Buch lesen: «Jahrhundertwende», Seite 15

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16. März 1991

Die SU hat den steckbrieflich gesuchten alten Erich Honecker in einem Militärflugzeug nach Moskau gebracht. Der Akt widerrechtlich, aber widerwärtig wäre gewesen, ihn zu unterlassen. Hans-Jochen Vogel, hierin idealtypischer Sozialdemokrat, sprach sich im Bundestag für die strafrechtliche Verfolgung H.s aus, erinnerte aber an die zehn Jahre Haft unter den Nazis und daran, dass H. vor wenigen Jahren noch mit allen Ehren in Bonn empfangen worden war.

Der Golf-Krieg für die USA das erwartete Geschäft. Tribute der »Bundesgenossen« minus Kosten, großzügig gerechnet, = 7,4 Mrd US-Dollar Reingewinn. Darin ist enthalten, dass für den Abzug aus der Golfregion 7 Mrd USD, dazu für den Heimtransport noch einmal 5,2 Mrd USD und schließlich 6,4 Mrd USD für Wiederbeschaffung eingerechnet sind. Man sieht, dass über die Kriegskosten hinaus Alimente verlangt werden. Die Gesamtkosten werden auf 47,5 Mrd USD geschätzt. Der Überschuss soll nicht zurückgegeben werden, weil Menschenleben nicht mit Geld aufzuwiegen sei, wie der demokratische Abgeordnete Schroeder aus Colorado, Anwärter auf einen kleinen Tui-Preis, gesagt hat. Einzelsubsidien: Kuwait: 13,5 Mrd USD; Saudi-Arabien: 13,5 Mrd USD; Japan: 9 Mrd USD; BRD 5 Mrd USD; Vereinigte Arabische Emirate: 2 Mrd USD; Südkorea: 305 Mio USD.

In der SU läuft morgen die Abstimmung über den Erhalt der Union, die als Verbund gleichberechtigter souveräner Republiken (Kasachstan setzt dafür: Staaten) reartikuliert wird. Alle Eigentumsformen, die das Funktionieren eines einheitlichen Unionsmarktes begünstigen, sollen legitim sein.

Bezeichnend die Unterstützung, die aus Kasachstan kommt, der nach Russland flächenmäßig zweitgrößten Republik (2,717 Mio km2, 16,2 Mio Menschen): Ihrer Zusammensetzung nach ein Spiegelbild der Union, würde sie mit dieser zerfallen. Wie derzeit die Tschechoslowakei und Jugoslawien zerfallen, nein, schlimmer, weil dort bei allem Durcheinander doch relativ klare ethnisch-politische Grenzen ziehbar, während im sowjetischen Völkergemisch eine Art Afrikanisierung ausbrechen könnte.

17. März 1991

Im heute zur Abstimmung gestellten Entwurf zu einem neuen Unionsgesetz besagt der 4. Punkt: »Die Republiken betrachten den Aufbau und die Entwicklung einer zivilen Gesellschaft als die wichtigste Voraussetzung für Freiheit und Wohlstand«. – Ja, aber wie verstanden? Lauert unter der zivilen der Wechselbalg der bourgeoisen Gesellschaft?

Erkenntnis, kapitalistisch: »Wir erkennen Sie« heißt in der Bankensprache dasselbe wie »we credit you«, nämlich »wir schreiben Ihnen gut«.

Transnationaler Kapitalismus. – Als globale Produktionsweise schafft er sich eine globale Sprache, weltweit und branchenübergreifend, eigens genormt für Electronic Data Interchange (EDI). Unter Leitung der UNKommission für Europa wurde gemeinsam mit den Normeninstituten von 60 Ländern der Sprachstandard EDIFACT entwickelt (Electronic Data Interchange for Administration, Commerce & Transport).

Hochtechnologische Produktionsweise. – Mikromechanik als neues Forschungsgebiet. Hier geht es um »Mems« (mikro-elektro-mechanische Systeme), Chips, die nicht nur speichern können, sondern auch »spüren« (Sensoren) und »reagieren« (Mikromaschinen). Oder mechanische Informationsspeicherung mittels mikromechanischer Speicherzellen, bei denen die Wölbung von winzigen Stegen – dünner als ein Haar und tausendfach auf einem Chip angeordnet – die Information darstellt: nach oben = 1, nach unten = 0. Mit elektronischen Komponenten gekoppelt, ergibt das ein Mems. Der Begriff »Maschine« (und die Disziplin des Maschinenbaus) erfährt hier eine Ausdehnung ins Mikroskopische und dadurch einen Verallgemeinerungs- und Abstraktionsschub im Vergleich zur für Marx noch dominanten Werkzeugmaschine. Entwickelt werden »Mikroaktoren« – Zahnräder, Getriebe, Mikromotoren und -turbinen –, deren Funktionieren sich nur unterm Mikroskop beobachten lässt. Die Methoden der Fertigung aus dünnen Materialschichten ähneln z.T. denen der Chip-Produktion. Die Anwendung wird dadurch gekennzeichnet sein, dass sich ungeheure Mengen solcher Mikromaschinen auf engem Raum unterbringen lassen: Hunderte pro Chip, von denen wiederum hundert auf einem Silizium-Wafer Platz finden. Werkstoffe und ihre mechanischen Eigenschaften sind in diesem Bereich noch zu erforschen. Man kennt noch keine metallurgischen Rezepte für Werkstoffhärtung in Mikrodimensionen. Wiederum erfordert das eine Revolutionierung der Messtechnik, zugleich der Klimatisierung von Räumen. – In Berlin arbeitet das Fraunhofer Institut für Mikroelektronik an solchen Technologien. (E. Arzt: »Motor und Chip in einem. Neue Horizonte für High-Tech-Materialien in der Mikromechanik«, FAZ, 12.3.)

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Kathrin A. schreibt aus Leipzig von der Angst der vielfachen Ungewissheit, Angst der Chancenlosigkeit, aber auch Angst der hinterrücks verändernden Macht der Chancen. In ihrer Umgebung hektische Suche nach Möglichkeiten, Geld zu verdienen, mit der Vorstellung, sich dann die jetzigen Ideale weiter leisten zu können. Ihr Freund hat sein Studium nach vier Jahren abgebrochen, um sich in Herford bei der Commerzbank zum Geschäftsstellenleiter ausbilden zu lassen. Nach acht Wochen wird sie ihn zu Ostern erstmals wiedersehen, und sie fragt sich, ob sie ihn dann wiedererkennt. Er hat ein kritisches Bewusstsein, aber wird er nicht seine Zweifel verdrängen müssen, um voranzukommen? Und in drei Jahren wäre er Filialleiter einer Bank und seine Frau marxistische Pädagogikdoktorin. »Ich weiß nicht, ob wir das können.«

In Tönen der inneren Vergewisserung, die merkwürdig abstechen von dieser Existenzangst, spricht Kathrin, wo sie von ihren Fortschritten im Russischstudium schreibt, das sie in ein paar Monaten abzuschließen hofft: »Nach 10 Jahren Russischunterricht und einigen Reisen in die SU ist es ein schönes Gefühl, die Sprache nun richtig zu lernen. Ich fühle mich wie zuhause, auch wenn die gefühlsmäßige Bindung an dieses Land verschwommen ist. Sich für diese Sprache, diese Menschen, die Geschichte dieses Landes zu interessieren und sich damit nun intensiv zu beschäftigen, ist wie die Erfüllung eines Vermächtnisses. Das Beste und Schönste meines bisherigen Lebens nehme ich mit in die neue Zeit. Ein Teil meines Inneren festigt sich und wird mir immer erhalten bleiben. Wenn das Studium auch hart ist, beruhigt es mich, es gibt mir innere Festigkeit.« Dieser innere Halt jetzt von größter Bedeutung.

Kathrin ist es gelungen, das Thema ihrer Diplomarbeit bei den Pädagogen unterzubringen: »Massenkultur, Massenmedien und Kommunikation in den gesellschaftstheoretischen Auffassungen W. F. Haugs«. Freilich ist unsicher, ob der Antrag auf »Forschungsstudium« genehmigt wird, ob der Betreuer dann noch arbeiten darf und ob die Hochschule in den nächsten Jahren überhaupt noch existiert. Deshalb hat sich K. parallel bei der Lufthansa um eine Ausbildungsstelle als Stewardess beworben, ja sogar als Pilotin. »Also wenn nicht alles schiefgeht, vergrabe ich mich ab Oktober in Büchern oder gehe in die Luft. Den Sommer will ich in den USA verbringen«. – Hoffnungen zwischen Stewardess und marxistischer Pädagogikdoktorin! So werden wohl jetzt zwei Generationen in eine ungeheuerliche Mobilität in jeder Hinsicht geschleudert, weil ja auch Ehen und Kinder mit auf dem Spiel stehen. Eine fast ekstatische Wiedergewinnung von Zukunft nach der nostalgischen Zukunftslosigkeit vom vergangenen Oktober schildert Kathrin in Gestalt einer Parisreise zu Sylvester: »Ich habe mich (obwohl ich kein Französisch kann) sofort heimisch gefühlt. Als ich im Musée d’Orsay vor ›meinem‹ Cézanne und vor ›meinem‹ van Gogh, nun allerdings vor den Originalen, stand und als ich ›meine‹ Montmartretreppen runter- und wieder raufstieg, wusste ich nicht, ob ich schwebte oder fiel und fiel. Ich hab’ getanzt, gelacht und geheult zugleich. Zum ersten Mal habe ich gefühlt, dass MIR nun die Welt offensteht. Es war wie eine Befreiung.«

Die Rezension meines »Perestrojka-Journals« im ND hat K. übrigens so verstanden, dass das Buch »jetzt auch hier erscheint«. Da spricht noch die alte DDR.

18. März 1991

Bei einer Tagung des Ost-Ausschusses der deutschen Wirtschaft sagte der Vorstandsvorsitzende der Asia Brown Boveri, Eberhard von Koerber, es sei wichtiger, »Arbeitsplätze zu erhalten, als im Eiltempo in Ostdeutschland eine lupenreine Marktwirtschaft einzuführen«. Er scheint an befristete Schutzzölle zu denken. Anlass des Treffens war der »Zusammenbruch« der Ostmärkte.

Auf dem Binnenmarkt selbst bei Fahrrädern die übliche Verlagerung von Produktion (und Arbeitsplätzen) von Ost- nach Westdeutschland: in der DDR 300 000 Räder weniger, in der BRD 300 000 mehr, dazu ging die gesamte Produktionssteigerung von 100 000 Rädern an den Westen, wo also unterm Strich ein Zuwachs von 400 000 herausgekommen ist.

19. März 1991

In der SU zeichnet sich eine Zweidrittelmehrheit für den neuen Unionsvertrag ab. In »Sowjetunion heute« lese ich einen Hinweis darauf, dass die Einheit der USA Ergebnis eines Bürgerkriegs war.

Karl Otto Pöhl (Bundesbank) hat die Währungsunion vor einem EGGremium heute als katastrophal eingeschätzt. Die BBC berichtete es voller Genugtuung. Ebenso, dass in Leipzig gestern eine Montagsdemo gegen die Ruinierung der vormaligen DDR-Wirtschaft stattgefunden hat. Die ARD-Nachrichten enthielten uns beides vor. Immerhin bekam man etwas mit von einer Demonstration in Leuna, wo der IG Chemie-Vorsitzende »Rechtsideologen« bezichtigte, auf Kosten der Arbeitsplätze den Übergang zur Marktwirtschaft »übers Knie zu brechen«.

In den USA ist der Energie-Erzeugerpreis im Februar (also während des Ölkriegs) um 0,1 Prozent zurückgegangen. Jetzt steigt und steigt der Dollarkurs. Scheint mir logisch, weil die Kriegskontributionen, die kuweitischen Lohnaufträge an die US-Armee und Saudi-Arabiens Waffenkäufe die Dollarnachfrage um rund hundert Milliarden in die Höhe getrieben haben müssen.

Morgen soll Band 1 unserer Gramsci-Ausgabe ausgeliefert werden, und gestern realisierte ich, dass der Vertrag, den Georg Stenzaly mir geschickt hat, keine Unterschriften trägt. Im Brief versucht er, diesen Tatbestand bauernschlau zu verstecken, liefert aber zugleich andeutungsweise die Gedanken, die in seinem Kopf vorgegangen sind: Gramsci schon 50 Jahre tot, also die Rechte frei verfügbar.

Rundbrief. – Liebe Freundinnen und Freunde, seit Monaten (oder sind es Jahre?) fange ich die meisten Briefe (falls ich zum Schreiben komme) mit einer Entschuldigung an. Als Ein-Person-Betrieb (auch an der FU), der neben Lehre und Forschung auch noch einige Projekte mit-betreibt (Gramsci, die Volksuniversität, Philosophie im deutschen Faschismus, dazu ein Kooperationsprojekt mit der IG Metall und ein »Antiken-Projekt«), bricht mein Zeithaushalt spätestens immer dann zusammen, wenn ich mich in Schreibklausur begebe, um ein Buch fertigzustellen. Dann bleiben Briefe monatelang liegen, die freundlichsten Einladungen unbeantwortet. Übrigens geht es Frigga, zu deren Projekten die Frauenkrimireihe hinzugekommen ist, nicht anders; wie in meinem Zimmer gibt es auch im ihrigen drückende Schichten aus unbeantworteter Korrespondenz. Eigentlich bräuchten wir ein »Privatsekretariat«, wenn dieser Schuldenberg nicht immer weiter anwachsen soll. Aber das ist Zukunftsmusik. Es bleibt nichts anderes übrig, als dass wir uns bei denen, die wir versetzt haben, entschuldigen. Es gibt mildernde Umstände:

In den letzten drei Jahren bin ich in eine atemlose Produktionsdynamik gerissen worden. Es fing mit der Studie über die Perestrojka an (1987–89), die, kaum veröffentlicht, schon von der Krise der Perestrojka überholt schien. So begann ich im Juni 1989 das »Perestrojka-Journal«, wodurch der Zusammenbruch der DDR mich schließlich unvermutet in dessen Chronisten verwandelt hat, der, obwohl von der dort herrschenden Ideologie negiert, selber keineswegs alles an der DDR negiert hatte und nun sein Denken und alle bisherigen Überzeugungen seines Milieus radikal in Frage stellen lassen musste. Parallel zu diesem politischen Tagebuch erschienen die »Wahrnehmungs-Versuche«. Im Sommer 1990 ließ ich mich sogar verführen, als Pressekorrespondent zum 28. Parteikongress der KPdSU zu fahren.

Wenn die Verhältnisse plötzlich in Bewegung geraten, wenn nach langen und langsamen tektonischen Verschiebungen das große Erdbeben geschieht, dann ist es unmöglich, geruhsam und schonlich zu handeln. Es herrscht ein Ausnahmezustand, der die Lebensweise verändert. So ging es uns 1989/90. Jetzt ist, um ein anderes Bild zu nehmen, die Lawine ins Tal gerauscht; auch wenn Trümmer umherliegen und neue Not wächst, ist doch die relative Ruhe einer gewöhnlicheren Gangart wieder eingekehrt.

Ende 1989/Anfang 1990 habe ich zusammen mit dem Leipziger Romanisten Klaus Bochmann und dem Ostberliner Übersetzer Joachim Meinert, dazu aus Westberlin mit Pit Jehle und Leonie Schröder, eine neue Arbeit angefangen: die kritische Gesamtausgabe von Gramscis Gefängnisheften ins Deutsche zu übersetzen. Dieser Tage erscheint der erste Band, im Herbst der zweite. Einschließlich eines Registerbandes werden es zehn Bände, und wir werden, falls wir sehr gut arbeiten, Ende 1995 damit fertig sein. Die Übersetzergruppe, zu der Ruedi Graf und Gerhard Kuck gestoßen sind, veranstaltet Intensivseminare, wo Probleme besprochen und die Standards und Kriterien vereinheitlicht werden. Jede Übersetzung wird gegenlektoriert, dann wird der Gesamttext vom Bandherausgeber ein drittes Mal durchgearbeitet und schließlich von der Gruppe noch einmal von vorne bis hinten Korrektur gelesen. Ihr seht, wir sparen keine Mühe. Natürlich wollen wir eine möglichst eng am Original sich haltende Übersetzung machen, die keine Unebenheit ausbügelt.

Nachdem ich seit 1988, wegen der Arbeit an dem Gorbatschow-Buch, unser anderes Großprojekt, das Neue Wörterbuch des Marxismus, etwas stiefmütterlich behandelt hatte, nicht nur wegen der Zeitökonomie, sondern auch wegen der stürmischen Veränderung der Verhältnisse im »Weltmarxismus«, wende ich diesem Projekt nun wieder einen erheblichen Teil meiner Arbeitskraft zu. Ich nutze dafür mein Forschungssemester. Wer sich an die Gründungsbedingungen des Projekts erinnert – Boykott durch DKP, DDR, ML, das Ausweichen ins Internationale etc. –, der wird verstehen, dass dieses Projekt nach dem Zusammenbruch der DDR umzubauen war. Nicht nur müssen die neuen Erfahrungen verarbeitet werden, nicht nur hat sich unsere Perspektive geändert, nachdem eine ganze Formation historisch geworden ist, sondern auch das marxistische theoretische »Personal« hat sich verändert. Das lässt sich an der Wörterbuchredaktion ablesen, zu der inzwischen drei Redakteure aus der vormaligen DDR gestoßen sind. Dem Projekt sind zusätzliche Aufgaben zugewachsen, an wissenschaftlicher Kommunikation und Erneuerung in der marxistischen »scientific community« mitzuwirken. Das Projekt wird uns zweifellos bis zum Jahr 2000 beschäftigen, aber wir sind entschlossen, den ersten Band (A bis G) tatsächlich zum Jahresende 1991 zu schaffen. Manche Autoren haben Mühe, an solche Versicherungen zu glauben, weil wir ähnliches schon vor dem großen Umbruch im Osten gesagt hatten. Ich hoffe, sie werden meine Ernsthaftigkeit an den inzwischen vorgelegten Arbeiten ablesen und die Chance begreifen, die der Aufschub geboten hat. Anders hätten wir ein inzwischen bereits veraltetes Werk vorgelegt.

So viel über die allgemeinen Projekte, an denen ich mitarbeite. Dazu kommt die Fertigstellung von Band 3 des Pluralen Marxismus, einem Ketzerwerk, dem inzwischen die orthodoxe Inquisition abhanden gekommen ist, dessen Funktion (und daher auch dessen Inhalt) ich völlig neu überlegen muss. Ferner steht die Neuauflage meines Sartre-Buchs von 1966 an.

Ich weiß, das alles sieht nach individual overstrech & overstress eines Menschen aus, der einen voluntaristischen Schlag hat und so unweise ist, Glücksgüter und -haltungen dem zu opfern, was er als Aufgabe ansieht.

20. März 1991

Xenophon, Anabasis VII, 4.7: im griechischen Expeditionsheer Päderastie normal, heißt es. Aber waren dort Knaben mit? Wenn nein, etwas anderes. Die »meisten Forscher« seien sich darin einig, »dass die männliche Liebe dem Ethos der Kriegergemeinschaft entsprang« (46). – Basiert z.T. auf H. J. Marrou, Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum (1977). Marrou erklärt: »Die griechische Homosexualität ist militärischen Charakters.« (75)

21. März 1991

In der SU endlich wieder Politik erkennbar. Mit der Dreiviertelmehrheit für die Beibehaltung der Union im Rücken verkündete Gorbatschow den ersten Akt der Preisreform. Er hat dafür die Zustimmung aller Republiken (außer den baltischen) gewonnen, auch wenn Jelzin nur seinen Stellvertreter unterschreiben ließ, um aus einem eventuellen Misserfolg Kapital schlagen zu können. Es läuft so, wie Gorbatschow es immer angestrebt hat: die staatlichen Subventionen werden zurückgenommen, was den »Gesamtpreis« um die gleiche Summe hochtreibt, und die freiwerdenden Mittel werden (zu 85 Prozent) auf die Löhne draufgeschlagen. Theoretisch gesehen, müssten jetzt die Marktmechanismen volkswirtschaftlich sinnvoll wirken. Was den Widerstand gegen die Preiserhöhungen angeht, der noch vor einem Jahr das Programm von Ryschkow im Vorfeld zum Scheitern gebracht hat, so scheint er zermürbt zu sein durch die Krise. Preiserhöhungen verlieren ihren Schrecken angesichts des größeren Schreckens, dass es zu regulären Preisen fast nichts mehr zu kaufen gibt und am Schwarzmarkt eh horrende Preise verlangt werden. Auch könnte es sein, dass sich Widerstand verzettelt und erschöpft hat. Der Streik der Bergarbeiter muss also nicht zum Generalstreik werden, sondern könnte die Form werden, in der die Gesellschaft diffus seine ›Sinnlosigkeit‹ realisiert.

Im DDR-Gebiet wird laut Sachverständigenrat »der Aufschwung« vorerst ausbleiben, der Zusammenbruch noch weitergehen. Vom Bausektor strahlen keine Konjunktureffekte aus. Auch wird jetzt vom verschlechterten Umfeld (Weltrezession) gesprochen.

22. März 1991, Gramsci-Colloquium im Haus am Köllnischen Park

Schwäche und Stärke meiner Kommunikationsweise sind zwei Seiten einer Medaille: esoterisch mit einer Fassade, die überaus zugänglich ist. Hält einen Schock bereit.

Bemerke die Tendenz, die Struktur der gramscischen Reflexionen dem Gefängnisdasein zuzuschreiben. Die so reden, haben vermutlich nie geforscht, sonst wüssten sie, dass das, was sie als haftbedingt schildern, zum normalen Prozess wirklicher Forschung, die eine fortgesetzte Anomie ist, gehört. Das ständige Umarbeiten, Umwerfen der Anordnung, die Unordnung, das Sich-Sperren des Materials, das Darüber-Krankwerden, die Schlaflosigkeit, das unabstellbare Zwangsdenken usw.

Joe Buttigieg hat recht, wenn er annimmt, dass die meisten, die Gramsci im Munde führen, einfach zu faul sind, um sich sein Denken wirklich anzueignen. Der Mangel an kritischer Strenge, sagt er, hat die intellektuellen Milieus der Linken erreicht. Lorianismus bedeutet billiges Denken, das die Schleusen öffnet. Gramsci spürte darin eine der Vorbedingungen des Faschismus.

Gramscis Methode ist arbeitsaufwendig.

Frank Deppe befürchtet jetzt vor allem, dass Begriffe wie »Zivilgesellschaft« als eine black box fungieren, in die alles aus den theoretischen Traditionen der Arbeiterbewegung Mitzunehmende hineinprojiziert wird. Man müsse viele Linien nebeneinander berücksichtigen. Er hat recht und unrecht, denn er gewichtet noch zu wenig die Beispiellosigkeit der Arbeitsweise der Gefängnishefte und neigt dazu, deren Besonderheit in Gramsci als solchem aufzulösen.

Nach einer ärztlichen Visite bei Gramsci verlangte der Arzt, man möge ihn einen Blick auf die Hefte werfen lassen. Die Folge von anscheinend unverbundenen Paragraphen mit wechselnden Themen durchblätternd kam er zur Diagnose, dieser Gefangene müsse ein Psychotiker sein.

Gramscis Verteidigung vor Gericht basierte darauf, seine Parteiführerschaft zu bestreiten. Da schrieb Grieco einen hymnischen Brief, worin er Gramsci zum größten Parteiführer hochlobte. Das machte Gramsci zum Märtyrer, was dieser nie sein wollte. Eine Falle.

Kuno Füssel sprach vom Hilflosen Atheismus der alten DDR, die den Atheismus zur Staatsreligion erhob und zum Erziehungsziel machte und die Zivilgesellschaft ins Privatleben einsperrte. Im Anschluss daran parallelisierte Jan Rehmann Gramscis Ökonomismuskritik und Marx’ Religionskritik. Der Vergleich knirscht.

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Zivilgesellschaft. – Eine marxistische Sozialistin widmete 1901 ihre römische Antrittsvorlesung der Zivilgesellschaft: Teresa Labriola, Tochter Antonios, sprach sich dagegen aus, die Bildung der Zivilgesellschaft in die Zukunft zu verlegen. Geregelte Solidargemeinschaft.

Zweidrittelgesellschaft. – Gewohnt, fürs untere Drittel zu sprechen, vergisst die Linke leicht, dass es darauf ankommt, einen Block zusammenzubringen, der die besser situierten Zweidrittel spaltet und einen erheblichen Teil davon mit dem unteren Drittel zusammenschließt.

Peter Glotz: von der Nomenklatura zur Prokura.

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