Buch lesen: «Jahrhundertwende», Seite 20

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21. August 1991 (2)

Tränen bei der Nachricht vom Scheitern des Staatsstreichs und der Rückkehr Gorbatschows. Und das, wie eine symbolische Revanche, am Jahrestag des Einmarschs in Prag 1968. »Freude« zu sagen, wäre untertrieben. Der artesische Brunnen des Gemeinwesens, Emotionen, die unter großem Druck eingeschlossen und normalerweise von der Oberfläche verbannt sind.

Die vielen Nachrufe auf G von gestern sind – von gestern.

Andrej Gurkow von Moscow News, der gestern sich um die Chance der Rückkehr in die Sowjetunion geredet zu haben schien, sprach aus, was auch mir durch den Kopf gegangen war: endlich haben die Moskauer, die Russen, hat das Volk einen Erfolg erlebt, nachdem seit langem alles immer nur das depressive Gefühl der Misere vermittelt hatte; dieses Erfolgserlebnis wird neue Energien freisetzen.

Otto Lazis, blass, mit depressiv hängenden Gesichtszügen, erklärte mit ausdrucksloser Stimme die KPdSU für »nicht mehr existent«. Seine Argumente: Die Partei wurde nicht konsultiert vor dem Putsch, war also nicht aktiv involviert, schwieg dann fast zwei Tage, bis endlich heute Iwaschko forderte, mit Gorbatschow zusammenzutreffen. Dieser war der Mann des Kompromisses, sagt auch Lazis, und die Zeit der Kompromisse ist vorbei.

Der Staatsstreich ist gescheitert, weil, wie es heißt, von drei Divisionen zwei »zu Jelzin« übergelaufen seien. Ausgerechnet jener General Makaschow, dessen Allüren des Starken Mannes schon vor dem Parteitag Putschgerüchte genährt hatten, stellte sich »als Russe« zu Jelzin.

Meinen Freitag-Artikel übers Telefon im Züricher Alternativradio »LoRa« verlesen. Obwohl gestern geschrieben, war er ganz heutig.

22. August 1991

Die FAZ liest sich den Umsturz des Umsturzes in Moskau so zurecht: »Der Kommunismus ist besiegt«; »Das Volk […] stand auf«; »der Held von Moskau«, Boris Jelzin, hat jetzt »freie Bahn, mit den reformerischen Halbherzigkeiten, welche die Politik des sonst so verdienstvollen Gorbatschows kennzeichneten, Schluss zu machen« – offenbar durch Erzeugung einer Privatwirtschaft von Unternehmern und Besitzern. »Denn dies zeichnet sich bei allen Reformversuchen in Osteuropa immer deutlicher ab: Je größer die Restposten sind, die vom Realsozialismus in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft mitgeschleppt werden, desto schlechter werden die Chancen eines raschen Wiederaufbaus« usw. (Fack im Leitartikel). Kreuzzug, x-te Folge: Sozialzersetzung (staatlich erzwungene Privatisierung). Versprechen: dann kommt das Wirtschaftswunder, dann wendet die unsichtbare Hand des Marktes rasch alles zum Guten. Derweil vertrustet sich der transnationale Kapitalismus weiter. Das blitzkriegartige Plattmachen der DDR-Wirtschaft wäre nur das Vorspiel. Nichts Eigenständiges käme hoch gegen die übermächtige Konkurrenz. Nur dass im weiten Russland riesige Gebiete verdumpfen würden. Und während in der winzigen DDR die bisherigen »Genossen« die Chance haben, entweder in Sozialrentner verwandelt zu werden oder in ganz normale Lohnarbeitende, deren Chefs zwar aus dem Westen kommen, aber zumeist Deutsche sind wie sie, also auch all dem unterworfen, was das Parlament an Sozialstaatlichem aushandeln mag, gibt es im Osten Europas, von den asiatischen Teilen der SU ganz zu schweigen, nichts davon. Die Rosinen aus jedem Kuchen werden vom Auslandskapital übernommen. Die ökonomische Gewalt, nunmehr dominanter Gewalttypus, kann nichts anderes sein als die der ökonomisch Gewaltigen: das sind heutzutage global planende komplexe Riesenapparate, Staaten nicht mehr im Staat, sondern quer zu den Nationalstaaten, eben transnationale Durchdringungen. Ihre Macht in einem Land ist desto größer, je geringer dessen politische Artikulationsmacht ist. Länder, die beides vereinen: strategische Knotenpunkte des transnationalen Kapitals und nationale Politikfähigkeit, die also den transnationalen Interessen einen »nationalen« Charakter aufzuprägen vermögen, bilden die Zentren dieser Weltordnung. In ihnen bildet sich eine strategische Allianz von Marktinteressen und national-demokratischen Interessen. Die machtgeschützte ›Naivität‹ ihrer Vertreter, ihre ignorante Selbstgerechtigkeit, ist eine wesentliche Bedingung ihrer imperialen Expansion. Indem sie den schwächeren Nationen oder Ländern ihr politisches System nahebringen, entfernen sie diese von der ökonomischen Fortüne, mit der sie locken. Wann immer die weniger Akkumulationskräftigen der Peripherie direkt nach dem politisch-ökonomischen Modell der Zentren greifen, verbauen sie sich den Weg zu eigenständiger ökonomischer Entwicklung, werden zu Absatzmärkten, Lieferanten von Ressourcen aller Art, dinglicher wie menschlicher, zum politisch unabhängigen ökonomischen Vasallengebiet. Ihr Status wird der der unabhängigen Abhängigkeit, der abnehmenden Zulieferer. Sie sinken aufs Niveau staatlicher Lohnunternehmer, denen hegemoniale Unternehmen von außen die terms of trade diktieren.

Auch die TAZ ließ »das Volk« dem Ruf Jelzins folgen. In Wirklichkeit kamen in Moskau nicht eben viele. Ihr Mut war ungeheuer wichtig, aber er war nur das Material, aus dem sonst, zum Beispiel 1973 in Chile, von der FAZ gefeiert, Märtyrer in Massen geschaffen werden. Die Repressionsmaschinerie wurde als finsteres Ornament der Drohung ausgefahren, und die Frage ist, wieso es bei der Drohung blieb. »Bisher«, schrieb Walter Süß in der TAZ (21.8.), »scheinen sie noch zu glauben, die bloße Drohung werde genügen.« Um (wenigstens vorübergehend) zu gewinnen, hätten die Putschisten »ihren bisherigen konservativ-zentristischen Kurs aufgeben und zu offener, massiver Repression übergehen« müssen. Süß hat recht, die bloße Drohung wirkte nicht mehr. Aber warum hat die Junta es bei ihr belassen? Vielleicht ist es nicht übertrieben zu sagen: im Militär hat sich die Auseinandersetzung entschieden – durch seine Spaltung. Und was hat diese bewirkt? War es das hervorgekehrte Russentum Boris Jelzins? Dann sollte sich die FAZ das Bejubeln »nationaler« Bewegungen nochmals überlegen: von ihnen ist zunächst Russland gefährdet, innerhalb dessen Grenzen sich die Proklamationen autonomer Gebiete multiplizieren. Russentum wird nicht vor großrussischem Chauvinismus schützen.

»Die Sowjetunion ist nie das geworden, was mit der Oktoberrevolution 1917 erreicht werden sollte.« (Johannes Grotzky, Herausforderung Sowjetunion. Eine Weltmacht sucht ihren Weg, München 1991) – Ganz recht, sagt Jasper von Altenbockum in seiner Rezension (FAZ von heute): »Sie ist wieder das, was sie schon immer war: ein absolutistisch verwaltetes Vielvölkerreich, eine Kolonialmacht, ein Völkerkerker.« Es sind, werden wir belehrt, hundertundfünf ethnische Gruppen und Völker. Wunderbares Material, um es zur Weltmarktsubalternität zu ›befreien‹.

Mit dem Rubel geht es wie seinerzeit mit der Mark der DDR, er fällt ins Bodenlose, als er noch 4 Pfennige brachte, wurde der Handel eingestellt, dem Angebot stand keine Nachfrage mehr gegenüber, und der Rubel wurde, zumindest in Berlin, unverkäuflich. Das war am Dienstag. Vermutlich drückten Fluchtgelder auf den Markt.

Gorbatschow sah »gut« aus, im Sinne von urlaubsartig, obgleich es zwei Uhr nachts war, als er auf dem Flughafen anlandete. Er wirkte erschüttert, weich, das Peronistische, das sich in den letzten beiden Jahren immer öfter in seine Züge geschlichen hatte, war abgefallen. Man habe ihn 72 Stunden von der Außenwelt abgeschnitten, ihm nicht einmal Fernsehen gestattet. Offenbar habe man seine Zustimmung erpressen wollen. Er habe standgehalten, weil ihm klar gewesen sei, dass die Verschwörer nicht durchkämen. Nur deshalb?

Die Verlierer sehen natürlich schlecht aus. Ihr Abgang wie Schmierenkomödie. Man darf sich dadurch nicht beeindrucken lassen. Es ist, als wären diejenigen, die noch gestern G politisch totgesagt haben, den Putschisten gram ob dieser ihrer erwiesenen Unfähigkeit. Die TAZ (Helge Donath) verspottet die »unentschlossene Altherrenriege«, als wäre eine entschlossene Jungmännerriege besser. Und sie spricht vom »Moskauer Schmierentheater«, weil »Lumpen und Feiglinge in der Hauptrolle«. Als stünden Pinochetisten in einem höheren Würderang. Merkwürdig auch, dass die TAZ noch danach als »Gefahr« ausspricht, was doch die einzige Hoffnung (und tatsächliche Lösung) war, dass sich »verschiedene Teile der Armee nun auch militärisch gegenüberstehen«.

Die Hydra des Extremismus begleitet seit Montag das Geschehen wie eine schwarze Wolkenfront im Hintergrund. G soll den Putsch gegen sich womöglich selbst geplant haben. Das cui bono des Gerüchts liegt auf der Hand. Vertuscht werden soll, dass G ja das erste tatsächliche Opfer war, nicht Jelzin. Segbers im Fernsehen verkörpert, als er mit solchen Gerüchten konfrontiert wird, blendend TV-gerecht den engagierten Sachverstand, der ein seltenes Glück für die Öffentlichkeit ist, wenn er auf einen Gatekeeper-Posten kommt.

»Michail Gorbatschow ist wieder an der Macht«, mit diesem Satz der Nachrichtensprecher beginnt auch die TAZ. Dieser Satz stammt aus dem Weißen Haus der USA; im Telefonat mit dem US-Präsidenten soll Gorbatschow gesagt haben: »Ich bin wieder an der Macht.« Aber der Satz ergibt keinen Sinn, denn da ist kein Wieder, und »die Macht« ist quantitativ und qualitativ ruckartig verändert, weil die Kräftekonstellation es ist, aus der sie resultiert. Die Macht ist jetzt woanders.

Bilder der Freude aus Moskau. Sie dürfen nicht davon ablenken, dass der Staatsstreich in der Bevölkerung weithin auf Gleichgültigkeit oder sogar Zustimmung gestoßen ist.

Die Schlagzeile der TAZ auf der Titelseite lässt noch den alten Witz der Subversivzeitung erahnen: »Gorbatschow wieder gesund«. Bereits der Untertitel angesteckt vom ideologischen Wahn des Westens: »Das Ende des Sowjet-Imperiums«. Statt die Transformation zu sehen. Christian Semmler, ehedem »KPD«-Führer, schreibt: »Die Niederlage der Putschisten setzt den endgültigen Schlussstrich unter das sowjetische Imperium.« Klaus Hartung: »Und die Wahrheit ist: Die Demokratie existiert. […] die Perestrojka kann nicht mehr scheitern, denn sie ist schon von der Demokratie abgelöst worden. Jetzt geht es nicht mehr um Umgestaltung, sondern um die Demokratie selbst. […] Die Demokratie wurde in diesen Tagen geboren.« Den Staatsstreich versteht er als den Versuch, »mit einer Palastrevolte eine neue Zentralgewalt zu simulieren«.

Jewgenij Bowkun sagte zum »Freitag«, es sei das Verdienst von G, »dass der Putsch fast ein Jahr hinausgezögert werden konnte. Das haben die demokratischen Kräfte dazu nutzen können, sich zu konsolidieren.« In dieser Zeit wurden die parlamentarischen Institutionen Russlands geschaffen. Ohne sie hätte Jelzin nicht die Legalität beanspruchen können.

Kohls Selbstrechtfertigung hinsichtlich des Tempos der deutschen Einheit umdrehend, schreibt Michael Jäger: »Hätte er die Vereinigung nicht mit dem Tempo des Bankräubers durchgezogen, der sich beim Einbruch beeilt, weil er die Polizei schon unterwegs weiß, Gorbatschow wäre vielleicht noch heute im Amt.«

Das ist als Retourkutsche gut, aber vielleicht nur gut gemeint. Doch Jäger hat recht, dass die Vorenthaltung materieller Hilfe seitens des Westens Gorbatschow geschwächt hat und dass die Vorbedingung eines sofortigen und totalen institutionellen Übergangs zum Kapitalismus darauf hinausläuft, dass »der Sowjetunion kein ›eigener Weg zum Kapitalismus‹ gestattet« ist.

Die »ZEIT« von heute veraltet. Haben anscheinend einen langwierigen Produktionsprozess. Ulrich Greiner: »In Gorbatschows Politik war Glasnost folgenreicher als die Perestrojka. Diese ist gescheitert, jene aber hat Veränderungen bewirkt, für die nur das Wort Revolution taugt.« Da spricht Selbstüberschätzung eines Journalisten: die Medien konnten geschlossen oder unter Kontrolle genommen werden, während das politische Produkt der Perestrojka, das russische Parlament mit seinem vom Volk gewählten Präsidenten, zur »Bastion demokratischer Legalität« (Semmler in der TAZ) wurde.

Von Biermann hochmütige Fehleinschätzungen der russischen Bevölkerung, auch der Bergarbeiter, denen er, ihren politischen Streik unterschlagend, vorhält, sie hätten bloß für »ein Stück Seife mehr pro Mann und Monat« gestreikt.

22. August 1991 (2)

Von den sowjetischen Journalisten kriegt G genaue Fragen nach den Verantwortlichen und nach seiner Verantwortung, da er jene doch in ihre Machtstellungen berufen hat. Er holt weit aus und weicht auch aus. An der Partei hält er fest. Und an der sozialistischen Idee. Man merkt, dass er die KPdSU gerne in eine große sozialdemokratische Partei umformen würde. Sanktioniert die inzwischen von Jelzin und dem russischen Parlament erlassenen Dekrete.

Gerhard Simon (BIOST) sieht ihn Mitleid heischen und Zustimmung fordern. Die russischen Dekrete sanktionierend wisse G vermutlich noch gar nicht, was sie enthalten: Enteignung der KPdSU (ZK-Gebäude und Zeitungen), Abschaffung der Roten Fahne, eine eigene russische Armee, Russifizierung der gesamten Industrie. In der Tat markieren diese Landnahmen eine ungeheure Machtverschiebung. Jelzin schmiedet das Eisen, das jetzt noch heiß ist. Es gibt kein sowjetisches Fernsehen mehr, nur mehr ein russisches.

Dass G an der Partei und der sozialistischen Orientierung festhalten will, kommentiert die westliche Presse bekümmert und kopfschüttelnd: G, der doch jetzt die Chance hätte, von der KPdSU loszukommen, wodurch er überhaupt erst wieder neue politische Chancen bekäme, G will in der Partei mit den Putschisten abrechnen, aber nicht mit der Partei als solcher.

Die Fernsehbilder zeigen sehr sinnfällig, wie hier eine nationale Fusion geschieht, Wiederkehr des verlustig gegangenen Gemeinwesens im Nationalimaginären. Diese seit langem Niedergeschlagenen und Gedemütigten, Hoffnungslosen, denen es immer schlechter ging und die jeden Glauben an sich verloren hatten, in der Feier dieses Sieges werden sie als Russen wiedergeboren. »Nationale Erhebung« bedeutet hier wortwörtlich eine Erhebung für die Individuen.

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Die USA überlegen derzeit, ob sie mehr am Fortbestand der Union interessiert sind oder an ihrer Auflösung. Ich rechne damit, dass das neue russische Nationalbewusstsein bald Maß nehmen wird an den Dissidenzen der anderen Nationalitäten »auf russischem Boden«.

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Heute kam mit der Post die Erklärung der Junta. Nicht einfach von der Hand zu weisen.

23. August 1991

Statt des Sturms aufs KGB-Zentrum der Bildersturz: Die Statue Felix Dserschinskis, des KGB-Gründers, wurde heute Nacht gestürzt.

Sich vorzustellen, die KPdSU wäre an vorderster Front mit dabei gewesen, ihren Generalsekretär zu retten! Nun wird der Umsturz des Umsturzversuchs sie zu Fall bringen. Jetzt findet eine politische Revolution statt, aber als nationale Revolution. Ihr Zeichen ist der Engel der Geschichte, wie Benjamin ihn sieht: der Wind bläst zwar vom Paradiese her, aber treibt sie gerade deswegen fort davon, hinterrücks in die Zukunft.

Die FAZ (EF) spricht vom »geradezu weltgeschichtlichen Epochenwechsel« der vergangenen drei Tage. Sie feiert seinen Gehalt bedenkenlos als die nationale Rekonstitution Russlands, blind dafür, welches weltzivilisatorische Potenzial da seiner Verwirklichung beraubt und welches nationalistische Potenzial hier herausbeschworen wird. Es ist, als erhielte der Putsch gegen Gorbatschow nun den Sinn eines Putsches von entgegengesetzter Seite: »Gorbatschow verkennt den historischen Moment […] Der politische Horizont endet dort […] Die Begriffsstutzigkeit, die Gorbatschow erkennen lässt, ist auch in der öffentlichen Meinung und unter den Politikern des Westens weit verbreitet. Auch hier glaubt man weiterhin, dass mit den Begriffen ›Glasnost‹ und ›Perestrojka‹ der optimale Weg […] beschrieben sei« usw.(EF). Und was die Perspektive des Zusammengehens von Gorbatschow und Jelzin anbelangt: »eine merkwürdige Vorstellung, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die beiden Männer verschiedenen Zeitaltern angehören«. Die FAZ fördert einen Jelzin, der die KPdSU verbietet. Reißmüller macht in kaum mehr verschleierten Worten klar, dass der Übergang zum Kapitalismus die Beseitigung Gorbatschows voraussetzt. Es gibt viele Hindernisse. »Aber nicht einmal die kleineren werden sich überwinden lassen, solange der Präsident am ›Sozialismus‹ hängt, solange er ›sozialistischem‹ Eigentum den Vorrang gibt vor privatem.« Und Werner Adam, wohl wissend, dass G in der Tat weiterhin »am ›Sozialismus‹ hängt«, verkündet dessen politisches Todesurteil: »Hielte Gorbatschow aber an der Vorstellung fest, diese Partei mithilfe eines neuen Programms reformieren zu können, wäre wohl auch ihr Generalsekretär nicht mehr zu retten.«

In den Schlieren des Diskurses fängt sich Reinhard Olt, der in einem Artikel über Alexander Ruzkoj schreibt: »Ruzkoj sieht sich selber als Kommunist, aber als ›aufgeklärter‹. Er und seine Gesinnungsfreunde, die auf Seiten derer waren, die dem Putsch widerstanden, treten für politische Freiheiten, Pluralismus, Marktwirtschaft, ein Mindestmaß an sozialen Garantien für die Menschen, für Rechtsstaat und Parlamentarismus ein. Sie sprechen sogar, es muss Gläubigen der ›reinen Lehre‹ die Haare zu Berge stehen lassen, von der Errichtung einer bürgerlichen Gesellschaft‹.« Den Schlusseffekt kriegt Olt hin, weil er »Zivilgesellschaft« als »bürgerliche Gesellschaft« übersetzt. Sonst alles ziemlich genau der Gehalt der Perestrojka, die doch totgesagt werden soll.

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In der TAZ vom Mittwoch (21.8.) – wie lange das her ist! – ein interessantes Gespräch mit Boris Groys, der von Willi Winkler als »sowjetischer Philosoph« vorgestellt wird. Groys sah den Staatsstreich siegen, »jede Gegenwehr zum Scheitern verurteilt«, »und das Volk verhält sich weitgehend passiv«. – Diese vom Gang der Ereignisse tags darauf widerlegten Gewissheiten dürfen einen nicht daran hindern, den Gedankengang ernst zu nehmen, dem sie entstammen, auch wenn er nicht sehr klar artikuliert ist. Den Staatsstreich sieht Groys in der Linie des Stalinismus: »Stalin wollte den Marxismus-Leninismus zerstören«, sagt er merkwürdigerweise, »und zum Zarismus des 19. Jahrhunderts zurück – was ihm nicht ganz gelang. Jetzt werden wir es mit einem vollkommenen Stalinismus zu tun haben: einem modernen Staatsapparat, in dem Beamte das Sagen haben.« Nun sei ein antiwestlicher nationaler Militärstaat zu erwarten, ein »Gewaltsystem« anderen Typs: »Der Übergang von der ideologischen Zwangswirtschaft zur ökonomischen wurde noch nicht vollzogen. […] hier im Westen ziehen wir den ökonomischen Zwang vor. Andere, etwa die Menschen in der Sowjetunion, bevorzugen den ideologischen. Es ist in mancher Hinsicht der erhabenere Zwang. Dieser ideologische Zwang bietet nach dem Ende des Kommunismus eine neue Ersatzreligion. Der Staatsgedanke wird zementiert.« – Groys scheint Genuss am Unheil zu finden. Das schärft seine Analysen. Ich erinnere mich gut an sein Auftreten in Dubrovnik, vor bald zwei Jahren. Er schenkte mir seinen Gesprächsband »Die Kunst des Fliehens«.

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Jelzin hat Gorbatschow wie einen zahmen Bären vorgeführt. Dieser Musste das Protokoll einer Geheimsitzung verlesen, bei der mit einer Ausnahme alle Minister entweder für den Staatsstreich waren oder sich opportunistisch heraushielten. Dann unterzeichnete er im Beisein des protestierenden Gorbatschow vor laufenden Kameras ein Dekret, das die Aktivitäten der KPdSU bis auf weiteres verbietet. Das ZK-Gebäude bereits versiegelt.

24. August 1991

Ohne rechtsstaatliche oder parlamentarische Prozeduren akquiriert Jelzin Macht per Erlass und übt, gestützt auf Charisma, eine revolutionäre Diktatur aus. Das vom zusammengebrochenen Staatsstreich hinterlassene Vakuum füllte er blitzschnell aus. Gorbatschow, der dies alles möglich gemacht hat, wird wie eine Trophäe im Triumphzug mitgeführt und gedemütigt.

Im gestrigen »Tagesspiegel«, der irrtümlich in meinem Briefkasten gelandet war, entdeckte ich einen Artikel von Uwe Engelbrecht, »Von Russland soll das Heil der Menschheit ausgehen«, aufrechte Wahrheiten zwischen Ironie und Melancholie. Im Ton weniger des Anprangerns als des Staunens, durchmischt mehr mit Angst als mit Spott, berichtet E. von der Genese eines nationalen Mythos. »Vorerst schickt sich Russland an, erst einmal die ganze Union in seinen Griff zu nehmen.«

Prozedur im russischen Parlament: »Es war nicht mehr zu unterscheiden, was Vorschlag, Antrag oder Beschluss war: Schlag auf Schlag wurden zumeist ohne Abstimmung das Gebäude des ZK der KPdSU, sodann ihr Vermögen für beschlagnahmt erklärt« usw. Reihenweise wurden Absetzungen proklamiert (und dabei die örtlichen Parlamente übergangen). Das Klima eine Mischung aus emphatischer Hochstimmung und Niederbrüllen von Differenzen.

Statt des geographisch-neutralen Terms »Rossija« wird immer öfter das altimperiale »Rusj« gebraucht. Engelbrecht schildert das Schüren von Rausch und Selbstberauschung durch die russischen Politiker, etwa den »altbürokratischen« russischen Ministerpräsidenten Silajew, der sich zu der Phrase verstieg: »Russland hat die Welt gerettet.« Jelzins Vize Ruskoj blies den Sieg aufs Format der Überwindung des Nazireichs 1945 auf.

Der redliche Engelbrecht erinnert an die spärliche Befolgung der Aufrufe zu Streik und Demonstration in Moskau, die Disfunktionen des KGB, das Umschwenken der Luftlandedivision aus Tula und vieles andere mehr. Hinzugefügt werden könnte die Information, die ich gestern Abend im Fernsehen aufgeschnappt habe, wonach die Junta das Politbüro um Zustimmung gebeten, aber keine Mehrheit erhalten haben soll, was das Bewusstsein ihrer Anführer von ihrer Parteiloyalität her zersetzt habe.

Ein KGB-Vize soll bei einer Einsatzbesprechung gesagt haben: »Sie haben das Wort Demokratie zu vergessen, Sie haben das Wort Perestrojka zu vergessen – die hatte 1985 begonnen, bis Gorbatschow sie 1987 in eine Konterrevolution überleitete.«

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