Buch lesen: «Jahrhundertwende», Seite 6

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5. Oktober 1990

Der US-Dollar auf historischem Tiefstand, nachdem die Fed verlauten ließ, man wolle keine neuen Zinssteigerungen. Um dennoch, in Konkurrenz mit dem deutschen Kapitalbedarf, Geld ins Land zu kriegen, muss man das eigene für die Ausländer verbilligen: billiger Dollar als Ersatz für teures Geld.

Barbier weitet in der FAZ hierfür den Begriff des Teilens aus: Nachdem alle Politiker davon gesprochen haben, im neuen Deutschland müssten die Reicheren mit den Ärmeren (d.h. denen aus der DDR) teilen, die Regierung der Reichen aber entsprechende Steuererhöhungen (vor den Wahlen) ausschließt, erklärt die FAZ nun die Finanzierung über den Kapitalmarkt »mit ihrer rationierenden Wirkung« zu einer Form des Teilens, weil diese Kreditaufnahmen die Zinsen hochtreiben. Natürlich schweigt das vom Nehmen, blendet die Zinsnehmer aus.

In der BRD nahm die Arbeitslosigkeit im September um 85 000 ab (auf 1,73 Mio), in der DDR nahm sie um 83 500 zu und stieg auf 450 000. Das sieht nach einem Nullsummenspiel aus: was die DDR verliert, gewinnt die BRD. Das täuscht aber. In der DDR nahmen die Kurzarbeiter um 271 700 auf 1,8 Mio zu, und das Neusprech wurde um den paradoxen Euphemismus »Nullarbeit« bereichert. Mindestens 20 Prozent der »Kurzarbeiter« sind auf »Nullarbeit« gesetzt, also »Nullkurzarbeiter« oder kaschierte Arbeitslose, was deren Zahl fast verdoppelt. Seit dem Vorjahr hat die Zahl der Arbeitsplätze in der BRD um 700 000 zugenommen.

Zum Auftakt der deutschen Einheit alle Generäle der NVA entlassen, ebenso alle Regionaldirektoren der »Treuhand«, die man durch westdeutsche Unternehmer bzw. deren Manager ersetzt.

Vietnam lehnt sich an China an.

6. Oktober 1990

Ligatschow nannte die Rechts-links-Unterscheidung im gegenwärtigen politischen Spektrum der SU »primitiv«. Hauptgegner der KPdSU seien »national-separatistische und revisionistische (?) Kräfte«, die einen »bourgeoisen Entwicklungsweg« bei Auflösung der Sowjetunion wollten. L. schreibt an seinen Erinnerungen.

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Klaus Bochmann erzählt, sein Ältester (Martin, 14), der nie etwas für die FdJ übriggehabt hat, sei am Tag der Einheit im Blauhemd zur Schule gegangen. Seine Clique hatte das so verabredet.

Brief von Kathrin A., jener Pädagogikstudentin aus Leipzig, die in Philosophie (oder war es »Gesellschaftswissenschaft«?) eine Abschlussarbeit über meine Schriften machen sollte. Auch dieses Projekt einer nachholenden Rezeption ist nun abgebrochen.

Obwohl in Zeitnot, schreibe ich ihr postwendend: Dein Brief hat mich bewegt, mehr, als Du annehmen magst. Seine Trauer steckte mich an, denn die Erfahrungen, die wir mit der neuen Einheit auf unseren Tätigkeitsgebieten inzwischen machen konnten, stimmen nicht froh. Aus der Ex-DDR spüren wir einen enormen Opportunitätsdruck, der es noch schwerer macht, kritische Positionen aufrechtzuerhalten. Dazu bedrückt es, ohnmächtiger Zeuge zu sein, wie unsere Herrschenden generalstabsmäßig die Machtpositionen besetzen, als wäre da ein Krieg verloren worden, und wie sie außerhalb aller Demokratie einen Kreuzzug des Kapitalismus gegen alle ihm nicht unmittelbar subsumierten Eigentumsformen durchführen (ich denke vor allem an Genossenschaften). Vieles, was jetzt passiert, ist mir zuwider. Zumal, was Du aus der Hochschullandschaft schilderst. Fred Jameson, ein amerikanischer Marxist (ja, das gibt es), den ich heute traf, verglich die Art, wie der BRD-Staat mit der DDR umspringt, mit der Besetzung der Südstaaten durch den Norden nach dem amerikanischen Bürgerkrieg. Offenbar hat man auch damals zielgerichtet jegliche politische Eigenständigkeit zerstört. – Und doch fiel mir beim dritten Überlegen auf, dass mir viel wohler sein könnte, wenn Du und Deine Generation nicht mit Nostalgie reagierten. Nachweinen können wir dem, was als bessere Möglichkeit für einen viel zu kurzen historischen Moment aufschien, nicht aber dem alten Regime. Und weil dieses in Wahrheit schon lange keine Zukunft mehr hatte und also auch jemandem wie Dir keine bieten konnte, ist Dein, wie Du schreibst, »eigenartiges Gefühl, mit 22 Jahren eine Vergangenheit zu haben«, eine Selbsttäuschung. Es ist vielleicht doch das Ende einer vormundschaftlichen Imagination, was Du mit derart gemischten Gefühlen nur halbklar registrierst. Nicht dass es keine Hoffnungen und Ziele gäbe, um die jetzt gebangt werden muss. In jenem Imaginären steckt auch unendlich Wertvolles und hoffentlich irgendwann einmal Zukunftsfähiges, das jetzt unterschiedslos niedergemacht werden soll. Um es zu retten, müssen wir es aber kritisieren und ins Illusionslose übersetzen. Momentan fürchte ich mich vor der Rückblickshaltung, die Dein Brief ausdrückt, weil sie erwarten lässt, dass Dich so die einzig wirkliche Zukunft gleichsam von hinten ereilt. Es ist nicht einmal auszuschließen, dass diese Rückwärtsgewandtheit bei vielen nur ein kurzes Durchgangsstadium ist, um sich später desto rückhaltloser nach der neuen Decke zu strecken. – Es geht mir mit diesen Andeutungen nicht um Altersweisheiten, wie Du als jemand, die noch in der Straße der Jugend wohnt, annehmen magst: sondern um die Verteidigung einer Hoffnung, die ich in Dich und Deinesgleichen setze. Bitte schreibe, wie es Dir weiter ergeht, und schau mal wieder vorbei. Ich schicke Dir mit gleicher Post mein »Perestrojka-Journal«, von dem ich vermutlich erzählt habe. Bin neugierig zu erfahren, was Dir daran fremd ist und ob es etwas gibt, wo unsere Welten zusammenhängen.

7. Oktober 1990

Sibylle Haberditzl schreibt zum Perestrojka-Journal: »Ich habe heut Nacht bis 1/2 vier Uhr früh in Deinem Journal gelesen und möchte Dir für Deine Arbeit und Ungeschminktheit danken. Viele Einzelheiten sind da wie Eislers Fliege in Bernstein aufbewahrt, sehr bewegend und nützlich. Ein Meisterstück Deine und Friggas Aufzeichnungen aus Moskau. – Die Silvesterfeier mit den Eisler-Liedern7 war übrigens erst 1969/70 – also noch zwei Jahre länger war Eisler hier unbekannt.«

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Schewardnadse auf der 45. UNO-Vollversammlung: Das Ende des Kalten Krieges ermöglicht die Renaissance der UNO. Ein »Lichtjahr« Entfernung zurückgelegt seit 1989. Die Zwangsmaßnahmen gegen den Irak artikuliert er als Ausdruck des Neuen Denkens mit seiner Dominanz gesamtmenschlicher Interessen. Seine Aussagen beschreiben aber natürlich keinen Zustand, sondern ein Seinsollen, eine Bestrebung, die hegemonial werden soll: »Von nun an ist die Weltgemeinschaft gewillt, nach einheitlichen Normen zu handeln.« Daraus folgt: »Dass der Rüstungsstand eines Landes nicht sein ausschließliches Recht und seine Prärogative sein, dass ihm in dieser Hinsicht nicht freie Hand gelassen werden darf.« Die UNO soll mit militärischer Exekutive ausgestattet werden. – Schewardnadse sieht die Gefahr, dass auf den Eisernen Vorhang der Elendsvorhang zwischen Norden und Süden folgt. Die UNO soll sich gegen wissenschaftlich-technischen Monopolismus einsetzen.

In der FAZ vom 15.9.90 berichtet Walter Haubrich über die von Octavio Paz organisierte Intellektuellenkonferenz, von der mir Bolívar Echeverría erzählt hat. »Semprun konstatierte erfreut das Verschwinden des Parteien und Regierungen eng verbundenen ›organischen‹ Intellektuellen, der er selbst ja als Mitglied des Politbüros der KP Spaniens gewesen war, und meinte, die westliche Linke habe die Dissidenten in Osteuropa nicht genügend unterstützt. Die Marktwirtschaft […] habe endgültig [!] ihre Überlegenheit bewiesen, und die Geschichte habe gezeigt, dass die Arbeiterklasse nicht die Gesellschaft führen könne. Als ›organische‹ Intellektuelle im Sinne Sempruns wurden […] auch Heidegger und Lukács wegen ihrer Unterstützung totalitärer Diktaturen kritisiert. Dagegen pries der ungarische Philosoph Ferenc Feher [in der FAZ: Seher] den tschechoslowakischen Präsidenten Vaclav Hável als Beispiel eines ›unorganischen, aktiven, post-machiavellistischen Intellektuellen‹.«

Hans-Christoph Rauh, der mich noch vor kurzem (1988?), als das in seinem Land noch einer üblen Nachrede gleichkam, zum Postmarxisten machte, ist jetzt Postmarxist.

9. Oktober 1990, Flug nach Stuttgart

Die Mauer aus der Luft – nur mehr eine Schneise in der Landschaft, eine Straße vielleicht; ich meine schon zu sehen, wie sich diese Verletzung der Landschaft wieder schließt, allenfalls Narben hinterlassend, wie einmal der römische Limes.

Die bisherige Weltordnung des Ost-West-Antagonismus definierte für unsere Mächtigen übermächtige Zwänge, auf die sie Rücksicht zu nehmen hatten. Wer zu den Herrschenden antagonistisch stand, konnte sich gleichsam an jene Struktur anlehnen. Für die Bundesrepublik hieß das: das Deutsch-Nationale war durchkreuzt. Jetzt ist diese Blockierung weg; wir sind mit unseren Herren und unseren politischen Antagonismen allein.

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Analysiert man die Gemengelage der Motivationen genau, zeigt sich, dass viele heimlich der Diktatur nachweinen. Mein Journal ein Probemedium, damit der Umbau nachvollziehbar, Treue im Verrat.

9. Oktober 1990 (2)

Vom Flughafen zu Theo Bergmann. Er ist Spitzenkandidat der Linken Liste/PDS. Finde ihn vom Laster der Politiker eingeholt: ruppig-schnelle Urteile, schwach im Zuhören.

Lesung aus dem Perestrojka-Journal in Stuttgart: Wendelin Niedlich, dieser Glücksfall eines Buchhändlers, fand mich zu romantisch. Die Träume zu sehr im Vordergrund.

10. Oktober 1990

Als es meiner Mutter schlecht ging, sah in einem Sessel ihre Mutter, im anderen mein Vater. Die Toten stehen ihr bei. Ihre Toten.

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Abends, als ich durch Stuttgarts Innenstadt der Buchhandlung Niedlich zustrebe, meine ich zu sehen, dass diese multinationale Straßenbevölkerung das Proletariat von heute sei.

In der Diskussion wendet sich jemand gegen »das Gerede von der Revolution« in der DDR: kein anderes Volk könnte seine Regierung durch Davonlaufen erpressen.

Der Taxifahrer gegen Rommel (den Oberbürgermeister), weil der Ausländer ins Mietshaus reingesetzt habe. Irrsinnige Geschichten, wohlgehütetes Imaginäres, um den Hass gegen »die Ausländer« zu hegen: Muslime, die mitten auf der Treppe oder mitten auf der Straße vor seinem Auto, »im Dreck!«, wenn er es eilig hat, ihren Gebetsteppich ausbreiten und »zum Neckar« – so übersetzt er Mekka – hin beten. – Die Ausländerfrage = das Auseinander der Arbeiterklasse.

Derselbe Taxist, unermüdlich gesprächig, hatte eine merkwürdige Mischung aus potenziell kritischem Wissen und Entschärfungen der Kritik auf Lager. Von verfälschten Lebensmitteln und dass es noch keinem geschadet habe und so. Hengstenbergs angebliches Filderkraut, das aus Jugoslawien stammt. Er ist Ostpreuße, aus Allenstein; seine Kinder und Enkel lernen und kultivieren angeblich den ostpreußischen Dialekt, sozusagen als Zweitdialekt neben dem Schwäbischen, das ihre wirkliche Heimatsprache ist.

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Was wir vom »Argument« nicht geschafft haben, das hat »Niemandsland« geschafft: die Fusion mit einer der DDR-Neugründungen.

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Meine Mutter schwankt. Mal wollen ihre Toten sie zu sich holen, mal stehen sie ihr bei. Ich versuche, sie darin zu bestärken, dass sie ihr beistehen.

Die Tränen meiner Mutter. Jetzt, im Zug, die meinen. Ob wir uns noch einmal sehen, fragte sie.

11. Oktober 1990

Leere Säle in Stuttgart und Ulm, wo ich aus dem Perestrojka-Journal vorlesen soll. Das Thema tot. Der Wind bläst mir ins Gesicht. In Ulm, in der kalten, lauten ehemaligen Fabrikhalle des Roxy 20 Leute, darunter zwei »Groupies«, ein von vorneherein Abgeneigter, der bald geräuschvoll geht, ein Ex-Maoist, alles immer schon besserwissend, ein Verdrehter, dem man die wie auch immer bewirkte Zerstörung seiner Vernunft nicht ansieht. In Stuttgart, bei Wendelin Niedlich, waren es nur sieben, dafür ausnahmslos gute Gesichter.

12. Oktober 1990, Dubrovnik, Inter-University-Center

West-östliches Seminar über Ästhetik und Politik

Valeri Podoroga über Eisensteins Gewalt-Ästhetik, die er sehr »russisch«, aber merkwürdigerweise mit Foucault (Überwachen und Strafen) artikuliert, vorführt. Aus Eisensteins »Streik«: Schlachthausszene mit Streikenden vs. Soldaten geschnitten. Zelebrierte Verstrickung. Ich komme mir diesseitig, ja hausbacken vor. Körperzauber: »Nur der zerstörte menschliche Körper kann die Grenzen seiner Expressivität realisieren.« Protoplasmatische Körper: alles Solide zerstört und rekonstruiert, so dass sie Spuren oder Erinnerung der Zerstörung an sich tragen.

Die unheimliche Arbeit am Bild. Die Wahrheit über das Nehmen desselben. Das zeitaufwendig Hochkomponierte dem flüchtig-momentanen Verbrauch dargeboten, der nicht anders kann, als sich unmittelbar absorbieren zu lassen.

Man schießt Fotos. Aufnahme konnotiert anders: a take. Im Gebrauch liegen die Grenzen anders.

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Vor allem seinetwegen habe ich Fred Jamesons und Susan Buck-Morss’ Einladung angenommen: Merab Mamardaschwili aus Tbilisi. Nelly Motroschilowa hatte von ihm respektvoll geraunt. Vielleicht zehn Jahre älter als ich, kahl, an Foucault erinnernd und im Gestus etwas Französisch-Mediterranes. 1946, »im dunkelsten Tunnel«, entschloss er sich (kam ihm »der Funke in den Sinn«), ein linguistisches Fenster aufzumachen: lernte Englisch, und zwar mittels eines Radios Marke Mende (Nordmende?). Die Bücher, die nicht da sein sollten und sich doch einfanden: Dickens, Hemingway, wurden zu Stützpunkten einer anderen Weltmöglichkeit. Später lernte er Französisch, Italienisch, Spanisch; er liest Deutsch.

Die Brücke zwischen Ost- und Westintellektuellen muss gebaut werden, sage ich. Ja, erwidert er, und sie kann nur persönlich gebaut werden, im Gespräch. – Deshalb bin ich hergekommen, sage ich. Aber das Gespräch ist rätselhaft schwierig.

Unser (westlicher) Marxismus hat vielleicht die gleiche Funktion wie ihr (östlicher) Mystizismus: Distanznahme im Verhältnis zur legitimierenden Macht des Faktischen der Herrschaft.

Das Gefühl, dass auch ich meine Art von Rückzug antreten muss, aber in der widerständigen Materie einer sozialen Denkwelt, deren Besseres niemals preisgegeben werden darf.

Valerij Podorogas Interesse für die Ästhetik des Schreckens – Bohrer wäre sein Gesprächspartner. Ich verstehe nur vage und per analogiam, warum dieses Thema, und warum so? Ich müsste seinen archimedischen Interessenspunkt suchen, um ihn durch Kritik zu verstehen. Variante des Gefühls der Ohnmacht im Verhältnis von Diskursformationen: nicht kritisieren zu können. Hermeneutischer Stierkampf. Vorm Untergehen suche ich mich zu retten, indem ich mitten im unverstandenen Vortrag Notizbuch führe – wie früher im Café. Die anderen mögen denken, ich schriebe mit. So trage ich bei zum Seminarbluff.

Merab bricht in den hermetischen Diskurs durch Vergleiche ein, lenkt die Aufmerksamkeit auf die Behandlung des Auges bei Eisenstein im Unterschied zu Buñuels Chien andalou.

Valerij fasziniert von Hitlers Megalomanie, der phantasmatischen Architektur, den Plätzen, die von der Masse auszufüllen, die nur in Simulation leben könne. Bei Eisenstein das Schafott in die Inszenierung geschlüpft.

Fred Jameson versucht, seinen westmarxistischen Diskurs anzuknüpfen, spricht von der unaufhebbaren Spannung zwischen Freud und Marx, von der Frage, ob Gewalt aus der Kindheit oder aus der gesellschaftlichen Umgebung komme, aber das bleibt äußerlich. Podoroga repliziert mit der Produktivität der Gewalt. Jeder von uns, jede Epoche, habe einen eigenen Gewaltstil.

Jameson kann als fast plumper Vertreter gesunden Menschenverstandes ungemein imponieren. Man ahnt das US-Milieu, die Konkurrenzen und Gremien, worin er trotz seines Marxismus seinen Weg gemacht hat.

Die Gruppe »Objektive Philosophie« zieht die Worte Mumie und Simulakrum zu »Mumakrum der Macht« zusammen, und meint damit das Lenin-Mausoleum. Großes Gelächter bei einigen Moskauern. Das inspiriert Merab, einen Witz von 1954 zu erzählen, als Stalin noch neben Lenin im Mausoleum lag. Fragt einer, wer ist das? Antwort: Stalin. Und, auf den einbalsamierten Lenin deutend, wer ist das? Antwort: Stalins Lenin-Orden.

13. Oktober 1990

Boris Groys gehörte zum Freundeskreis von Komar & Melamid (Sots Art). Er sei aus der SU als Marxist weggegangen. Behauptet eine Homologie zwischen Stalin und dem Künstler als diktatorischem Absolutisten totaler Weltrekonstruktion.

Die SU als Konsumentenstaat. Dominanz der Frage, was können wir vom Westen nehmen, nie, was können wir geben.

14. Oktober 1990, Sonntag

In der International Herald Tribune von vorgestern ein Abgesang von William Pfaff auf Reaganomics und Thatcherismus (»The Economics of Innocence Gets its Comeuppance«, ursprünglich für die Los Angeles Times geschrieben). Nicht der Appell an den Eigennutz sei ihre stärkste Zugkraft gewesen, sondern ihre »Unschuld«, ihr »Rousseauismus«: die gute Natur korrumpiert durch menschliche Einmischung … Pfaff reflektiert nicht darüber, dass hier unter »Natur« das Gewimmel menschlichen Wirtschaftshandelns gedacht wird, während »der Mensch« für den intervenierenden Staat steht. Diese Eigentümlichkeit zu analysieren, würde den Diskurs zu weit führen. Er will ja nicht auch nur den Schatten eines Zweifels auf die kapitalistische Wirtschaftsform werfen, sondern innerhalb derselben eine etwas andere Wirtschaftspolitik. Das Ende der Reaganomics sei vergangenen Freitag gekommen, als George Bush »shut down the American government for lack of money to pay to go on«, womit Thatchers Kapitulation vor der deutschen Währungspolitik zusammengefallen sei. In England die Zinsen heute so hoch und der Wirtschaftszustand so schlecht wie damals, als Thatcher zur Macht kam; die Inflation doppelt so hoch wie bei den westeuropäischen Konkurrenten. In den USA war die Illusion geschürt worden, man könne alles haben, ohne zu bezahlen: »Weltführungsrolle, hohe Militärausgaben, Raumforschung, old-age-entitlements, billiges Benzin, Sparkassenbetrug (Savings-and-Loan-Krise), Armeen an den Golf«. Umsonst, weil man glaubte, Steuersenkung würde die Konjunktur anheizen und das Steueraufkommen vergrößern. Der Thatcherismus nicht so naiv. »Er war eine harte Doktrin gnadenloser Privatisierungen, dem Markt überlassend, was immer ihm überlassen werden konnte: Flüge & Züge, Wasser & Strom, Gesundheit, Kunst, Unterhaltung, Bildung, Forschung, die Zukunft der Nation selbst«. Gewaltsame Operationalisierung von Adam Smith: »Es machte ein Prinzip der theoretischen Ökonomie zu einer operationalen Doktrin.« Annahmen: Effizienz als solche = gesellschaftlich nützlich, ja sogar ethisch gut. Jetzt flottieren die Zinsen für Hypotheken auf Grundbesitz, d.h. die Eigenheimbesitzer müssen bluten. Das geht an den englischen Nerv.

Die Kritik von links hatte immer gelautet: Institutionalisierung und Ausbeutung des Eigennutzes mit dem Effekt, die Reichen reicher und die Armen ärmer zu machen. Pfaff haut sie mit ihren Waffen: sie sind im Grunde vom selben Schlag, aus dem die »Saint-Justs, Lenins und Pol Pots« entspringen. Prima! Nun haben die Kritiker ihr Fett weg, und niemand soll merken, dass Pfaff sich in den Aporien des Kapitalismus herumtreibt.

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Dragan über die jugoslawischen Verhältnisse: 1000 DM vor einem Jahr noch ein Vermögen, jetzt kaum mehr viel. Die Löhne verdoppelt, aber die Preise verdreifacht. Sieht keine Chance. Eine unproduktive Gesellschaft.

15. Oktober 1990

Merab: Individualität, Diskontinuität, Irreversibilität – postklassische Gesichtspunkte. Nietzsche und Heidegger als Zeitgenossen, Marx der erste, dem der Zweifel dämmerte.

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Kaum ist die Nachkriegszeit beendet, ist eine neue Vorkriegszeit angebrochen. Die FAZ spielt mit dem Konzept.

Auf dem Korso der Altstadt von Dubrovnik beobachte ich folgende Gebrauchsweise von Jeans: über einem schwarzen Trikot Jeans, denen die Hosenbeine abgerissen sind, und zwar irre weit oben, heiße Höschen: die Trägerin vielleicht 15, mit ihren Freunden flanierend.

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Valerij Podoroga: Nachdem Ligatschow weg ist, gibt es nur mehr ein letztes Hindernis für die Perestrojka, und das ist Gorbatschow selbst. Ich fragte Merab Mamardaschwili nach seiner Meinung dazu. Er erwiderte, er habe keine, weil Gorbatschow für ihn kein Gegenstand seines Nachdenkens sei – seit 20 Jahren habe er sich geweigert, Politiker auch nur wahrzunehmen. Keiner der Mächtigen soll ihm in der Sonne stehen.

Valerij will mir die Bedeutung von Nikolai Trawkin (Chef der Demokratischen Partei) einschärfen, der viel wichtiger sei als G. Popow. Merab ironisch: Ja, er ist schön exotisch.

Heidegger ist Merab unangenehm, aber fast einziger Zeitgenosse für ihn. Beschreibt ihn als verführt von seiner eigenen Sprachkraft, Poesie, was seinen Gedanken immer zu früh enden lasse. Er selber arbeite an einer Metatheorie des Bewusstseins. Hat soeben ein Buch über Descartes in Druck gegeben.

Was uns auseinanderwirft –

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Bei Rozarij, wo man den besten frischen Fisch in Dubrovnik bekommt, wird am Nebentisch über den Round Table von Cavtat gesprochen. Ein Amerikaner sagt, er habe einen Brief von Paul Sweezy erhalten.

Im Unterschied zu FH, die für Teile der Frauenbewegung arbeitet und von ihnen getragen wird, keine soziale Bewegung, für die zu arbeiten. – Zu lehren wird mir immer suspekter.

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Perestrojka. – Die Prawda soll fürchterlich niedergehen. Freund Frolow hat alle gegen sich, die »Konservativen« und die »Liberalen«; die ersten, weil er ihnen Gorbatschows Kurs aufzwingt, die zweiten, weil er keine Ahnung von Journalismus hat. Jetzt soll die Prawda autonom werden. Bin neugierig, wo das Stehaufmännchen wiederkehrt.

Le Monde vom Samstag behauptet, die Japaner seien verbittert, weil nur Deutschland jetzt seine Vergangenheit als besiegtes Land losgeworden sei.

Assad kriegt die pax syriana im Libanon als Gegenleistung für sein Bündnis mit den USA. Ägypten gewarnt durch die Ermordung des zweiten Mannes im Staat. Jameson meinte, auch das Attentat gegen Schäuble sei in diesem Zusammenhang zu sehen. Er machte mich auf den Artikel von Rafic Boustani und Philippe Fargues aufmerksam: »Entre Golfe et Méditerranée« (Le Monde, 13.10.). Klientelisierung der arabischen Welt durch das Petrogeld der Golfregion. Die Ökonomie des arabischen Nahen Ostens, des »Mashrek«, dreht sich seither um die Verwaltung des Einkommens. Der kosmopolitischste Arbeitsmarkt der Welt. Auch darauf hatte Fred geachtet: der Artikel zeigt, dass beide viktimisierte Länder, der Libanon wie Kuweit, eine in der arabischen Welt beispiellos freie Presse gehabt hatten, die nunmehr ausgeschaltet ist. Der König war nackt: die Verschiebung des Gravitationszentrums des Mittelmeers an den Golf hat den Leuten nichts gebracht.

George Bush laut FJ »in freiem Fall«.

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