Buch lesen: «Jahrhundertwende», Seite 12

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16. Januar 1991

Treffen unserer Ost-West-Forschungsgruppe »Philosophie im NS-Staat«. Monika und Benno feiern den Ast, auf dem sie zwar nicht sitzen, aber gerne sitzen würden. Es verhält sich bei ihnen umgekehrt wie bei dem Fuchs, der die unerreichbaren Trauben sauer nennt. Sie möchten die Unerreichbaren erreichen und nennen sie deshalb schon einmal süß, als kämen sie ihnen dadurch näher. Die Wesenskonzeption erlaubt ihnen die Erschleichung einer objektiven Unschuld. Die marxsche Kritik treffe nicht die »unsterbliche Seele der Philosophie«. Dagegen: Das Denken der Gesellschaft anstelle der prima philosophia.

18. Januar 1991

Krieg. – Verstört über den Krieg und die Mühe, ihn wahrzunehmen. Kriegsberichterstattung im BBC; schon heute früh triumphieren sie in Erwartung eines Blitzsieges. Zu früh. Aber gestern überall Demonstrationen. Erstaunlich die Schüler, die in Bonn und Berlin zu zehntausenden demonstrierten. Die USA, die die größten Interessen am Golf-Öl haben, wollten den Krieg und bekamen ihn. Auch die FAZ trieb zum Krieg. Doch brauchen unsere Regierenden eine ruhigere Umwelt für ihr derzeitiges Hauptprojekt, die kapitalistische Modernisierung und Integration der alten DDR.

Michael Nerlich rief an und sprach über den Misserfolg im Krieg als moralleitenden Faktor. Der (schnelle, das ist wichtig!) Sieger wird recht gehabt haben.

Aber da ist noch eine andere Seite der Sache, nicht die momentan dominierende, aber vielleicht langfristig entscheidend: Nachdem die Zweite Welt aufgegeben hat, sich als Festung dem kapitalistischen Weltmarkt und seinen Hegemonialmächten zu verschließen – wie könnte eine Dritte Welt da sich halten? Die UNO wird von der Kräfteverschiebung blindlings eingeholt: sie findet sich unversehens als Form für westlichen Inhalt. Eine List der Vernunft wäre es – aber das ist zu schön, um wahr zu sein –, würde die Form auf diesem Umweg letztlich doch noch bestimmend.

*

Radiodiskussion (in DS Kultur) mit Eberhard Fromm, Fiedler und Kapferer über Feindbilder der DDR-Philosophie. Kapferer hat lange vor dem Ende der DDR zu forschen begonnen: die Bornierung seiner Forschung kommt jetzt zupass, hat er doch den alten Hauptfeind der DDR-Ideologie weggelassen, das unreglementierte Denken, zumal das im Anschluss an Marx. Heute stört dieses die anderen schon wieder. Daher müssen die abgestandenen und mehr oder weniger reaktionären Positionen jetzt den Adelstitel erhalten, Hauptfeinde der DDR-Ideologie gewesen zu sein.

20. Januar 1991

Es arbeitet in der deutschen Sprache. Zwei Bruchstücke: FNL = die »fünf neuen Länder«; die »Wessies« als »Besserwessies«.

22. Januar 1991

Jo Rodejohann fordert mich auf, einen Appell von 166 russischen Intellektuellen zu unterstützen, worin es heißt, dass »der Präsident und das Parlament die Demokratie verraten«. In Reaktion auf den Armee-Einsatz in Vilnius: »Der Umsturz hat bereits begonnen. Wenn er gelingt, erwarten uns wieder Lager, Terror, Angst, Hunger und Ruin.« – Ich finde den u.a. von Juri Afanasjew unterschriebnen Text maßlos, ein Dokument von Realitätsverlust. Jo verharmlost, wenn er ihn »hart und bitter« nennt.

23. Januar 1991

Krieg. – Seit einer Woche grausige Unterhaltung, elektronische Spielhalle, rund um die Uhr über CNN. Im Schatten dieses Krieges zerbricht Gorbatschows Politik und Position, wie es scheint, unaufhaltsam. Schewardnadses Rücktritt war nur der Anfang, die Auflösung des Präsidialrats scheint die Fortsetzung beschleunigt zu haben. Ausgerechnet Schatalin formulierte gestern ein Ultimatum an Gorbatschow: entweder Rücktritt oder Bruch mit der KPdSU, Auflösung der Sowjetunion, ökonomischer Liberalismus. Juri Afanasjews Sprache »extremistisch«: Gorbatschow für ihn plötzlich ein Mann des Lagers, der Diktatur.

Ich arbeitete derweil fieberhaft an Band 1 der Gramsci-Ausgabe, kam zu nichts anderem. Gestern, zum 100. Geburtstag Gramscis, lieferten wir die letzten Überarbeitungen ab, besprachen die noch offenen Fragen, stellten die Weichen für den Druck am Wochenende. Aber der Krieg und Gorbatschows Krise beherrschten alle Zwischenzeiten.

Krieg. – Hauptüberschrift der heutigen FAZ: »Der Luftkrieg gegen den Irak ›ermutigend und insgesamt planmäßig‹«. Das verstehen sie unter Nachrichten. Das Wörtchen »insgesamt« steht fürs Scheitern der Blitzkriegshoffnungen. Israel konnte nicht geschützt, die Raketenwaffe des Irak nicht ausgeschaltet werden. Eine ungeheuer anschwellende Massenbewegung drängt andere arabische Staaten zum Kriegseintritt auf Seiten des Irak. – 20 Prozent der bekannten Ölreserven des Globus im Irak und in Kuweit. – Trotz Ungewissheit des Krieges steht der »Sieger« für die FAZ fest: die Hochtechnologie. An anderer Stelle wird deutlich, dass das nur ein Deckname ist für die Rüstungsindustrie. Beim Hersteller der »Patriot«-Raketen, mit denen man einige irakische Raketen hat abschießen können, der Raytheon Company, »sind inzwischen die Fertigungskapazitäten rund um die Uhr ausgelastet«. Aufwind fürs Rüstungskapital (Wehrtechnik), »nicht nur moralisch, auch wirtschaftlich«: an der Börse »die größte ›Rüstungshausse‹ seit dem Zweiten Weltkrieg«. Nachfrageschub aus dem In- und Ausland.

26. Januar 1991

Riesige Friedenskundgebung in Bonn. Nicht weniger als am Höhepunkt der Friedensbewegung. Diese also nicht verschwunden.

Die Überdeterminierungen in der Konflikt- und Interessenlage bilden einen Knoten, der die Linke mitfesselt. Außer dass man den Krieg wegwünscht, keine klare Botschaft. Eines klar: die herrschende Weltunordnung fürs Weiterleben auf dem Globus tödlich. Andrerseits ordnet sich die Welt im Krieg auch um.

Immanente Dummheit des US-Lagers: dass sie den Arabern nicht starke Angebote machen, also nicht etwa versuchen, die palästinensischen Interessen aus der Kriegsfront des Irak herauszulösen.

28. Januar 1991

Krieg. – Vereinzelte Zeugnisse eines unausdenkbaren Grauens des Golfkrieges, tote Kinder, im Ölschlamm eines tausend Quadratkilometer großen Petroleumteppichs verendende Vögel. Mit der Kriegslogik Vorherrschaft der Lügen & Zensur.

Im letzten Quartal von 1990 ist das Sozialprodukt der USA offiziell um über 2 Prozent geschrumpft (Wachstum 1988: 4,5 %; 1989: 2,5 %; 1990: 0,9 %). Der Notenbankpräsident, Greenspan, verspricht in halbklaren Worten kriegswirtschaftliche Konjunkturimpulse. Bereits jetzt würden mehr PKWs gekauft. Gegen Steuererhöhung. Der Krieg werde nicht viel kosten. Dafür zwei Gründe: erstens werde »der Krieg bisher mit bereits bezahlten Waffen aus den Lagern geführt«; zweitens »tragen die Verbündeten einen nicht unerheblichen Anteil der Kosten im Rahmen des ›burdensharing‹«. – Mit anderen Worten: Lagerräumung, bezahlt mit Tributen.

In Deutschland sind die Urlaubsbuchungen laut DER zwischen 30 und 40 Prozent zurückgegangen. Die Lufthansa, deren Auslastung seit Kriegsbeginn von 60 auf 40 Prozent gesunken ist, hat 6 Prozent ihrer Flüge gestrichen. Die Leute fürchten die Ausdehnung des Krieges in diffusen Terrorismus.

*

Heute Nacht, gegen ein Uhr, die Gramsci-Dateien auf eine Diskette gepackt, völlig erschöpft, dann mit Klaus Bochmann, Leonie Schröder und Pit Jehle zu Barbara Steinhardt, wo wir die Fertigstellung bei einer Flasche Champagner feierten. Heute gehe ich langsam durch die Welt, wie ein Rekonvaleszenter.

Noch später in der Nacht erzählte mir Klaus, dem ich von M. erzählt hatte, dass Friedrich Schorlemmer bis Frühjahr 1990 unter Drohanrufen zu leiden hatte, die vermutlich von der Stasi kamen.

31. Januar 1991

Sandra Harding erklärt den Krieg mit den Interessen des militär-industriellen Komplexes. Abgesehen von der Rüstungsproduktion ist da ein riesiges Personal, das sie als »middle class« einstuft. Wäre es tatsächlich zur »Friedensdividende« gekommen, hätte dies eine Umschichtung an die Unterklassen bedeutet. Die Dritte Welt innerhalb der USA schwillt an.

1. Februar 1991

Heute kam von Bé Ruys einer der »Occasional Letters« von Ajit Roy, datiert vom September 1990. Er schreibt darin, ich hätte bei der Volksuni den Tod des historischen Marxismus ausgerufen, während er, Ajit, für dessen Unsterblichkeit und Erneuerung eintrete. Ich habe ihm geschrieben, dass ich allenfalls vom Ende des ML gesprochen habe und kräftig an der Erneuerung des Marxismus arbeite. Warum sonst das enorme Opfer an Lebenszeit (und auch, weniger wichtig, Geld) auf mich nehmen, das die Herausgabe der Gefängnishefte Gramscis gekostet hat oder die Arbeit am Neuen marxistischen Wörterbuch.

2. Februar 1991

Gelman aus dem ZK ausgeschlossen. Die SU spricht mit vielen Stimmen durch- und gegeneinander. Noch immer zeichnet sich kein neuer geschichtskräftiger Block ab. Zerfall. Nachdem der Markt nicht eingeräumt und gestaltet werden konnte, herrscht der Schwarzmarkt, und gegen ihn wird der KGB eingesetzt.

In der TAZ vom vergangenen Dienstag lese ich ein vorzügliches »Tischgespräch im Bistro« von F. C. Delius. In der Tradition von Lessings Falk und Jahn und von Brechts Flüchtlingsgesprächen arbeitet er sorgfältig mit dem Material dieser Tage, FAZ-Artikel, Kneipengesprächen. Karl Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit lassen grüßen. Ich folge dem spontanen Impuls und rufe ihn an, bitte ihn, fürs »Argument« zu schreiben.

In derselben Nummer der TAZ ein interessantes Gespräch von Max Thomas Mehr mit Ernst Tugendhat über den Golfkrieg. Für T sind die USA schuld am Krieg, und dieser ist »das größte Verbrechen seit Hitler«. »Ich rede ganz bewusst antiamerikanisch, wie man ganz bewusst antideutsch sein musste im Zweiten Weltkrieg.« Tugendhats sehr scharfe und scharfsinnige moralphilosophische Analysen kranken daran, dass er nichts von politischer Ökonomie versteht. Er inkriminiert die Waffenlieferungen an den Irak, plädiert damit implizit (vielleicht ohne es zu wollen) für ein kriegstechnologisches Dauerembargo, von dem er wohl auch nicht sieht, dass es, wie im Falle des gegen den Osten gerichteten Embargos, ganz »normale« zivile Exporte behindern würde wegen des Transfers militärisch nutzbarer Technologie. Aber wie dann das Öl bezahlen? Wiederum übersieht er, dass der Irak versucht, die Welt-Ölpreise hochzudrücken, was in einer vom Geld (Kapital) beherrschten Welt auch eine Form staatlich-militärisch aufgebauter ökonomischer Gewalt ist. Gegen diese Öl-Hochpreispolitik stellen sich daher auch die Länder der Dritten Welt, die auf Ölimporte angewiesen sind, Indien zum Beispiel. Krieg zwischen industriellem Kapital und Grundrentenbeziehern, transponiert. Man muss den Weltverhältnissen auf den Grund gehen, deren Irrationalität in Kriegsform umgeschlagen ist. Die Interessen der BRD an der Kapitalisierung der ehemaligen DDR, denen der Krieg in die Quere kommt, blendet T. aus.

Tugendhat differenziert hinsichtlich der UNO. Dass sie sich »endlich einmal zu einem wirklichen gemeinsamen Schritt durchgerungen hat«, war »für viele Nationen vielleicht etwas besonders Erhebendes«. Aber die UNO hat allen Verhandlungsspielraum dem Westen überantwortet, und viele Länder haben sich in Abhängigkeit von den USA begeben. Diese »wollen die unangefochtene Macht Nummer eins sein«. Welthegemon mit Klienten.

3. Februar 1991

Politische Ökonomie des DDR-Anschlusses. – Lutz Hoffmann, Präsident des DIW, analysiert in der gestrigen FAZ sehr strategisch vom Standpunkt des Gesamtkapitalisten die ökonomischen Aspekte des DDR-Anschlusses. Die derzeitige Misere erklärt er der Sache nach mit der Niederlage der Politik Lafontaines, ohne dessen Namen zu nennen: »Durch die lange Weigerung, die Notwendigkeit hoher Infrastrukturinvestitionen – mit öffentlichem wie privatem Kapital – als Preis für die rasche Einführung der Währungsunion anzuerkennen, hat die Bundesregierung viel Zeit für die Sanierung der ostdeutschen Infrastruktur verloren.« In Hoffmanns Sprache: »nicht ökonomische Rationalität, sondern die politische Ökonomie« hat das Sagen gehabt. Unter letzterer versteht er mit Anthony Downs »Neuer politischer Ökonomie« (An Economic Theory of Democracy, 1957) ein System, das darauf basiert, »dass der wirtschaftspolitische Entscheidungsträger nicht die gesellschaftliche Wohlfahrt [maximiert], sondern seinen politischen Nutzen, der vor allem in der Wahrscheinlichkeit besteht, wiedergewählt zu werden«. Das geht gegen Helmut Kohl.

Mit mangelnder Infrastruktur erklärt Hoffmann das bis dato festzustellende Ausbleiben des großen Kapitals. Interessant, wie er die Folge der Einschnitte sieht. Währungsunion: »Im Grunde handelte es sich um den Vorschlag einer radikalen Handelsliberalisierung, verbunden mit einer drastischen Aufwertung.« Die DDR-Wähler wollten das Westgeld. Was ihnen »nicht bewusst war«, waren die Folgen für die Arbeitsplätze. Nur die Subventionierung der Exporte ins alte RGW-Gebiet8 milderten den ökonomischen Kollaps für eine Weile noch etwas ab.

»Extrembeispiel« für einen Sieg der »auf Stimmenmehrheit zielenden politökonomischen Rationalität« mit chaotischen Folgen ist für ihn Gorbatschow.

In den »Fünf Neuen Ländern«, kurz »FNL«, ist laut FAZ die Verbitterung besonders groß bei den Abgeordneten der letzten Volkskammer und den Mitgliedern der Regierung de Maizière. Sie hatten die Anschlusspolitik gemacht und fanden sich über Nacht auf dem politischen Abstellgleis. Empörung darüber, zum bloßen Steigbügelhalter degradiert zu sein. Man sieht nachträglich auch klar, dass de Maizières Sturz seit langem »für den Herbst nach den Bundestagswahlen« geplant gewesen ist. Von »Politik wie mit der Neutronenbombe« soll man vor allem in kulturpolitischen Kreisen sprechen: der Westen nicht an lebendiger Kultur, sondern an den Immobilien interessiert; für ihn nur neuer Raum hinzugekommen, ein Terrainkalkül, für welches die DDR-Bevölkerung nun 40 Jahre gelebtes Leben auszulöschen habe.

5. Februar 1991

Neuer Tiefenrekord des US-Dollars. »Pessimisten erinnern an die langwierige Depression nach 1929 und halten nach dem Zusammenbruch des Sozialismus den Kollaps des Kapitalismus, ausgelöst durch eine schwere Krise des Finanzsystems, für möglich.« (Gerald Braunberger im Wirtschaftsleitartikel der FAZ) In den USA sind die Steuereinnahmen wegen der Rezession (wie sie die Krise entnennen) um 87 Mrd USD unter den Erwartungen geblieben. Die Sanierung der Sparkassen wird noch über 100 Mrd USD kosten. Aus dem erhofften New Deal mit Sozialinvestitionen in Verkehr, Gesundheit und Bildung wird nichts.

In ihrem Editorial-Entwurf fürs nächste »Argument« lässt Nora Räthzel uns bereits mitten im Dritten Weltkrieg sein. Eines von vielen Anzeichen der Unsicherheit und Verwirrung. Wir wollen klar dagegen sein und erfahren uns verstrickt.

Die FAZ dagegen auf ganz hohem Ross. Gestern zeichnete Reißmüller im Leitartikel Serbien »als Festung des Kommunismus, aus der sich vielleicht eines Tages im Zusammenwirken mit einer wieder zur alten Ordnung gebrachten Sowjetunion der Leninismus-Stalinismus in der östlichen Hälfte Europas aufs Neue ausbreiten ließe. Zu diesem Zweck lassen sie ihre Panzer auffahren. Die ersten Schüsse würden einen Krieg auf mitteleuropäischem Boden eröffnen.« – Man will vollends aufräumen.

Verzweifelt bemüht sich Gorbatschow um einen neuen Unionsvertrag. Ich habe früher (wie er) übersehen, dass dies zu den Vorbedingungen der sozialökonomischen Umgestaltung gehört hätte. Ich habe immer verstanden, dass die politischen Reformen den ökonomischen vorausgehen müssten (natürlich Wechselverhältnis der Reformetappen in Politik und Ökonomie), aber auf die inneren Reformen blickend vergessen, dass auch ein solches »Innen« bei Lockerung der äußeren Zwangsfesseln erst geschaffen werden müsste. Jetzt wirkt Gorbatschow wie ein Gefangener seiner Gewaltapparate.

Lese nun erst, was Gorbatschow am 28. November 90 bei einem Treffen mit »Kulturschaffenden« (u.a. mit Jewtuschenko) gesagt hat: Lockere Plauderei, bisschen philosophischer Würdezierrat (»die alten Griechen hatten wieder einmal recht: alles fließt, alles bewegt sich«). Dazwischen Protokollsätze wie Notschreie (»das ist eine schleichende Konterrevolution«) und jenes Bekenntnis zum Sozialismus, von dem ich seinerzeit in der Presse gelesen hatte, das er aber dadurch wieder in Luft auflöst, dass er sich mit dem spanischen Regierungschef Felipe González vergleicht, »einem ebenfalls überzeugten Sozialisten«. Zum Privateigentum sagte er: »Ich habe mich immer für Marktwirtschaft ausgesprochen und tue das weiter. Doch obwohl ich für Marktwirtschaft bin, akzeptiere ich beispielsweise kein Privateigentum an Grund und Boden. Machen Sie mit mir, was Sie wollen – ich akzeptiere es nicht. Pacht – selbst für hundert Jahre, sogar mit dem Anspruch auf den Verkauf und die Vererbung der Pachtrechte – bitte schön.« Das schützt selbstwirtschaftende Bauern und geht gegen Bodenspekulation. Ansonsten spricht sich Gorbatschow für Privateigentum in der Produktion aus, glaubt aber nicht, dass es dominieren wird bzw. dass seine Dominanz vom Volk hingenommen würde. Sonderbares Wischiwaschi: »Durch verschiedene Formen des Aktienbesitzes, durch Pacht und dann vielleicht durch vollen Erwerb wird der Betrieb zum Volkseigentum gemacht. Man (?) soll den Menschen (?) dieses Eigentum geben (?). Mögen sie es verwalten und über ihre (?) Produktion verfügen (?).« a) Wer ist dieses »Man«?; b) »Die Menschen« – welche? c) Verkaufen nicht = geben; d) Die Produktion eines Betriebs nicht = »ihre« (der Privateigentümer) Produktion; fehlen die Arbeiter; e) der Staat wird die Eigentümer (wie alle übrigen) doch wohl zur Kasse bitten, also einen Teil »ihrer Produktion« in Steuern verwandeln, über die sie mitnichten verfügen.

Dann spricht Gorbatschow von Grenzen der Veränderung, Unantastbarkeiten, die er »letzte Bastion« nennt: »da darf man um den Tod nicht weichen, wie vor Moskau, wie vor Stalingrad.« Was er meint, ist die multinationale Gesellschaft der Sowjetunion. Soll etwa das Kriegspotenzial der Supermacht SU unter Nachfolgestaaten aufgeteilt werden?

Auf die Genese der Perestrojka zurückblickend, erwähnt er einen Spaziergang mit Schewardnadse im Dezember 1984, wo sie sich darüber verständigt haben, dass »alles verfault« ist. Er nennt keinen anderen. Sah also den Rücktritt Schewardnadses wohl auch nicht voraus.

6. Februar 1991

Gestern kam ein junger Geophysiker (Lehmann) aus der vormaligen DDR, der seit vier Jahren in Leningrad studiert, in meine Sprechstunde. Er will zur Philosophie überwechseln. Erfährt sich im Vergleich zu den sowjetischen Studenten als mathematisch unbegabt, obwohl auch er von einem Spezialgymnasium kommt. Als sein Stipendium auf DM umgestellt wurde, kam das einer Verdreißigfachung gleich. Inzwischen sogar das Fünfzigfache. Durch den Einzug der 50- und 100-Rubelscheine sei das Vertrauen in die Währung vollends zusammengebrochen. Er glaubt nicht, dass diese Maßnahme irgendwie den Schwarzhandel trifft. Studieren würde er gerne bei Merab Mamardaschwili, wenn dieser nicht gestorben wäre. So höre ich zum zweiten Mal von diesem Tod, an den ich nicht glauben mag.

Seit der Annexion Kuwaits im August 1989 sind 5–10 Mrd USD auf schweizer Banken verlagert worden. Bis September 1989 waren es schon 2,3 Mrd USD aus dem Nahen Osten. Dafür musste man die Wachstumsannahmen von 2 auf 1 Prozent halbieren.

In der FAZ ein Artikel des Kölner Historikers Otto Dann über Ernest Gellners Nations and Nationalism von 1983, durchsetzt mit ›Gramscismen‹, ohne Gramsci zu nennen. Im Kern geht es um das Verhältnis von »Kulturgesellschaft« und »politischer Gesellschaft« als Schlüsselfrage der Nationalstaatsbildung. Mit der Verallgemeinerung der Schriftkultur im Zuge der Industrialisierung homogenisiert sich aus der agrargesellschaftlichen Heterogenität heraus die Kultur. Für Gellner ist dies der entscheidende Akt bei der Nationbildung. Die Nation ist nichts Naturales, betont er, basiert nicht auf einem Volk, sondern wird durch den Nationalismus erst geschaffen. Die Intellektuellen als Träger der Schriftkultur spielen dabei eine entscheidende Rolle. Gellners These: Nationalismus ist die adäquate Form für Kapitalismus. Dann verweist auf Benedikt Anderson, Imagined Communities, 1983. Für Otto Dann und die FAZ ein gefundenes Fressen, den Nationalismus aus dem Schatten des NS zu holen. Friedrich Meineckes »Kulturnation« wird wieder ausgegraben, ihre Kongruenz mit der »Staatsnation« zur strategischen Schlüsselposition erklärt.

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