Buch lesen: «Jahrhundertwende», Seite 19

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6. Juni 1991

Gefühlsfelder, tief unter der Erdkruste, unter einem Druck, der sich, wenn sie plötzlich zufällig angebohrt werden, mit artesischen Effekten geltend macht. So das verlorene Kind, von dem du nicht weißt, bist du es oder wolltest du es finden.

11. Juni 1991

Die Siegesparaden in den USA, die größten seit Ende des Zweiten Weltkriegs, haben etwas Altrömisches. Vor allem machen sie den UNOAuftrag und die Zielsetzungen zur Farce. Überdies der »Sieg« doppelt lächerlich, einerseits wegen des hochtechnologischen »Truthahnschießens«, andrerseits wegen der Multiplikation der Probleme, die er hinterlassen hat. Zum Beispiel fällt in diesen Tagen das weltliche Algerien in die Hände des islamischen Fundamentalismus. Wird nicht Marokko folgen? Tunesien? Sowieso Jordanien?

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Auf der Fahrt zu den Bries hielten wir vor dem Haus in Hirschgarten, wo einst Friggas Großvater gewohnt und sie selbst viele Wochenenden verbracht hat. Das Haus verwahrlost, aber der Ginko lebte noch und schlug grade aus. Pathetisch das alte durchgerostete Gartentor zum Müggelseedamm, das von innen vom Flieder vollkommen zugewachsen ist und gehalten wird. Mit einer Art von Scheu betrachten wir den rostigen Klingelknopf und das Schild mit dem Namen »Kassler«.

Michael Bries Vater war Botschafter in Japan, kannte daher Wolfram Adolphi, den langjährigen Japankorrespondenten der DDR und jetzigen Berliner PDS-Vorsitzenden, der kürzlich seine Mitarbeit bei der Stasi bekannt hat.

13. Juni 1991

Die Askoldows zurück aus Moskau. Swetlana erzählt, sie hätten drei Wochen auf eine Platzkarte für die Eisenbahn warten müssen, und Eisenbahn musste es sein wegen der vielen Bücher, die diesmal mitzunehmen waren (sie richten sich anscheinend hier zur Arbeit ein). Der Zug überfüllt, viele wirkten auf sie wie Kriminelle. Ihr gesamter Wagen wurde vom sowjetischen Zoll übergangen. Die Schaffnerin, von ihr nach den Gründen befragt, meinte, jemand aus ihrem Wagen habe den Zoll »gekauft«.

19. Juni 1991

Dieter Senghaas (»Es gibt eine große Unbekannte: Die Sowjetunion«, FR) beschreibt den Effekt der Perestrojka als »Osmanisierung« der SU, Einleitung einer vielleicht langen Siechphase, weil weder in Politik, noch in Ökonomie ein wirklicher Schnitt vollzogen worden sei. Er sieht die Lösung in der Auflösung. Jetzt herrsche »Anomie«, das heißt »eine tendenzielle Chaotisierung der Lebensverhältnisse, eine gesamtgesellschaftliche Regression«.

23. Juni 1991

Dass Berlin wieder Hauptstadt werden soll, lässt uns einerseits kalt, andrerseits schwant uns, dass das zum Teufelspakt für die Stadt werden könnte.

25. Juni 1991

Merkwürdige Wirtschaftsnachrichten: Die FAZ spricht von einer »Gründerwelle in der Bundesrepublik«, worunter sie versteht, dass 230 500 Geburten »nur« 162 000 Todesfälle von Unternehmen gegenüberstehen. Aus dem DDR-Gebiet aber meldet sie 40 000 (Aus-)Löschungen gegenüber 169 000 Gründungen, die wiederum rund 100 000 Arbeitsplätze brächten oder 1,69 Arbeitsplätze pro neugegründeter Firma. Falls da nicht ein gewaltiger Druckfehler vorliegt, kann die Misere im Osten als aufgeklärt betrachtet werden.

28. Juni 1991

In »Sinn und Form« ein erstaunliches Gespräch zwischen dem Chefredakteur Sebastian Kleinschmidt und Hans-Georg Gadamer. Kleinschmidt war zu diesem als der Personifikation von Hermeneutik gepilgert. Gadamer begegnet ihm wahrhaft grandseigneural, fast ›liberal‹ in seiner gegnerlosen Gelassenheit. Schön, wie die Rolle des Calvados in diesem Gespräch wie ein Refrain vorkommt, nicht ohne Platon als Kronzeugen einzuführen. In den ›Wonnen der Vergeblichkeit‹ findet dann die Wiedervereinigung zwischen den Gesprächspartnern, einschließlich Marion Kleinschmidts, statt. Gadamer erscheint ›links‹ von den gewendeten Ossis: So viel ist ihm »doch klar, dass irgendetwas sehr falsch sein muss in unserem gesellschaftlichen Tun, wenn junge Menschen nur von der Vergeblichkeit überzeugt sind«. Er setzt auf die Angst, die er als den Affekt der Freiheit begreift und von der er erwartet, dass sie »die Funktion« hat, »dass wir im Laufe von hundert oder zweihundert Jahren […] so etwas wie eine Selbstkontrolle dieser aus den Fugen geratenen Natur, die man Mensch nennt, aufbauen«. Maliziös sein spitzes Diktum: »Habermas sagt immer, er kenne die Wirklichkeit nicht, und ich sage immer, Habermas kennt die Wirklichkeit nicht. Wir sind uns völlig einig in dieser Uneinigkeit. Manchmal denke ich, […] er weiß gar nicht, wie ideologisch er ist.«

29. Juni 1991

Zwischen Atemlosigkeit und langem Marsch der Philologie bei der Übersetzung von Gramscis Gefängnisheften. So vieles zu besorgen. Vor allem der Aufruf zur Rettung der MEGA hat viel Zeit gekostet.

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Gestern Abend mit Otto Zonschitz in der Voraufführung des Schwejk, eingeladen von Wekwerth, der Regie geführt hat. Das Stück von Brecht, mitsamt zwei eingebauten Passagen aus den Flüchtlingsgesprächen, ist hervorragend. Die Inszenierung lag glücklos darüber. Fand (suchte?) keinen Ansatzpunkt in der Gegenwart. Wekwerth im Verhalten und Reden ungenau, hatte vielleicht getrunken. Das stand im Widerspruch zu seinem »genauen« Aussehen. Äußerte sich zu meinem Entsetzen begeistert über Nicolai Hartmann. Er hat offenbar eine Zeitlang bei Harich studiert.

Traf Lothar Scharsich wieder, der das Bühnenbild gemacht hat: »Zum Kelch« als eine Art Kellerlokal über zwei Stockwerke, Eingang im dritten Stock, die Treppen ein zentraler Handlungsraum, das Ganze nur ein ziemlich schmaler vertikaler Ausschnitt aus der Bühne. In der Kantine lernte ich Scharsichs Frau kennen, die schriftstellerisch arbeitet, und den sechsjährigen Max, einen gelockten Amor.

Aus Japan schreibt Toshiaki Kobayashi, auch dort sei nun »die Autorität des Marxismus zusammengebrochen. Das gilt nicht nur für die alten Linken, sondern für die neuen.« Er schreibt übrigens »Autolität«. Als er mich im März 1990 besuchte, erzählte ich ihm, dass die Koreaner, mit denen ich es in Pyongyang zu tun gehabt hatte, den Namen Luise Rinser als »Ruise Linsel« aussprachen.

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Institutionalisierte Restauration. – Die FAZ definiert die »Treuhand« als »diejenige Einrichtung, die wegen der friedlichen, das heißt, eigentlich ausgebliebenen Revolution in der einstigen DDR den ›amtlichen‹ Versuch macht, einen wesentlichen Teil der von den Kommunisten nach dem Krieg durchgesetzten Ordnung in Ostdeutschland rückgängig zu machen«.

5. Juli 1991

Die deutschen Kapitalexporte sind 1990 im Vergleich zu 1989 um fast die Hälfte gestiegen (40 Prozent Zuwachs) auf knapp 30 Mrd DM. Runde Dreiviertel gingen in die EG: GB 5,5, Benelux 6,6, Irland 3,3, Frankreich 1,86, Spanien 1,58. In die USA gingen 3,6. Es handelt sich darum, Positionen im »Gemeinsamen Markt« zu besetzen. Offenbar sagen sich die Unternehmer, die DDR ist eingesackt, kann also warten. Erstaunlich die Liste der Kapitalimporteure: Schweden 0,953, Japan 0,898, Italien 0,741. Erstaunlich daran, wie wenig und dass Schweden die Liste anführt.

14. Juli 1991

Gestern Abend im Gorki-Theater Steffen Menschings und Hans-Eckardt Wenzels Programm »Die Meisenwürger vom Friedrichshain«, dessen Titelsong im nächsten Argument erscheint. Die Situation einer einstmals oppositionellen DDR-Szene ins Atmosphärische verschoben bearbeitet. Die ästhetisch-traumhafte Verschiebung bringt es mit sich, dass die ›Bearbeitung‹ die Situationsempfindungen in der Schwebe, also auch wiederum unbearbeitet lässt. Sehr eindrückliche kulturelle Spezifik. Das Publikum fast nur aus dem Osten, eine Fan-Gemeinde im Wechsel von Atemlosigkeit und (für uns fast immer überraschendem) Beifall. Ich war hingerissen, gerade auch von diesem Wechselspiel. Eine für uns Westliche schwer durchdringbare eigentümliche Realität, die wir unbedingt respektieren müssen.

15. Juli 1991

Westdeutschland in die »Dominanzfalle« geraten (Karl-Otto Hondrich).

20. Juli 1991

Die unendlichen Mühen der Gramsci-Übersetzung machen mich verstummen.

22. Juli 1991

Gestern Tanja und Michael (»Micha«) Brie zu Besuch. Durch die Blume boten wir Micha die Mitherausgeberschaft des Argument an, und durch die Blume lehnte er ab. Er sprach von Resonanz und gegen Ghetto. In letzterem scheint er uns zu sehen. Durch die Blume sprechend hielten wir schonende Distanz, aber man spürte es körperlich wie einen Krampf. FH wurde gröber, sprach von Überläufern zu Habermas. Micha ergänzte: zu Luhmann.

Vor 14 Tagen wurde er fristlos entlassen wegen seiner Stasi-Mitarbeit, hat aber geklagt.

26. Juli 1991

Jugoslawien. – Eine anscheinend instinktiv befolgte Machtlogik der FAZ-Schreiber: Stärkung der Einheit bei ›uns‹ und den ›uns‹ befreundeten Mächten (der katholischen Kirche, den USA …), Schwächung der anderen, der tatsächlich oder möglicherweise in irgendeiner (oft unklaren) Weise konkurrierenden Mächte. Jugoslawien soll verschwinden, ›wir‹ sind, wie selbstverständlich, im Bunde mit den national ausscherenden Kräften. Die Chaosdrohung des Bürgerkriegs geht – natürlich nur bei ›den Anderen‹ – immer von den größeren Einheiten aus, nie von ihrer Zerlegung. Man muss den untergründigen Filiationen nachgehen, die solche instinktiven Parteinahmen tragen: der große Marktinteressent Bundesrepublik übt – als ein in Wechselwirkung mit anderen seinesgleichen Getrieben-Treibender – eine devastierende Wirkung auf Vergesellschaftungsformen aus, die sich auf niedrigerem Produktivkräfteniveau regulieren; ihre Desintegration setzt dort relative Marktinteressenten heraus, die alsbald das Weite suchen möchten. So zunächst Slowenien, der höchstindustrialisierte und finanziell das ganze Land durchdringende Norden. Auf offenem Markt wird Slowenien es zu nicht viel mehr als zu einem Klientenstatus gegenüber den entwickelten Zentren der EG bringen. Erhofft wird die Ankunft des bis dato jenseitigen Kapitals.

In der SU könnte zuwege gebracht werden, was Jugoslawien versäumt hat: ein zwischen den Mitgliedsrepubliken ausgehandelter neuer Unionsvertrag. Würde die Union zur bloßen Schattenunion, in der alle Macht bei den Republiken läge, könnte das Ganze sich wie das britische Commonwealth in irgendeine lockere Formation mit allen möglichen Übergangsformen zwischen Integration und völliger Auflösung verwandeln. Ob eine solche Struktur der multinationalen Realität der Bevölkerungen Rechnung tragen könnte? Ob sie in der Lage wäre, die nationalistischen Antagonismen notfalls mit Gewalt in rechtsstaatliche Bahnen zu kanalisieren?

Gorbatschow proklamierte vorgestern den Abschied der KPdSU vom Klassenkampf. Nach Stalins »Staat des ganzen Volkes« nun die »Volkspartei«, aber diesmal sozialdemokratischen Typs, in einer Gesellschaft agierend, die weitgehend entstaatlicht ist und sich zunehmend kapitalistisch reguliert. Jedenfalls versucht G, den bisherigen Hauptakteur zu transformieren, um eine handlungsfähige Kraft »sozialistischer Orientierung« (mehr nicht) zu behalten.

Übrigens »dereguliert« jetzt auch Indien: »sozialistische« Elemente werden abgerissen, Währungs- und Außenhandelspolitik liberalisiert. Die Inder werden sich wundern. Anscheinend gilt jede Form eines sozialstaatlichen »Merkantilismus«, das heißt der Bewahrung ökonomischer Handlungsfähigkeit auf nationaler oder regionaler Stufenleiter, als zum Scheitern verurteilt.

29. Juli 1991

Unserer Initiative zur Rettung der MEGA war ein zwar begrenzter, aber immerhin vorläufiger Erfolg beschieden. Bis Ende des Jahres gibt die Treuhand entsprechende Mittel (für den Verein) frei.

Dämonisierend dagegen gewandt hat sich der mainzer Soziologe Helmut Schoeck in der Welt vom 14. Juli: »Marx, krankhaft herrschsüchtig und hasserfüllt, säte eine Saat, die genauso aufging, wie er es gewollt hatte, in totaler Destruktion. Wie es jedoch nach der Zerstörung aller vorgefundenen Lebensgrundlagen weitergehen soll, darüber steht bei Marx und Engels nichts.« Groteskes Gekreische. Gegen den Vorschlag des Ministers Ortleb, eine kritisch-marxistische Beschäftigung mit dem ML irgendwo pflegen zu lassen, denn: »Die Wiederentdeckung des Marxismus im Westen als ›Lehre des Heils‹ vor 20 Jahren in der 68er-Bewegung war von ein paar Marxismus-Lehrstühlen in Westdeutschland aus inszeniert worden. Will Minister Ortleb davon unbedacht [?] eine Wiederholung herbeireden?« – Schoeck sollte selbst mal versuchen, eine solche Bewegung von seinem Lehrstuhl aus zu inszenieren. Wir, die wir daran aktiv beteiligt waren, verfügten jedenfalls über keine Lehrstühle.

30. Juli 1991

Am 2.7. hat Jakowlew in der Iswestija die KPdSU abgeschrieben. An ihren Strukturen habe sich, besonders in der russischen Partei, nichts geändert. »Nur die alte Faust, eingebaut in das System Stalins und Breschnews«, sei weg. Merkwürdig, wie J. die Gegner des Übergangs zu kapitalistischer Marktwirtschaft, unter denen doch sicher auch aufrichtige Sozialisten sind, auf den einzigen gemeinsamen Nenner des »grenzenlosen Egoismus« bringt. Andererseits kann ich ihm nicht widersprechen, wenn er die Revolution-von-oben als erschöpft und ihre Reserven als ausgelaugt beschreibt sowie vorhersagt, mit hoher Wahrscheinlichkeit sei mit Versuchen zu rechnen, »mit den Ideen der Perestrojka und ihren Initiatoren abzurechnen«. Insgesamt ein Aufruf zur Gründung einer »Demokratischen Partei«.

9. August 1991

Im Doppelsinn ›historischer‹ Fehler, das Neue nicht aus dem Vorhandenen schaffen zu wollen. So in der SU: aus den vorhandenen Entitäten und Akteuren des Wirtschaftens müssten die neuen geschaffen werden. Privatkapitalismus zu wünschen töricht. Schon wieder ein Großer Sprung, aber diesmal rückwärts-vorwärts, zunächst das Gewesene überspringend, dann das Werden.

19. August 1991

Heute Nacht um vier wurde Gorbatschow durch einen Putsch abgesetzt. Morgen wäre der neue Unionsvertrag unterschrieben worden. Ausnahmezustand. Möglich, weil Gorbatschows Position längst dishegemonial geworden war. Die Zwangseinheit wird das reorganisatorische Moment verspielen und Zerfall und Bürgerkriege ernten.

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Während in Moskau der Umsturz lief, verbrachte ich nichtsahnend meine seit Wochen erste Nacht ohne ›philologisches‹ Zwangsdenken. Band 2 der Gefängnishefte ist fertig, nur noch die letzten Korrekturen sind zu kontrollieren. Morgen geht das Buch in die Druckerei.

Gestern Abend besuchte mich Michail Nelken. Hat seit 1980 im Akademieinstitut für Philosophie gearbeitet, in der Abteilung für Geschichte des Marxismus. Dort wurde man in Ruhe gelassen. Nur als ein Kollege über August Thalheimer arbeiten wollte, griff Buhr ein, der Komplikationen voraussah: das Thema war zu parteinah. Dennoch glaubte Nelken 1980, sich in der Epoche geirrt zu haben, als er im Zuge des Parteiverfahrens gegen Ruben den Stalinismus in Aktion erlebte, und zwar nicht etwa den von oben, sondern den verselbständigten eines sozialen Mechanismus, wie er innerhalb der Parteigruppe spielte.

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Katja Maurer vom »Freitag« bestellte einen Artikel zum Staatsstreich. Zum Glück ist der Gramsci in der Druckerei, und ich nehme den Auftrag an. Aus Genf ruft Helen Brücker vom »Vorwärts« an und will den Artikel ebenfalls.

Keine Kremlastrologie, aber doch Rätselraten um Gorbatschow, hat er im Glashaus gelebt?

Auf dem Spiel: Die um ein Haar erreichte Ablösung des Zentral-Superstaats durch eine von den Republiken eingegangene lockere Union. – Zivilgesellschaftliche Ordnung mit individuellen Menschenund Bürgerrechten, unabhängig von ethnischen und nationalen Kollektivzugehörigkeiten.

20. August 1991

Die sowjetische »Junta« besteht aus Leuten, die Gorbatschow eingesetzt hat. Selbst Lukjanow, der Vorsitzende des sowjetischen Parlaments (des »Obersten Sowjets«), soll sich angeschlossen haben. Bedeutet dies Vorwegnahme der Absegnung?

Es heißt, Gorbatschows Politik sie in eine »Sackgasse« geraten. Vielleicht ist es umgekehrt, und er hat das objektiv Mögliche, wenn auch nicht das subjektiv Gewollte bewerkstelligt.

Für die FAZ war er schon lange der Mohr, der seine Schuldigkeit getan hat. Von der für heute ursprünglich vorgesehenen, vom Putsch blockierten Unterzeichnung des neuen Unionsvertrags argwöhnt Reißmüller, »die Nationalitätenpolitik, das Verhältnis zwischen Zentralstaat und Unionsrepubliken, die Wirklichkeit der Sowjetföderation, das alles solle wieder so werden, wie es unter Breschnew war«. Doch Gorbatschows »reformerische Nationalitätenpolitik hat die Völker ermutigt, nach jahrzehntelanger erzwungener Stummheit ihre natürlichen Rechte geltend zu machen«. – Was für Euphemismen! Die »vielfältige Wirklichkeit nationalen Bewusstseins und Willens im Reich« ein Faktor, in den die FAZ gewissermaßen gewohnheitsmäßig investiert.

Scheitern eines zivilisatorischen und zivilgesellschaftlichen Projekts. Ein viel größeres Drama, als es zunächst schien. Ich versuchte, an meiner Sicht festzuhalten, die ein sozialistisches Subjekt voraussetzte, ohne mir darüber klar zu werden, wer dies sein könnte.

Gorbatschow zu beseitigen und Jelzin zu lassen, hätte keinen Sinn. Der neue russische Parlamentarismus muss das Ziel sein. Das Parlament von Panzern umstellt. Massenmedien unter Zensur. Ruhe und Ordnung des Polizeistaats. Was der Staat schon immer konnte: Notstandsstaat mit Ausnahmezustand. Restauration von Befehlsverwaltung.

Was ist das Programm der Putschisten? (Engholm: »man muss auch auf die Vernunft von Staatsstreichern setzen können«.) Markt ohne Demokratie? Woher sollen Konsens und Autorität kommen? Notstandsmaßnahmen zur Versorgung. Paradoxe Chance tatsächlicher Besserung vom gegenwärtigen Tiefpunkt aus auf ein Niveau, weit unterhalb des breschnewschen. ›Historisch‹ zum Scheitern verurteilt. Voluntarismus der Unfähigen.

Man muss sich immer wieder neu darüber verständigen, was das Rationale der Perestrojka sein konnte. Nicht das subjektive, sondern das historisch mögliche Worumwillen.

Es sind nicht die Gegner, die »schuld« sind, dass da etwas verloren wurde. Die Auszehrung kam von innen, als historische Unproduktivität.

21. August 1991

Während sich die Armee in Moskau bisher zurückhält, nimmt sie in den baltischen Staaten eine systematische Besetzung vor. Noch in der Nacht hat das Parlament Estlands den Austritt aus der Union erklärt.

Dass Schewardnadse auf der Moskauer Kundgebung zum Kampf gegen die Junta aufrief, zeigt mehr als alles andere den definitiven Bruch der bisherigen Balance, die G verkörperte. Point of no return: Umschlag im Aggregatzustand der politischen Kräfte. Sie werden nun alle vor die Entscheidung im latenten Bürgerkrieg gestellt. Das macht ihre Qualifikation für die Zukunft aus. Die Vergangenheit endet; eine neue Zeit beginnt. Man riskiert den Tod für seine künftige Identität, die nicht mehr die einfache Verlängerung der bisherigen ist.

Eine Ausflucht: Die Krankheiten greifen um sich. Pawlow, der Regierungschef, ist erkrankt und durch seinen Vize ausgetauscht worden; auch Besmertnich, der Außenminister, hat sich für zwei Tage krank gemeldet, wie es, merkwürdig, in den Nachrichten hieß. Sie warten ab, wer gewinnt.

Lange ging es immer weiter wie bisher, und immer sagte man sich, es kann nicht mehr so weitergehen. Heiner Müller: »Gorbatschows Sturz ist natürlich bedauerlich, aber er war leider vorauszusehen. Er hat sich zu lange zwischen Skylla und Charybdis bewegt, ohne sich wirklich entscheiden zu können. Es gab auch nur schwierige Alternativen.« Hier vertut sich Müller in den Mythen. Wer sich zwischen Skylla und Charybdis befindet, muss den Versuchungen sowohl der unmittelbaren Gewalt- als auch der Gefallenslösungen widerstehen, statt sich zwischen ihnen zu entscheiden. Eigentlich ist es genau das, was G getan hat, den Weg zwischen Skylla und Charybdis zu steuern.

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Ich soll auf einer Kundgebung der PDS vor der sowjetischen Botschaft sprechen. Biete stattdessen einen Artikel fürs ND an.

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