mich dagegen in mehreren der Texte ausspreche.

20. Oktober 1990

Ernst Günter Vetter verkündet im Wirtschaftsleitartikel der heutigen FAZ, »dass die politische Kraft der Imperien in der Geschichte auf deren ökonomischer Leistungsfähigkeit beruhte. Sie zerfielen, wenn ihre Wirtschaft erlahmte. Die Auflösung der russischen Weltmacht ist das aktuellste Beispiel für diese These.« So begünstigt diese Zeit einen bürgerlichen Ökonomismus. Freilich zieht das die Frage nach sich, ob in Gestalt der Wirtschaftskraft der BRD, die sich kraft Einverleibung der DDR und Hegemonisierung Mittel- und Osteuropas derzeit potenziert, sich am Ende »eine Basis für eine neue Macht imperialen Ausmaßes« bildet. Denn ohne Zweifel wird die BRD »zu einem ökonomischen Kraftzentrum in Europa«. Er denkt wohl (wie ich): zum stärksten und folglich hegemonialen Zentrum. Er lässt François Furet sagen: »die wirtschaftliche Logik, die heute die Machtverhältnisse bestimmt, ist kaum beruhigender als die militärische«. Um die andern Westeuropäer zu beruhigen, wechselt er das Terrain von der Ökonomie als Basis für imperialistische Politik zur Stimmungslage der Leute: »Die Deutschen träumen von Wohlstand – nicht von der Größe.«

22. Oktober 1990

Enrique Curiel, bis vor wenigen Jahren stellvertretender Vorsitzender der KP Spaniens, erklärte: »Die von Lenin begonnene Reise ist jetzt endgültig zu Ende.« Gemeinsam mit 200 anderen trat er der Spanischen Sozialdemokratie (PSOE) bei.

Auf der Suche nach einem Motto für die nächste Volksuni: Rückwärts in die Zukunft. Oder: Verzweifelte Hoffnung Deutschland. Oder: Deutschland, Deutschland unter anderen.

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Helmut Dubiel (»Die demokratische Frage«, in: Blätter, 4/90): Dem affirmativen Institutionalismus setzten die Linken Anti-Institutionalismus entgegen. So fehle es an Demokratietheorie. Jede Mediatisierung des »Willens des Volkes« werde von den Linken gewohnheitsmäßig abgelehnt. – Falsche Kategorie, rousseauistischer Zungenschlag in diesem doppelten Singular: der (eine) Wille des (einigen) Volkes, statt Cluster oder Assoziation oder wie immer von Willen der Bevölkerung. – Linke Staatstheorie sieht Dubiel »zwischen Herrschaftsdämonisierung und politischer Romantik« (411ff). Er trifft etwas, zum Beispiel auch beim Projekt Ideologie-Theorie. Aber er kippt dann doch zu sehr in die affirmative Grauzone (besser: rosa Zone).

Claude Lefort bestimmt in Anlehnung an Hannah Ahrendt das »symbolische Dispositiv der Demokratie«: 1. radikaler Abbau transzendenter Rechtfertigung politischer Herrschaft, die vollends entzaubert wird; 2. »alle Themen zulässige Streitgegenstände im öffentlichen Diskurs« (das heißt in einem »sozial unabgeschlossenen Diskurs«); 3. Artikulation der realen Vielfalt muss möglich sein. Erst dann lässt sich von Zivilgesellschaft sprechen: »Assoziation von Bürgern, die sich nicht mehr als eine fest gegliederte, historisch abgeschlossene quasi körperhafte Einheit erfährt, sondern buchstäblich als ein zur Zukunft hin offenes ›politisches Projekt‹, das die Bedingungen seiner eigenen Programmierung ständig zur öffentlichen Disposition stellt.« (417f) Dubiel sieht diesen Impuls in der osteuropäischen Umwälzung am Werk. Terminologie: »nur ein Dispositiv« bedeutet bei ihm: »ermöglichende Struktur« (418). Dagegen steht »Flucht in vordemokratische Einheitssymbolisierungen wie ›Volk‹ oder ›Nation‹«.

Was Dubiel nicht weiß (oder unterschlägt), ist die Tatsache, dass im Projekt eines »Pluralen Marxismus« seit einem guten Jahrzehnt solche Aspekte zunehmend deutlich in marxistisches Denken eingearbeitet werden, freilich eingebettet in eine viel komplexere Wirklichkeitsanalyse. Für ihn scheint Herrschaft vor allem ein Seminarthema.

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Zivilgesellschaft. – »Zivile Gesellschaft« bestimmt Volker Gransow als »Entstaatlichung von Gesellschaft als Ziel und Prozess. Das bedeutet nicht ›Absterben des Staates‹, sondern einen staatlich garantierten Bereich individueller Freiheiten und autonomer Sozialbeziehungen.« (»Bocksprung in die Zivile Gesellschaft?«, in: Blätter …, 12/89) Merkwürdigerweise sieht er dergleichen schon bei Aristoteles. »Die Neudiskussion des von Aristoteles bis Gramsci bekannten Begriffs begann als Reaktion auf die entstehende autonome Organisation von Teilen der polnischen Gesellschaft um 1980. Es ist möglich, dass ›Zivile Gesellschaft‹ zum Schlüsselbegriff einer neuen Kritischen Theorie wird, weil hier wichtige Elemente sowohl der radikalen Demokratie wie des Sozialismus ›aufgehoben‹ werden.« (1443) Verweist auf Andrew Arato, »Civil Society, History & Socialism«, in: Praxis International, 1/2, 1989.

23. Oktober 1990

Die Jugendlichen aus der DDR stolzer, Deutsche zu sein, als die gleichaltrigen Westdeutschen.

Mathias Schreiber (in der FAZ vom 19.10.) über die »Namensnot« beim Reden über das, was bislang DDR hieß. Dieses Zeichen, DDR, erklärt er für »ein eklig belastetes Stasi-Propagandakürzel«. So mimetisiert der feine Herr Ästhet eine Wut von unten. Manche sprechen jetzt von den »fünf neuen Bundesländern« oder einfach von den »fünf neuen Ländern«. »Ost-Deutschland« lehnt er ab, weil dieses Namenlose die Mitte sei. Die Bundespost nennt die DDR »VGO« (heißt das »Verwaltungs-Gebiet Ost«?), lässt aber sicherheitshalber auch »DDR« auf die Säcke schreiben. In unserem Reichelt-Supermarkt hängen Schilder an den Kassen, die einem mitteilen, dass DDR-Münzen bis 50 Pfennig »nur in der DDR gelten«, daraus entnehme ich, dass es, wo’s ums Geld geht, die DDR noch gibt.

In der Hauptstadtfrage droht der FAZ-Herausgeber Fack den Berlinern an, falls sie wieder mehrheitlich rot-grün wählen, »wird Bonn das Rennen machen« (19.10.).

In Moskau stellte vergangene Woche Abel Aganbegjan Gorbatschows Wirtschaftsprogramm vor. G sei tatsächlich »der Hauptautor des Dokumentes«; er habe mehrere Tage daran gearbeitet, und »jeder Punkt wurde mit ihm abgesprochen«. Laut TASS ist es nun klar: »Es wird keinen Kapitalismus in der UdSSR geben.« Die einzelnen Republiken sollen über das Tempo der Durchführung entscheiden sowie über »Sein oder Nichtsein« des Privateigentums an Boden.

Die Hass-Reaktion habe ich ja in Dubrovnik zu spüren bekommen, etwa aus dem Munde von Valerij Podoroga. In Moskau gründete sich jetzt eine »Demokratische Union« als antisozialistische Sammlungsbewegung.

Bourgeoise Ausbeutungskritik. – Nach dem Sturz des ›realsozialistischen‹ Sicherheitsstaats eröffnet Ernst-Otto Maetzke in der FAZ (19.10.) eine neue Front, die er, den Sozialismus beerbend, als Front des Kampfes gegen Ausbeutung artikuliert: »Nicht mehr die Herrschenden saugen den Bürger aus, […] sondern die Bürger erwürgen den Staat mit Ansprüchen.« Diese Gefahr malt er als tödlich: »Der realexistierende Sozialismus ist untergegangen; die realexistierende Demokratie ist nicht davor gefeit«. Anlass für das Alarmgeschrei ist, dass die Reichen mehr Steuern zahlen sollen. Die Haushaltskrise in den USA und der Generalstreik in Griechenland dienen als Demonstrationsobjekte.

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Nicht vergessen: Die Zensurgeschichte, die mir Wladimir in Dubrovnik erzählt hat. Als er die Fernseh-Diskussion »Marx-Lenin-Gorbatschow« übersetzt hatte, veranlasste Frolow die Streichung eines einzigen Satzes, und zwar einer Äußerung von mir: Als Nelly Motroschilowa mir vorgehalten hatte, es sei schade, dass ich die sowjetische Philosophie-Literatur in den »Woprossy« nicht verfolgt habe, sagte ich: »Das war, als müsste man in einem Heuhaufen nach einer Stecknadel suchen.« Anscheinend fühlte er sich mit-gemeint.

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